Abolitionismus ist die radikale Ablehnung als menschenunwürdig erkannter Institutionen. Historisch betrachtet hat eine abolitionistische Haltung ihren Ausdruck in der Forderung nach Abschaffung von Praktiken und Institutionen gefunden, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verächtliches, ein wertloses Wesen ist. Exemplarisch hierfür standen und stehen z.B. Forderungen nach Abschaffung der Sklaverei, der Folter oder der Todesstrafe, deren vollständige oder teilweise Beseitigung uns ermutigt, eine weitere Institution in dieses abolitionistische Bestreben einzubeziehen. Das vorliegende Manifest konzentriert sich auf den Strafvollzug in Gefängnissen, stellt aber auch die Strafe als solche in Frage.
Der Freiheitsentzug in Gefängnissen stellt eine ebenso unnötige wie menschenunwürdige Einrichtung dar. Die Forderung nach Abschaffung von Strafanstalten wird daher seit längerem und zunehmend häufig auch in Deutschland erhoben. Zu den wichtigsten Begründungen für diese Forderung gehören die Folgenden:
- der Aufenthalt in Strafanstalten verletzt elementare Menschenrechte der Gefangenen (Zwangsarbeit, Zwangsenthaltsamkeit, Zwangsarmut etc.);
- darüber hinaus sind Strafanstalten kontraproduktiv, indem sie zur Abstempelung der darin untergebrachten Menschen (als gefährlich, unbrauchbar, nicht vertrauenswürdig etc.) beitragen;
- sie haben unerwünschte Nebenfolgen (Mitbestrafung von Dritten, insbesondere Kindern und PartnerInnen, gesundheitliche Beeinträchtigungen etc.);
- der Vollzug verschärft die Lebenslagen, in die die Gefangenen entlassen werden (Arbeitsplatzverlust; Wohnungsnot; soziale Deklassierung etc.);
- Strafanstalten fördern die Illusion, dass durch die Einsperrung Einzelner Kriminalität reduziert oder gar die Lösung gesellschaftlicher Probleme befördert werden könne.
Mit dem Abbau muss begonnen werden
Die Abschaffung der Strafanstalt ist ein Langzeitprojekt, mit ihrem Abbau kann und muss jedoch sofort begonnen werden. Als Einstieg bieten sich bestimmte Arten der Freiheitsstrafe und bestimmte Formen ihres Vollzuges an, zum Beispiel:
- die Ersatzfreiheitsstrafe ist so schnell wie möglich und ersatzlos abzuschaffen. Die Vollstreckung von Geldstrafen kann ausschließlich zivilrechtlich erfolgen;
- der Strafvollzug bei Minderjährigen ist abzuschaffen. Er ist durch Maßnahmen der Jugendhilfe zu ersetzen;
- die lebenslange Freiheitsstrafe ist als eine unmenschliche Behandlung zu erkennen und abzuschaffen (und durch zeitige Freiheitstrafe zu ersetzen)
- geschlossene Formen des Vollzuges sind grundsätzlich durch offene zu ersetzen
- verbleibende Formen des geschlossenen Vollzuges sind, im Sinne des Angleichungsgrundsatzes, so lebensnah wie möglich auszugestalten (z.B. Wohnhäuser anstelle von Zellengefängnissen).
Andere Arten von Gefängnissen sind abzubauen
Freiheitsentzug ist auch für andere Zwecke als den der Bestrafung so weit wie möglich zu vermeiden. Gegen andere Gefängnisse sprechen vielfach die gleichen Argumente wie bei Strafanstalten. Vor allem gilt es zu verhindern, dass Strafanstalten unter anderen Bezeichnungen fortleben (“Maßregelvollzug”; “Sicherungsverwahrung”, “Administrativhaft” etc.). Zu fordern ist daher auch
- Abschaffung der Abschiebungshaft
- Weitergehende Vermeidung von Untersuchungshaft (z.B. durch die Ermöglichung von sozialen Bürgschaften u.Ä.)
- Einführung einer gesetzlichen Vermutung der Ungefährlichkeit zur Reduzierung von Precrime-Unterbringung (Forensik, Sicherungsverwahrung)
Alternativen für den Umgang mit “Kriminalität”
Unter dem Begriff “Kriminalität” finden sich höchst unterschiedliche Formen gesellschaftlich unerwünschten Verhaltens. Die Reaktion darauf muss diesen Unterschieden Rechnung tragen4 und darf nicht aus dem Blick verlieren, dass es sowohl legislativ als auch justiziell um selektive Prozesse der Kriminalisierung geht. In manchen Fällen bietet sich ganz generell eine Regulation der Materie außerhalb des Strafrechts an (so etwa im gesamten Drogenbereich, bei Schwarzfahren und Ladendiebstahl etc.). Aber auch dort, wo die Verhängung einer Freiheitsstrafe noch für nötig gehalten wird, muss die Vollstreckung zugunsten sinnvoller Zwecke ausgesetzt werden können. Und zwar unabhängig von der Länge der verhängten Freiheitsstrafe. Z.B. Arbeitsvermittlung, Ausbildung, Betreutes Wohnen, Bewährungshilfe, Therapie, Versicherung, Versöhnung und Wiedergutmachung anstelle der Haftstrafe.
Strafe muss nicht sein, Freiheitsstrafe erst recht nicht. Letztlich wäre die Entwicklung alternativer Verfahrensformen (Restorative Justice, Transformative Justice) hilfreich. Um den Bedürfnissen von Opfern sowie TäterInnen besser als bisher Rechnung zu tragen, sind Gefängnisse nicht erforderlich. Download…
In der Einleitung des Kommentars wird seit seiner 1. Auflage die Frage gestellt, „unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen ein weitergehender Verzicht auf die Freiheitsstrafe möglich wäre“ (1. Auflage, 1989, 7. Auflage, 2017, Einl. Rn. 20). Seit der 3. Auflage (1990 vor § 195 Rn. 7) heißt es, dass „allen restaurativen Plänen die Konzeption einer abolitionistischen Fort-Entwicklung des Strafvollzuges entgegengesetzt werden“ müsse. „Darunter ist ein möglichst weitgehender Abbau der totalen Institution Gefängnis zu verstehen“ (7. Auflage, 2017).
Johannes Feest, Jurist und Rechtssoziologe, Prof. Dr. Soz.Wiss, Bremen
Christine Graebsch, Juristin und Kriminologin, Prof. Dr. jur., Dortmund
Thomas Galli, Dr. jur. , Rechtsanwalt & Autor, Augsburg
Gundel Berger, Juristin, Magdeburg
Klaus Roggenthin, Soziologe, Dr. phil., Bonn
Sven-Uwe Burkhardt, Rechtsanwalt & Vertretungsprof. Dr. jur., Dortmund
Sebastian Scheerer, Jurist und Soziologe, Prof. Dr. jur, Hamburg
Gaby Temme, Juristin & Kriminologin, Prof. Dr. jur., Düsseldorf
Christian Herrgesell, Politologe, Berlin
Sevda Bozbalak, Sozialarbeiterin, Dortmund
Elke Bahl, Pädagogin, Bremen
Helmut Pollähne, Strafverteidiger, Prof. Dr. jur, Bremen
Bettina Paul, Kriminologin & Sozialpädagogin, Dr. phil, Hamburg
Karl F. Schumann, Soziologe, Prof Dr. phil., Berlin
Michael Lindenberg, Jurist, Soziologe, Kriminologe, Prof. Dr. phil., Hamburg
Christa Pelikan, Soziologin, Dr. phil., Wien
Lisa Grüter, Rechtsanwältin/Fachanwältin für Strafrecht, Dortmund
Gerlinda Smaus, Kriminologin und Soziologin, Prof. Dr. phil, Brno/Saarbrücken
Christoph Nix, Rechtsanwalt und Theatermann, Prof. Dr. jur, Konstanz
Michael Alex, Psychologe und Kriminologe, Dr. jur. Berlin
Frank Winter, Diplompsychologe, Bremen
Knut Papendorf, Soziologe, Prof. Dr. phil., Osl
Thomas Meyer-Falk, Aktivist und Autor, JVA (SV) Freiburg
Jorge Paladines, Jurist, Doktorand Universität Bremen
Heinz Cornel, Kriminologe, Prof. Dr. jur., Berlin
Tobias Müller-Monning, Anstaltspfarrer und Kriminologe, Dr. theol., Butzbach
Connie Musolff, Psychologin, Hamburg
Stephan Quensel, Kriminologe, Prof. Dr. jur., Hamburg
Dorothea Recknagel, Pfarrerin (i.R.), Freiburg
Ingrid Artus, Soziologin, Prof. Dr. phil, Erlangen
Peter Kirchhoff, Sozialarbeiter & Lehrbeauftragter, Dortmund
Nadja Samour, Strafverteidigerin, Berlin
Klaus Jünschke, Publizist und Aktivist, Köln
Ulfrid Kleinert, Theologe, Prof. Diakoniewissenschaft, Dresden
Werner Nickolai, Pädagoge, Prof. Straffälligenhilfe, Freiburg i.Br.
Konrad Huchting, Jurist, Prof. Soziale Arbeit, Emden
Rehzi Malzahn, Autorin & Restorative Justice Botschafterin, Berlin
Judith Holland, Soziologin, Dr. phil, Erlangen
Fritz Sack, Soziologe, Prof. Dr. phil, Berlin
Paul-Günter Danek, Sozialreferent, Straffälligenhilfe, Viersen
Monika Urban, Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, Bremen
Ines Woynar, Kriminologin, Prof. Dr. jur., Ludwigshafen/Rhein
Eva Kerwien, St. Augustin
Marianne Kunisch, Rechtsanwältin, Nothilfe Birgitta Wolff, Murnau
Karin Feldermann, Prof. Dr., Heidelberg
Margret Kalscheuer, Justizvollzugspsychologin (i.R.), Sankt Augustin
Liza Mattutat, Doktorandin und Aktivistin, Hamburg/Lüneburg
Ilka Schnaars, Juristin und Kriminologin, Bremen
Christoph Willms, Sozialarbeiter und Kriminologe, Köln.
Eva Schaaf, Pfarrerin an der JVA Köln
Thomas-Dietrich Lehmann, ev. Pfarrer und Gefängnisselsorger, Berlin
4 Rückmeldungen
Ein Ansinnen, welches keinerlei Aussicht auf politische Umsetzung haben dürfte (evtl. abgesehen von einer leichten Zurückdrängung der Ersatzfreiheitsstrafe) – und das ist auch gut so! Selbst ein jüngster Reformvorschlag der Grünen zu einer möglichen Reform der Tötungsdelikte beinhaltet sogar die lebenslange Freiheitsstrafe.
Die Behauptung, Strafe bringe “auch den Opfern nichts”, ist im Übrigen anmaßend und inhaltlich unzutreffend. Mir sind einige Geschädigte bzw. Angehörige bekannt, denen es explizit geholfen hat, dass der Täter einer entsprechenden Strafe zugeführt wurde. Sühne, Generalprävention und Normverdeutlichung sind unverzichtbare Grundlagen des Strafsystems, was auch aus einem Zitat Jürgen Hutterers (ehem. Vorsitzender der Schwurgerichtskammer am LG Ravensburg) hervorgeht:
“Ein Richter, der nicht strafen kann, gesellt sich endlich zum Verbrecher”. Wie wahr!
Ich habe lange über Ihren Artikel nachgedacht und teile Ihn nur bedingt. Ich bin Sicherungsverwahrter und seid 11 Jahren in der Sozialtherapie. Das Renovierungsprogramm sieht schön aus auf dem Papier, wovon nur sehr wenig stattfindet. Negative Gutachten werden im Gegensatz zu Positiven für Bahre Münze genommen. Viele Dinge werden in einen anderen Kontext dargestellt, die im gesamten ein anderes Bild ergeben würden. Bei meinen Anliegen von Anfang der Therapie, werde ich gar nicht unterstützt, was ja eigentlich in einer Sozialtherapie der Sinn sein sollte. Bestrafung sollte schon stattfinden, aber in einem angemessen Rahmen.
Im Moment fühle ich mich lebendig begraben, daß trifft genau zu, bin einfach nur noch Müde, ein Roboter fernab jeder Lebensrealität, die hier immer mehr Oberhand nimmt.
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar. „Wir“ fühlen uns als linksliberale Radikale nicht angesprochen. Wen meinen Sie, wenn Sie von „Ihr“ sprechen? Als GefängnisseelsorgerIn arbeiten wir im Strafvollzug und damit mit Tätern. Wir blenden die Geschädigten und Opfer nicht aus. Doch sind es Menschen, die zum Täter geworden sind. Es gibt Fälle, da ist es notwendig, dass ein Täter isoliert wird. Aber das ist nur ein Bruchteil dessen, den wir im Strafvollzug begegnen. Es ist die große Frage, ob eine langjährige Haftstrafe mit all den Nebenwirkungen der subkulturellen Knast-Strukturen jemanden resozialisiert und „bessert“ oder nicht. Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen werden in Haft mit Ausnahmen kaum bearbeitet. Es gibt kein Patentrezept, aber durchaus mögliche Alternativen.
Ihr seid Traumtänzer mit geradezu jugendlicher Naivität, die auf persönlicher Ebene offenbar noch nie mit realer Kriminalität konfrontiert worden seid.
So traurig es ist, es gibt Menschen die man von der Gesellschaft isolieren muss, und in Extremfällen sogar ein Leben lang.
Ihr setzt auf Integration, Wiedergutmachung und ähnliches. Würdet ihr das auch, wenn eure Tochter einem Sexualmord eines barbarischen Sadisten zum Opfer gefallen wäre?
“Strafe muss nicht sein” ist blanker Hohn und Spott gegenüber einem jeden Opfer.
Ihr seid alle einfach nur linksliberale Radikale.