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Digitale Investition in die Resozialiserung Gefangener

29. Juli 2023

Moderne Haftraummediensysteme ermöglichen den Gefangenen den Anschluss an die digitale Welt, um sie bestmöglich auf ihr Leben nach der Entlassung vorzubereiten. Diese Investition in die Resozialisierung zahlt sich für Inhaftierte und die gesamte Gesellschaft aus und wird nach und nach zum neuen Standard. Der Vollzug von Freiheitsstrafen soll die Inhaftierten befähigen, künftig straffrei zu leben und sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.

Da die Digitalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft in großem Tempo voranschreitet, müssen sich auch Institutionen des Freiheitsentzugs vermehrt mit dem digitalen Wandel auseinandersetzen. In diesem Kontext gilt es, ein für alle Parteien vorteilhaftes Maß der Nutzung digitaler Medien und Dienste zu ermöglichen. Dabei hat das Modell von zentralen und nur eingeschränkt nutzbaren Computerräumen ausgedient. Mit einer modernen Haftraummedien-Lösung, die vorwiegend in den Zellen der Insassen zum Tragen kommt, gelingt der Spagat zwischen dem Anschluss an die digitale Welt und der Gewährleistung der betrieblichen Sicherheitsanforderungen. Das Team von IBG Engineering hat zwischen 2016 und 2019 in einem ersten Schritt die Einführung der Multimedia-Lösung in der offenen Anstalt Realta im schweizerischen Graubünden geplant und begleitet. Die in diesem Pilotprojekt gewonnenen Erkenntnisse konnten anschließend bei der Einführung der Multimedia-Lösung in der 2020 in Betrieb genommenen geschlossenen Anstalt Cazis Tignez im schweizerischen Graubünden integriert werden. Dabei zeigte sich, dass sich diese Digitalisierungslösung für bestehende Bauten sowie für Neubauten gleichermaßen gut eignet.

Berlin

Zudem entfaltete die zukunftsorientierte Lösung eine Strahlkraft über die Landesgrenze hinaus: Eine Delegation der Justizbehörden Berlins trat nach ihrem Besuch in den JVAen Realta und Cazis Tignez in der Schweiz mit den verantwortlichen Ingenieuren von IBG in Verbindung. Der rege Austausch führte zur Erteilung eines Auftrags des Landes Berlin an IBG Engineering. Zunächst wurden die spezifischen Bedürfnisse identifiziert, dokumentiert und im Anschluss daran die technische Lösungsarchitektur entwickelt. Wichtig: Haftraummediensysteme sind keine Standardlösungen, die es vorgefertigt zu kaufen gibt. IBG erarbeitete die Unterlagen der europaweiten Ausschreibung in Zusammenarbeit mit dem Bundesland Berlin. Seit Vertragsabschluss begleitet das Team von IBG den Rollout in sieben Berliner Justizvollzugsanstalten mit insgesamt rund 3.500 Zellen. Damit wird Berlin als erstes Bundesland in Deutschland den Inhaftieren in allen Anstalten einen derart breiten Zugang zur digitalen Welt gewähren.

Das in dieser Größenordnung in Europa einzigartige Digitalisierungs-Projekt dürfte wie die beiden Bündner Anstalten einen Leuchtturmeffekt haben. Flexible und individualisierte Lösungen Sowohl die in Graubünden als auch die in Berlin eingesetzten digitalen Lösungen sind äußerst flexibel und können individuell an die betrieblichen Bedürfnisse der jeweiligen Anstalt bzw. an die einzelnen Vollzugsstufen angepasst werden. Darüber hinaus können die zur Verfügung stehenden Funktionen an bestimmte Personengruppen oder gar an Einzelpersonen adaptiert werden. Die Bedienung ist einfach und intuitiv gestaltet. Die mehrsprachige Menüführung vereinfacht spürbar die Kommunikation und den Informationsaustausch. Die Gefangenen verbessern dank der Nutzung nicht nur ihre technischen und methodischen Fähigkeiten in der digitalen Welt, sondern trainieren auch den Umgang mit Geld. Die Accounts der Inhaftierten sind an ihr persönliches Geld-Konto gekoppelt, womit digitale Dienste gekauft oder in einem Onlineshop Waren erworben werden können. Diese finanziellen Funktionalitäten tragen dazu bei, dem Normalitätsprinzip gerecht zu werden.

Externe und interne Kommunikation

Ein Webbrowser ermöglicht den Insassen, im Internet zu surfen. Zusätzlich bietet die Multimedia-Lösung einen E-Mail Service mit verschiedenen Zusatzfunktionen an, wie zum Beispiel einen automatischen Übersetzungszugsstufendienst für Kontroll-Instanzen. Das Surfen wie das Mailen werden mit sogenannten Freigabe-Listen für Gefangenen-Gruppen oder für einzelne Personen eingeschränkt bzw. explizit freigeschaltet. Die externen Kommunikationskanäle werden durch eine Telefonfunktion ergänzt, die es den Verantwortlichen der Anstalt ermöglicht, Gespräche zu Sicherheitszwecken zu überprüfen. Auf betrieblicher Ebene ermöglicht die Haftraummedien-Lösung eine einfache und umfassende Kommunikation mit den Insassen. Pinnwände und Informations-Bretter mit unzähligen Papieraushängen, die oft in verschiedenen Sprachen angebracht oder zwecks Aktualisierung periodisch ausgewechselt werden, gehören damit der Vergangenheit an. Die digitale Variante schafft eine bessere Übersicht und erhöht die Verfügbarkeit der relevanten Informationen. Eine weitere mögliche betriebsinterne Funktion bildet der Onlineshop, in welchem die Insassen im Gefängnis erhältliche Produkte wie Hygiene-Artikel oder Lebensmittel erwerben können.

Digitales Verwaltungsverfahren und Unterhaltung

Ein wichtiger Aspekt von Haftraummedien-Lösungen im Justizvollzug stellt die Einführung des digitalen Verwaltungsverfahrens dar. Die Digitalisierung soll, wie außerhalb der Anstalt, zeitgemäß all diejenigen Prozesse unterstützen, bei denen der direkte, soziale Kontakt zwischen Insassen und Bediensteten nicht zwingend erforderlich ist. Das digitale Antragswesen stellt somit eine weitere weitreichende Vereinfachung eines wichtigen betrieblichen Prozesses dar. So können die Inhaftierten ihre Anträge für einen Urlaub oder Besuch direkt digital einreichen. Das System erhöht die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Prozesse enorm und berücksichtigt Abwesenheiten von Bediensteten bei Prozessschritten, was beiden Parteien zugutekommt. Auch für die Unterhaltung stehen den Insassen verschiedene Kanäle zur Verfügung. So können sie etwa digitale Spiele nutzen, Radio hören, fernsehen sowie Sendungen aufnehmen.

Mit PC vergleichbar

Die Benutzer-Konten der Gefangenen können über vordefinierte Nutzergruppen dank einem differenzierten Rollen- und Berechtigungskonzept einfach eröffnet werden. Die zugeteilten Dienste und Rechte können zudem individuell angepasst werden. Bei der Eröffnung des Accounts kann gleichzeitig ein Geldkonto eröffnet werden. Die verschiedenen Dienste werden in der Regel pro Wochentag nach einem festgelegten Zeitprogramm freigeschaltet bzw. gesperrt. Bei Verstößen gegen die Vollzugsvorschriften können Dienste als disziplinarische Maßnahme pro Benutzer gesperrt oder weiter zeitlich eingeschränkt bleiben. Für Kontrollzwecke bietet das System die Möglichkeit, verschiedene Berichte zu generieren, wie Kontoauszüge, Verbindungsnachweise oder Hinweise auf missbräuchliche Manipulation der Endgeräte. Kritische Vorkommnisse werden vom System sofort gemeldet. In den Zellen kommen oft Haftraum-Medienterminals zum Einsatz, die mit einem PC vergleichbar sind. In Gruppen- oder Personalräumen können mit Set-Top-Boxen Fernsehgeräte oder Beamer als Ausgabegeräte verwendet werden. Auch einfache Telefonapparate können an das System angebunden werden. So lassen sich sämtliche Multimedia- Anwendungen optimal in einem einzelnen System integrieren, was sinnvoll ist und den Anforderungen des Betriebes entspricht. Die Software in den Haftraum-Medienterminals stellt sicher, dass keine Fremdgeräte angeschlossen werden können, und meldet fehlgeschlagene Versuche.

Vorbereitung auf die Entlassung

Die Realisierung digitaler Dienste in Hafträumen stellt spezifische Anforderungen an die Infrastruktur. Neben der Spannungsversorgung für die Endgeräte wird eine (kabelbasierte) Datenverbindung zum zentralen System (vor Ort oder in der Cloud) benötigt. Standardmäßig kommunizieren IT-Systeme heutzutage über eine universelle Gebäude-Verkabelung (UGV), die zur Übermittlung der Daten von den Endgeräten über das Netzwerk zur Zentrale dienen. Die allermeisten Haftanstalten verfügen allerdings noch nicht über diese Form der Netzwerk-Verkabelung, geschweige denn über ein entsprechend leistungsfähiges Daten-Netzwerk. In Justizvollzugsanstalten hingegen ist die veraltete Koaxial-Technologie noch weit verbreitet, weshalb diesen Infrastrukturen in jedem Haftraummedien-Projekt besondere Beachtung geschenkt werden muss.

Die Eignung der Multimedia-Lösung wird von der Forschung bestätigt. Das im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung in der Justizvollzugsanstalt Heidering von 2018 bis 2021 durchgeführte Forschungsprojekt „Resozialisierung durch Digitalisierung“ ist zum Schluss gekommen, dass digitale Medien im Strafvollzug sicher eingesetzt werden können und dass sie die Vorbereitung auf das Leben nach der Entlassung unterstützen. Auch die in diesem Forschungsprogewonnenen Erkenntnisse fließen in die Digitalisierung der sieben Berliner Justizvollzugsanstalten ein. IBG Engineering befasst sich seit acht Jahren intensiv mit Haftraummediensystemen im Justizvollzug und stellt einen deutlichen, landesübergreifenden Trend hin zur Resozialisierung durch Digitalisierung fest. Diese bringt den Inhaftierten die Realität digitaler Prozesse im Alltag näher – in sehr ähnlicher Form wie außerhalb der Gefängnismauern.

 

Roman Looser ist stellvertretender Geschäftsleiter des Bereichs IT/Kommunikation bei IBG Engineering AG.
Sein Team begleitete die Einführung der Multimedia-Lösung in den schweizerischen JVAen Realta und Cazis Tignez.

Quelle: Justiz Newsletter
Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges | Ausgabe 37

 

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