Wer in Deutschland straffällig und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt oder zu einer Ersatzstrafe gezwungen wird, landet in der Regel für bestimmte, im Falle lebenslanger Haftstrafen, Sicherungsverwahrung oder Maßregelvollzug sogar für unbestimmte Zeit in einer Justizvollzugsanstalt. Das Statistische Bundesamt zählte 2019 deutschlandweit 65.796 Gefangene und Verwahrte in Justizvollzugsanstalten. Der Zweck der Freiheitsstrafe ist in diesem Rechtsstaat laut Gesetzgebung die Resozialisierung nicht, dem Inhaftierten Leid zuzufügen.
Der Anspruch wird im Strafvollzugsgesetz so formuliert: „§2: Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. §3. (1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“ (Strafvollzugsgesetz – StVollzG). Die medizinische Versorgung in Haft soll derjenigen der in Freiheit bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherten entsprechen – bis auf einige Einschränkungen wie der Verzicht auf freie Arztwahl – die aber draußen auch nur formal gilt und real oft durch verschiedene Bedingungen eingeschränkt ist.
Mit diesen Bestimmungen sind die Kriterien für eine – zunächst systemimmanente – Beurteilung und Kritik der medizinischen Versorgung von inhaftierten Menschen gegeben. Wir können diesen Anspruch mit der Wirklichkeit abgleichen: Ist die medizinische Versorgung der außerhalb der Gefängnisse gleichwertig? Erhalten also z.B. genauso viele Opioidabhängige eine Substitutionstherapie wie Draußen? Sind die Inhaftierten zahnmedizinisch so gut versorgt wie die Menschen draußen? Wird sich bemüht, psychische Probleme zu erkennen und werden diese ernst genommen und therapiert?
- Sind die Unterbringung, das Personal, die Arbeits- oder Beschäftigungsbedingungen und auch (Weiter-) Bildungsmöglichkeiten für die Inhaftierten, sind die sozialen Verhältnisse in deutschen Gefängnissen so, dass sie dem Ziel der Resozialisierung entsprechen?
- Kann es der Resozialisierung dienen, wenn Häftlinge einerseits einer Arbeitspflicht unterliegen und diese auch 40 Stunden die Woche ableisten, dafür aber weit unter dem Mindestlohn bezahlt werden und diese Arbeitszeiten nicht in die Rentenversicherung eingehen?
- Ist eine Unterbringung in Gefängniszellen überhaupt diesem Ziel zuträglich oder widerspricht sie diesem?
- Welche Folgerungen wären dann für eine Gefängniskritik zu stellen?
- Wie wäre dann mit Menschen umzugehen, die für die Anderen und die Gesellschaft gefährlich sind?
Nicht zu vergessen jedoch ist, dass die Fragen zur medizinischen Versorgung sich in einem widersprüchlichen Verhältnis befinden. Selbst mit den besten Gesundheitsleistungen ließe sich nicht das an sich Gesundheitsschädliche eines Freiheitsentzuges aufheben: psychosoziale Belastungen und Isolation, Bewegungsmangel, Vitamin-D Mangel, ungesundes Essen sind Probleme, die nur teilweise durch strukturelle Verbesserungen in Haftanstalten gelöst werden können. Diese Widersprüchlichkeit von Strafe und Resozialisierung erstreckt sich über die medizinische Versorgung hinaus.
Gesellschaftliche Fragen
Jetzt eine Abschaffung der Gefängnisse zu fordern, wie es so genannte AbolitionistInnen tun, scheint uns zu abstrakt, wenn man nicht die gesellschaftlichen Bedingungen diskutiert und ändert, unter denen dies sinnvoll möglich sein könnte. Wir können dieser Perspektive als Fernziel etwas abgewinnen, meinen aber, dass sie andere gesellschaftliche Voraussetzungen braucht, für die wir zunächst kämpfen müssen. Wir können also bei einer Diskussion (und Kritik) der medizinischen Versorgung Inhaftierter nicht einfach alle Rahmenbedingungen akzeptieren und unseren Blick extrem einschränken auf die „bloße Medizin“. Eine bloß immanente Kritik des Gefängnisses im Sinne des Abgleichs von Anspruch und Wirklichkeit reicht für eine Beurteilung nicht aus.
Sie lässt entscheidende Fragen unberührt: Wer kommt überhaupt ins Gefängnis und für welche Delikte? Aus welcher gesellschaftlichen Situation landen Menschen im Gefängnis und müssen „resozialisiert“ werden? Wir müssen auch fragen: Warum wurden diese Menschen vorher „entsozialisiert“? Wir gehen davon aus, dass sie daran nicht alleine und individuell schuld sind, sondern dass sie auch durch die gesellschaftlichen Bedingungen dort gelandet sind. Mit den Forderungen für eine bessere medizinische Versorgung von Inhaftierten sind wir als demokratische ÄrztInnen also gezwungen, grundsätzliche gesellschaftliche Fragen anzusprechen.
Analyse und Forderungen
Die vorliegende Analyse des “Vereins demokratischer ÄrztInnen” und die Forderungen sind aus der Auseinandersetzung thematisch Interessierter und politisch Aktiver entstanden. Selbst wenn die Situation der inhaftierten Menschen zentraler Bezugspunkt der Analyse war, sind die Betroffenen selber nicht an der Ausarbeitung beteiligt gewesen. Dies gilt es zu berücksichtigen und in der weiteren Arbeit nachzuholen. Die Analyse ist das Ergebnis einer ersten Auseinandersetzung mit dem Thema der medizinischen Versorgung inhaftierter Personen und offen für eine weitere Ausarbeitung und Anregungen.
Soziale Determinanten von Gesundheit sind im Gefängnis in besonderem Maße sichtbar und strukturell greifbar. So werden in Gefängnissen überproportional arme und diskriminierte Menschen eingesperrt und die Prekarität ihrer sozialen Situation wird durch einen Haftaufenthalt mit eventuellem Verlust von Wohnung, Arbeitsplatz und sozialem Umfeld noch verhärtet. Die gesellschaftliche strukturelle Benachteiligung und ihr negativer Einfluss auf Gesundheit werden im Gefängnis als normierende, depravierende Institution verstärkt. Unter medizinethischen Aspekten ist das ärztliche Berufsethos auch in der Versorgung von Gefangenen handlungsleitend. Dennoch unterliegt die medizinische Tätigkeit im Gefängnis besonderen Regelungen. So unterliegen viele ÄrztInnen in Haftanstalten aktuell nicht dem Berufsrecht und damit nicht der Aufsicht der Ärztekammern. Darüber hinaus ist die ärztliche Schweigepflicht eingeschränkt.
Der Verein Demokratischer ÄrztInnen (vdää) versteht sich als ein gegenüber den ständisch orientierten Interessenvertretungen für Ärzte (Ärztekammern, Bundesärztekammer, Kassenärztliche Vereinigung) oppositioneller Berufsverband. Er wurde 1986 in Frankfurt am Main gegründet. Hervorgegangen ist er aus der Arbeitsgemeinschaft oppositioneller Delegierter in den Landesärztekammern. Politisch versteht sich der Verein als Sprachrohr und Zusammenschluss von Ärzten, Psychotherapeuten sowie Medizinstudenten, die der „ärztlichen Standespolitik“ eine sozial verantwortliche, an den Interessen von Patienten ausgerichtete Versorgung und Gesundheitspolitik entgegensetzen. Gesamter Text des AK Knastmedizin