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Man kann Gott nicht vorschreiben, wem er verzeiht

6. Februar 2023

Immer wieder begegnet Pastoralreferent Andreas Bär in seinem Alltag Menschen, die Unversöhntheiten mit sich herumtragen – mit der eigenen Biographie, mit anderen Menschen, aber auch mit Gott. Wie man eine solche Last trägt und sogar los wird, verrät der katholische Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Nürnberg im Interview.

Was spielt beim Absitzen einer Haftstrafe die Hauptrolle? Bestrafung, Besserung, Resozialisierung?

Das ist eine sehr ambivalente Geschichte. Vom pädagogischen Grundgedanken her soll eine Justizvollzugsanstalt ein Ort des Nachdenkens, des Wandels und der Besserung sein. Die Realität ist aber meist anders. Für mich ist ein Gefängnis ein großes Silo: Oben werden Menschen hineingeschüttet, und unten geht ab und zu das Ventil auf und es kommen wieder ein paar Menschen raus. Vorrangig geht es um Sicherung und Verwahrung. Durch die dauernde Personalknappheit kann eine wirkliche Behandlung kaum stattfinden oder ist aufs Notwendigste reduziert. Früher hat der Psychologe Anti-Aggressionstraining gemacht, heute klopft er ab, dass der Häftling nicht suizidal ist, um das Schlimmste zu verhindern. Der Luxus des Einwirkens steht zwar im Gesetz, aber leisten können wir uns ihn nicht.

Hat Versöhnung in einem solchen Kontext überhaupt Platz?

Versöhnung beginnt ja bei einem selbst. Und da gibt es ganz unterschiedliche Haltungen. Das reicht von „Verdammt, sie haben mich erwischt!“ bis hin zu „Danke, Polizei, Ihr habt mich aus dem Teufelskreis herausgeholt.“ Ganz groß ist bei vielen die Sorge um die Familie draußen, die Angst vor blöden Kommentaren, vor Vereinsamung. Vielen wird klar: „Was habe ich angerichtet?“ Und dieses Erschrecken ist oft gepaart mit einer Art Selbstüberforderung: „Ich wollte doch meiner Familie alles bieten, und da das auf legalem Weg nicht ging, habe ich eben andere Wege gesucht.“

Was antworten Sie auf solche Selbstanklagen?

Der Gedanke „Ich bin nur dann etwas wert, wenn ich etwas leiste“ hat seine Wurzel in einem beschädigten Selbstwertgefühl. Leben ist aber anders. Hier geht es nicht darum, was du hast oder leistest, sondern: Du bist wertvoll, weil du bist! Schon der Satz „Ich habe eine Frau“ ist grundlegend falsch. Vielmehr: „Du bist beschenkt mit einer Beziehung, weil auch du ein liebenswerter Mensch bist.“ Wer seinen Wert als Mensch mit Geld oder Leistung übertünchen will, baut eine Fassade auf, hinter der ein großes Nichts steht.

Und wie ist das mit Versöhnung zwischen Tätern und Opfern? Gibt es so etwas in der JVA?

Für eine echte Versöhnung müssten sich Täter und Opfer begegnen, das dürfen sie aber nicht. Die Hürden beginnen bereits, wenn ein Täter dem Opfer einen Brief schreiben möchte, um sich zu entschuldigen. Vor der Verhandlung wird der Verteidiger davon abraten, weil es strafverschärfend oder als taktische Entschuldigung gewertet werden könnte, um ein milderes Urteil zu erwirken. Und Gespräche zwischen Opfer und Täter werden aus Gründen des Opferschutzes und der Sorge vor Retraumatisierung unterbunden. Einerseits verständlich, andererseits läge darin eine Chance.

Inwiefern?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Täter und Opfer durch eine Straftat oder einen Akt der Gewalt biographisch zusammengeschweißt sind. Das Opfer eines Messerangriffs etwa wird sein Leben lang durch die Narbe an die Gewalttat erinnert, der Täter muss bei jedem Griff zum Brotmesser an seine Tat denken. Beide tragen in sich einen Defekt, sind zu einer Zwangsgemeinschaft verschweißt, aus der sie so nicht herauskommen. Eine echte Begegnung, bei der Gefühle wie Trauer, Ohnmacht und Verzweiflung hochkommen, könnte hier einen Prozess des Verzeihens und der Versöhnung anschieben und dazu beitragen, sich von dieser Fessel zu lösen.

Und Sie selbst? Können Sie einem Menschen, der eine schwere Straftat verübt hat, versöhnt gegenübertreten?

Ich unterscheide da zwischen professioneller und persönlicher Betroffenheit. Jeder Gefangene hat einen Anspruch darauf, mit mir zu sprechen. Das ist meine Rolle, mein Selbstverständnis, mein Auftrag. Ich würde aber lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht diese Momente der Fassungs- und Sprachlosigkeit kenne. Mir steht da aber kein abschließendes Urteil zu. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, heißt es in der Bibel. Letztlich bin ich nur ein Enzym, der große Verdauungsprozess findet im Transzendenten statt. Ich kann Gott nicht vorschreiben, wem er verzeihen soll und wem nicht.

Verzeiht Gott denn? Wie geht Gott mit einem verkorksten Lebensweg um?

Meine Arbeitshypothese lautet da ganz schlicht: Wenn Gott den Menschen als unperfektes Wesen geschaffen hat, muss er auch damit klarkommen, dass diese unperfekten Wesen Fehler machen. Sonst hätte er den Bauplan anders schreiben müssen.

Ist Beichte im Gefängnis ein Thema?

Ja, das kommt schon vor. Die einen wollen einfach erzählen, eine Last loswerden, ganz egal ob nun ein Priester vor ihnen sitzt oder nicht. Andere – übrigens nicht nur eingefleischte Katholiken – verlangen einen Priester und ein festes Ritual. Ich erinnere mich an einen athletisch gebauten Gefangenen, der wie ein Häufchen Elend in der Anstaltskapelle auf den Priester wartete. Als ich den dann eine halbe Stunde später wieder abgeholt habe, stand da ein Mensch in aufrechter Haltung, gelöst, befreit, erleichtert. So mancher ist nach so einem Gespräch sogar bereit, vor Gericht die Wahrheit auszusprechen. Aus dem Einüben von Reue und Bekenntnis im sakramental-liturgischen Bereich kann offenbar der Mut erwachsen, sich der eigenen Biografie zu stellen.

Gibt es aus Ihrer Sicht Alternativen zum Wegsperren?

Die Alternative muss vor allem gesellschaftlich andocken. Momentan nehmen wir eine sehr heuchlerische Haltung ein – gemäß dem Motto: „In Zukunft verdienst du dein Geld auf anständige Weise, aber nicht bei mir.“ Etwas zu fordern und gleichzeitig nicht die entsprechende Möglichkeit einzuräumen, ist unanständig, und die Reaktion liegt auf der Hand: „Wenn ihr mich nicht wollt, mache ich eben weiter wie vorher.“ Aktuell finden Ex-Knackis vor allem bei den Menschen Arbeit, die mal selbst in Haft waren. Die Geächteten sind also Vorbild für uns alle!

Münsterschwarzacher “ruf in die zeit” | Die Fragen stellte Anja Legge

 

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