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Meurer: „Jeder Einzelfall gleicht einer ganzen Geschichte…“

25. September 2022

Obdachlose und Drogenabhängige sind unübersehbar. Doch wie gehen Gesellschaft und Kirche damit um? Was lindert die Not dieser Menschen? 138 Stellen in der Stadt Köln kümmerten sich um obdachlose Menschen. „Das zeigt, wie krank das System ist. Warum kriegen wir das nicht besser hin?“ Pfarrer Franz Meurer von Köln-Vingst liebt eine drastische Sprache, wenn es um das Benennen sozialer Missstände geht, aber auch um praxisnahe Lösungsansätze und Appelle, die das christliche Gewissen aufrütteln.

Und so sitzt er an diesem Abend bei der Podiumsdiskussion in Köln-Sulz sehr bewusst auf einem Podium neben Wohnungslosenseelsorgerin Schwester Christina Klein und Robert Biesel, dem langjährigen Leiter einer Fachklinik für Drogenhilfe. Eingeladen hat das Team der Sülz-Klettenberger Glaubenswoche „mittendrin – außenvor“. Die Überschrift der Veranstaltung „Glaube und Handeln“. Eine Steilvorlage für Meurer. Denn Zupacken, nicht lange ums Problem herum reden, das Evangelium in die Tat bringen, also klare Kante zeigen, aber immer mit Herz – das ist genau sein Ding. Und deshalb nutzt er auch jede Gelegenheit, anderen den Spiegel vorzuhalten und den Finger so lange in die Wunde zu legen, bis etwas in Bewegung gerät. Denn Handeln aus dem Glauben heraus ist zu seinem Lebensmotto geworden. Locker lässt er erst, wenn er genug Mitstreiter gewonnen hat, die ihn dabei unterstützen, wenn andere Hilfe brauchen – welcher Art auch immer – und sie sich nicht wegducken. „Jeder kann etwas tun“, ist er überzeugt und schaut das Publikum dabei herausfordernd an: „Auch Sie können etwas ändern, wenn Sie das wollen. Zusammen könnten wir mehr erreichen.“

Die Kirche St. Theodor in Köln-Vingst. Hier ist Meurer nachwievor tätig und betreibt Kleiderkammern und andere Projekte.

Viele Initiativen an vielen Orten können viel bewirken

Gastfreundschaft, Caritas, Partizipation – das sei entscheidend, „wenn wir als Kirche überleben wollen“, betont der Seelsorger aus Vingst/ Höhenberg dann auch und fordert mit dem Schlagwort „Housing first“, dass die vielen Wohnungslosen als allererstes von der Straße müssten, sie bedarfsgerechten Wohnraum zugeteilt bekommen sollten, ohne dass dieser an Bedingungen geknüpft sei. Die ursprünglich aus Amerika stammende Idee basiert auf dem Ansatz, dass man Obdachlosen als Grundlage für Hilfs- und Therapieangebote zunächst eine stabile Unterkunft vermittelt, ohne dass sich diese dafür „qualifizieren“ müssen oder ihnen Drogenabstinenz als verpflichtend auferlegt wird. Sind sie erst einmal in einer Art häuslichen Sicherheit, die ihnen Stabilität ermöglicht, können sie trotzdem weitere Maßnahmen und Unterstützungsprogramme für ihre Drogenabhängigkeit in Anspruch nehmen. Für Sozialpfarrer Meurer ein überzeugendes Konzept.

8000 Wohnungslose an der Zahl seien es in Köln, rechnet er vor. Oft gäbe es zu jedem Einzelfall gleich eine ganze Geschichte: etwa eine psychische Erkrankung, zerrüttete familiäre Beziehungen oder gescheiterte Lebensentwürfe. „Dann landen sie auf der Straße.“ Aber es ginge auch anders. „Egal, wo wir leben, jeder Einzelne kann sehr viel beitragen, dass es so weit gar nicht erst kommt. Die Frage ist, wie sich die Stadtgesellschaft aufstellt, wie wir uns als Christen positionieren.“ Viele kleine Initiativen an vielen Orten könnten viel bewirken.

Nicht am Schrecken anderer ergötzen

Natürlich sei es einfacher, mit solchen Menschen nichts zu tun haben zu wollen. „Normalerweise ist es unmöglich, Bürgerliche und Prekäre zusammenzubringen“, weiß der 71-Jährige aus seinen langjährigen Erfahrungen in einem sozialen Brennpunkt. Aber die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei nun mal wesentlich. „Diese Menschen brauchen Resonanz: Ich komme vor, ich bin erwünscht. Das müssen die spüren. Und das hat dann auch wieder etwas mit uns zu tun. Es reicht nicht aus, sich am Schrecken der anderen zu ergötzen. Stattdessen können wir ganz viel machen, damit diese Jugendlichen gar nicht erst aus der Bahn geworfen, drogenabhängig und obdachlos werden.“ Schließlich betont er mit Nachdruck: „Dafür sitze ich genau hier: für die Prophylaxe.“ Und: Die funktioniere, wenn alle an einem Strang zögen. „Armut ist letztlich doch unsere große Chance als Kirche.“ Und Veränderung geschehe sowieso eher von unten.Gelungene Beispiele dafür kann der Kirchenmann jederzeit aus dem Ärmel ziehen. Schließlich nimmt er in seinem Veedel die Dinge gerne selbst in die Hand: „Wir haben viele Studenten, die Kindern bei den Hausaufgaben helfen, mit ihnen spielen, Ideen haben. Oder: Für unser Freizeit-Angebot HöVi-Land bilden wir jedes Jahr in ökumenischer Zusammenarbeit 100 Gruppenleiter aus.“ Das sei in einem Stadtteil, in dem 27 Prozent der Haushalte überschuldet wären, gleichzeitig eine Ausbildung zur Lebenstüchtigkeit. „Und anschließend nennen die sich stolz ‚Hövi-Christen’. Wir können doch froh sein, wenn die mit uns überhaupt noch etwas zu tun haben wollen“, ruft Meurer seinen Zuhörern entgegen, „und nicht sagen: Mit Kirche sehe ich Scheiße aus.“

Drogensucht, eine psychosoziale Erkrankung

„Wir lassen zu viele Menschen zurück“, pflichtet ihm Robert Biesel bei. Der studierte Sozialpädagoge, der 39 Jahre in der Drogenhilfe tätig war, davon zuletzt noch in der Therapievermittlung der Justizvollzugsanstalt Siegburg, stellt einen engen Kausalzusammenhang zwischen Obdachlosigkeit und Drogenkonsum her. „Wer Drogen nimmt, wird kriminell. Entweder weil es illegale Drogen sind, er damit dealt oder sie sich auf ungesetzliche Weise beschaffen muss. Früher oder später endet dieser Teufelskreis auf der Straße.“ Drogensucht sei eine psychosoziale Erkrankung, mit der Gewalt und Vernachlässigung einhergingen, erläutert der Experte. Auch wenn jeder Werdegang individuell verlaufe, beginne er oft in der Pubertät, weil Jugendliche dann ihren Platz in der Welt suchten. „Schon ein einziger Joint kann zur manifesten Abhängigkeit und damit zu einem sozialen Aus- und Abstieg führen. Erst fühlen sie sich high, bis sie sich selbst nicht mehr spüren – und irgendwann auch keinen Schmerz mehr. Und wenn sie dann eines Tages keine Rechnung mehr bezahlen, weil ihnen alles egal ist, enden sie in der JVA.“

Auch Biesel konfrontiert die Zuhörer in der Sülzer Kirche St. Nikolaus schonungslos mit der Realität. „Systemsprenger sind in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen“, glaubt er. Ab der 7. Klasse kämen viele nicht mehr in die Schule, lernten nie richtig schreiben und lesen. „Am Ende will schwierige Kinder niemand haben, und die Lehrer sind insgeheim froh, wenn sie eines Tages nicht mehr kommen.“ Nüchtern stellt der ehemalige Klinikleiter für Drogensüchtige fest: „Wir lassen Menschen aus prekären Verhältnissen allein.“ Natürlich gäbe es die Obdachlosen-Cafés, Kontakt- und Notschlafstellen. „Es wird eine Menge getan, aber es ist immer noch zu wenig“, mahnt er. „Im Grunde wollen wir die doch nicht.“

Therapie statt Strafe als wirksame politische Maßnahme

Dabei könne man Obdachlose von ihren bekannten Treffpunkten – Josef-Haubrich-Hof, Wiener Platz oder Neumarkt – nicht einfach vertreiben. „Diese Menschen sind Teil unserer Wirklichkeit, Teil unseres Lebens.“ Da helfe es auch nicht, darüber zu klagen, dass sie das Stadtbild verschandelten. „Es muss mehr für sie getan werden“, so die Forderung des Podiumsgastes. Hoffnung machten in dem Zusammenhang Maßnahmen wie „Therapie statt Strafe“, wie sie der Paragraf 35 des Betäubungsmittelgesetzes vorsehe. Hiermit verfolge der Gesetzgeber das Ziel, Drogenabhängige in die Gesellschaft wieder einzugliedern. Zwar nicht aus Nächstenliebe, „sondern damit sie wieder in die Rente einzahlen. Denn aus jedem Euro, der hier investiert wird, werden 100 für die Gesellschaft. Das zahlt sich politisch also aus.“ Doch gelingen könne eine solche Hilfe letztlich nur, wenn jemand ein Bewusstsein für seine Abhängigkeit entwickele und aus freien Stücken sage: Ich will raus aus der Sucht.

Zeit schenken

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt die Wohnungslosenseelsorgerin Christina Klein. „Das Beste, was man wohnungslosen Menschen schenken kann, ist Zeit“, erklärt die Olper Franziskanerin. Dafür ist sie an drei Tagen in der Woche in der Innenstadt, vor allem auch am Bahnhof, unterwegs, um die Menschen aus gebrochenen Gruppen, wie sie das nennt, aufzusuchen und mit einem Stamm an ehrenamtlichen Mitarbeitern zu versorgen. An weiteren zwei Tagen steht außerdem das „Gubbio“, das Franziskanische Zentrum mit einer Kirche für „Menschen auf dem Weg“ an der Ulrichgasse mit religiösen Angeboten für Wohnungslose offen. Bis zu 60 Gäste würden dienstags und mittwochs diese Möglichkeit nutzen und an den geistlichen Impulsen oder Gottesdienstfeiern mit Bischof Ansgar Puff teilnehmen. „Je weniger jemand hat, desto mehr hält er sich an etwas fest“, so die Beobachtung der Ordensfrau. Und dass Einsamkeit ein großes Thema sei.

„Manche Obdachlose sehen den ganzen Tag nur auf Füße, wenn sie da so am Straßenrand hocken.“ Daher lautet auch ihre Empfehlung: „Kontakt aufnehmen – und sei es nur mit einem Lächeln. Oder auch mal fragen: Wie geht’s? Was brauchen Sie?“ Sie könne kein Geld geben, aber präsent sein und ein Gespräch anbieten. „Da sind wir dann oft auch schnell beim Thema Gott“, berichtet sie, „auch wenn ich niemanden nach seiner Religion frage.“ Werde sie dann um einen Rosenkranz gebeten oder auch aufgefordert „Bete für mich!“ rühre das jedes Mal ihr Herz. „Überhaupt bewegt mich sehr, wie diese Menschen mit Gott unterwegs sind.“

Beatrice Tomasetti | domradio.de

 

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