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Macht und Ohnmacht – theologisch betrachtet

3. April 2022

Wenn Petrus Ceelen das Glaubensbekenntnis betet, gerät er ins Stammeln. Nicht nur bei dem Satz: „Ich glaube an die heilige katholische Kirche.“ Gleich am Anfang kommt er in Schwierigkeiten, wie er immer wieder erzählt. „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen.“ Den All-Mächtigen? Es sträubt sich einiges gegen den Allmächtigen. Auch wenn einige Gefangene diese Lieder gerne singen, sich freisingen, fällt es Ceelen schwer, in den Lobpreis mit einzustimmen. Das war für ihn in seiner Zeit als Gefängnisseelsorger so und ist es heute noch.

Ich bringe den Lobpreis nur schwer über die Lippen. Ich werde sprachlos, wie beim Lied: Großer Gott wir loben Dich! und: Lobe den Herren, den mächtigen König… Mir bleibt manchmal die Stimme weg, ich kann meine innere Stimme nicht einfach überstimmen. Ich kann die Zwischenrufe in mir nicht überhören: Wo ist er denn, der Herr, der alles so herrlich regieret? Unsere Welt wird doch von ganz anderen Mächten beherrscht. Für den Herrn der Heerscharen ist kein Platz am Verhandlungstisch bei der Abrüstungskonferenz der Supermächte, Der Allmächtige kann auch nichts dagegen tun, dass die Kirchen immer leerer werden. Der Mensch hat sich selbst auf den Altar gesetzt und betet an, was er alles kann. Er braucht keinen Gott mehr und möchte keine Zeit mit ihm verlieren.

Tröster vom Dienst

Albert Camus schildert am Ende der Erzählung „Der Fremde“ die letzte Stunde eines zum Tod Verurteilten. Ein Priester sucht ihn auf und redet zu ihm von Gott. Der Geistliche redet und redet, vom Sterben, von der Hoffnung, von der Sünde, “Er wollte wieder von Gott sprechen, aber ich ging auf ihn zu und versuchte, ihm ein letztes Mal klar zu machen, dass ich nur noch wenig Zeit hätte, die wollte ich nicht mit Gott vertrödeln.” Gott ist überflüssig – wie der Seelsorger in der Anstalt – meinen manche. Man lässt den „Tröster vom Dienst” gewähren, so lange er den Betrieb nicht stört. Man lässt den „Pater” seinen Tabak verteilen. Und man lässt dem Himmelskomiker sonntags einen Raum, wo er vom lieben Gott erzählen kann und wo er den Gefangenen die frohe Botschaft verkünden darf, dass sie frei sein sollen. Dort kann er auch Lob- und Danklieder anstimmen. Und während er mit der Gemeinde das „Großer Gott wir loben Dich“ singt, schreit ein Gefangener aus dem Fenster. Er schreit den Allmächtigen an: „Oh Gott, Hilfe! Starker Helfer in der Not!“

Gott*, der nichts tut

Es schreit zum Himmel, Gottes Allmacht zu besingen in einem Haus, in dem Menschen Menschen ohnmächtig ausgeliefert sind. Wäre es nicht ehrlicher zu schweigen? Nicht nur im Knast, sondern überhaupt? Hat Dorothee Sölle nicht Recht, dass man nach Auschwitz keine Loblieder mehr singen kann? Auschwitz: An der Rampe standen Menschen und haben selektiert, haben Kinder in den Tod geschickt. Wo war Gott? Er schwieg. Warum griff er nicht ein? Wollte er nicht oder konnte er nicht? Wenn er ober nicht eingreifen wollte, wollte er dann den Tod der Unschuldigen? Wenn er nicht eingreifen konnte, wie kann er dann allmächtig sein? Hans Jonas, der 1987 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, ist entschieden davon überzeugt, dass Gott in Auschwitz nicht eingriff, nicht, weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Für ihn ist Gott nicht allmächtig, weil das Böse nicht zu vereinbaren ist mit der Güte Gottes. Ein Gott, der zugleich absolut gut und allmächtig ist, oder nichts tut gegen des perfekte Gelingen des gewollten Bösen, ist für den gläubigen Juden Hans Jonos total unverständlich.

Göttliche Vorsehung?

Wir verstehen das Böse als Preis der Freiheit. Der Mensch hat einen freien Willen, der auch von der Allmacht Gottes nicht angetastet wird. Dennoch bleibt die Frage, wie Gott so etwas wie Auschwitz geschehen lassen konnte. Wie konnte Gott so etwas geschehen lassen? Das fragt auch der Gefangene, der von seiner Frau betrogen wird und zuletzt keinen anderen Ausweg mehr sieht, als gemeinsam mit seinem dreijährigen Jungen aus dem Leben zu scheiden. Zuerst bringt er das schlafende Kind um, schneidet ihm die Halsschlagader durch und sticht auf das Kind ein, bis es tot ist. Anschließend schneidet er sich die Halsschlagader durch, liegt bewusstlos in einer Blutlache am Boden. Ausgerechnet an dem Abend kommt seine Frau früher heim als sonst, so dass der Mann in letzter Sekunde noch gerettet werden kann. Der Gefangene war lange Zeit in der Psychiatrie auf dem Hohenasperg bei Stuttgart, auf der Irrenstation. Er ist irregeworden an dem Allmächtigen, der nichts getan hat, um die Wahnsinnstot zu verhindern. Er sagt: Gott ist nicht nur allmächtig, sondern er ist doch auch allwissend, d.h. aufgrund seiner göttlichen Vorsehung hat er alles von vornherein gewusst. Er hat es geplant von Anfang an. Was ist das für ein Gott, der so grausam ist?! Was ist das für ein Gott, der mich mein Kind umbringen lässt und mich dann in letzter Sekunde noch „rettet“, damit ich mein Leben lang on meiner Schuld zerbreche, zugrunde gehe?

Gegen die Wand rennen

Viele Gefangene können den lieben Gott nicht verstehen. Er geht ihnen nicht in den Kopf, sie klagen den Allmächtigen an und setzen ihn auf die Anklagebank und mit ihm oft auch uns, seine Stellvertreter. Ein Gefangener sogt: Wenn Gott schon nicht verhindern kann, das jeden Tag Kinder verhungern, dann könnte er die Kinder doch wenigstens tot geboren werden lassen, um ihnen so das Leid zu ersparen. Ein anderer sagt: „Bei meiner Verhandlung habe ich oft auf dos Kreuz im Gerichtssaal geschaut, aber ich habe gesehen, dass er mir auch nicht hilft.“ Hier hilft Dir kein Gott“, sagt der im Bunker sitzende Gefangene, der mit seinen Nägeln die Wände abkratzt. „Auch Gott kann Dir nicht helfen“, sagt ein Psychiater zu einem Gefangenen, der alles mit seinem Herrgott bespricht. In dem Psalm heißt es, dass ich mit meinem Gott Mauern überspringen kann. Aber jeden Tag lässt er mich auflaufen, anrennen gegen Mauern, und mein allmächtiger Gott kann auch nicht verhindern, dass die Gefängnismauern immer höher werden und dafür immer mehr Geld ausgegeben wird.

Allmächtiger schlägt mir auf den Magen

Als Gefangenenseelsorger bekomme ich meine Ohnmacht und die Übermacht des Allmächtigen oft besonders schmerzhaft zu spüren. Der allmächtige Gott schlägt mir manchmal auf den Magen. Ist er nicht doch eine Projektion Ist der allmächtige Gott nicht nur ein Produkt unseres Wunschdenkens? Haben wir nicht vielleicht doch uns selbst einen Gott geschaffen nach unserem Bild? Dagegen kann man einwenden, warum sollen wir? Warum soll der Mensch sich einen Herrgott wünschen, dessen Allmacht den Menschen erdrückt und dem der Mensch ohnmächtig wie ein Kind ausgeliefert ist? Aber der Allmächtige bringt uns auch Vorteile. Wenn Gott der Herr der Geschichte ist, dann brauchen wir keine Angst zu haben, dass unser Leben von blinden Schicksalsmächten bestimmt wird. Er lenkt die Geschichte und wird zu guter Letzt alles wohl machen. Wenn Gott alles kann, dann kann er mich auch retten, wenn mir dos Wasser bis zum Hals steht. Und dann kann er auch den Gefangenen retten, der sogt: Mir steht die Kacke bis zum Hals. Wenn Gott allmächtig ist, denn hat er auch die Macht über den Tod und dann brauche „ich keine Angst zu haben, dass ich zum Tod verurteilt bin. Es lohnt sich also, an den allmächtigen Gott zu glauben. Ist dieser Glaube nur eine Projektion?

Gott, der Herr aller Herren?

Was sagt uns die Bibel? Am Anfang der Bibel stand ursprünglich nicht die Schöpfungsgeschichte, sondern der Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten. Jahwe befreite die Hebräer von der Unterdrückung durch die ausländische Supermacht und führte sie durch die Wüste ins gelobte Land. Dort in Kanaan stießen sie auf alte Schöpfungsvorstellungen anderer Völker und mussten zu den Mythen ihrer Umwelt Stellung nehmen. Sie bekannten, dass dieser Gott, der sie rettend durch die Geschichte geführt hatte, auch der Schöpfer der Welt sei. Die Erfahrung, dass Gott machtvoll handelt, diese Erfahrung übertrugen sie auf den Schöpfer-Gott. Aber auch wenn der allmächtige Gott kein projizierter Wunsch, sondern eine übertragene Erfahrung ist, trotzdem kommt unser Glaube nicht ohne Projektion aus. Zwangsläufig enthält unser Reden von Gott eine Menge Projiziertes. Wir sollten aber wissen, dass unser Gottesbild nicht Gott selber ist. Karl Rahner sagt: Gott sei Dank gibt es nicht, was 60 bis 80% der Zeitgenossen sich unter Gott vorstellen. Dass wir uns Gott allmächtig, voll Macht vorstellen, kommt nicht von ungefähr. Wir brauchen nur das Gesangbuch aufzuschlagen und schon steht er schwarz auf weiß vor uns: Gott der Herr aller Herren, der Sieger, der König, der starke Held, der Mächtige, der Allmächtige. Diese Bilder stammen vor allem aus dem Alten Testament. Dort ist er der Herr der Heerscharen, ein Kriegsgott. Im Buch der Richter z.B. kämpft er aufseiten der unterdrückten Israeliten gegen die kananäischen Machthaber. Er bekämpft sie von den Sternen her, er lässt die Erde zittern und die Berge wanken, Er besiegt alle. Auch die bestens Bewaffneten haben keine Chance gegen ihn. Der allmächtige Gott ist nicht nur der Kriegsheld der jüdischen Nationalgeschichte, auch in der Kirchengeschichte hinterlässt er eine blutige Spur. Er ist der Anführer der christlichen Heerschoren bei den Kreuzzügen. Auch im gottlosen Krieg, glaubt man den Allmächtigen auf seiner Seite zu haben.

Aufseiten der Leidenden

Ein ganz anderes Bild Gottes erscheint und in Jesus. Er macht die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes offenbar. Jesus verkündet nicht die Drohbotschaft eines allmächtigen Gottes, vor dem der Mensch Angst haben muss, sondern die Frohbotschaft des allgütigen Vaters, der seine Sonne aufgehen lässt über allen. Jesus lehnt es ab, die Menschen einzuteilen in Gute und Böse. Darum macht er nicht Halt vor der Mauer, die die Selbstgerechten aufgerichtet haben. Er reißt sie ein, er sprengt sie mit einem Satz: Liebe! Das hat ihm das Leben gekostet. Seine Hinrichtung war kein Justizirrtum, sondern die Quittung auf sein Leben. Weil er sich entschieden auf die „falsche“ Seite stellte, wurde er beseitigt von den Rechtgläubigen, die glaubten, sie hätten Gott auf Ihrer Seite. Von Anfang an stand Jesus auf der Seite der Leidenden, der Ohnmächtigen. Er verzichtete auf seine Macht, freiwillig.

Geboren im Stall, gestorben am Kreuz. Keine glanzvolle Karriere. Keine Spur von Macht. Er war machtlos, obwohl Macht-Toten von ihm bezeugt sind, aber dabei ging es Jesus nicht um die Demonstration seiner Macht, sondern um die Herrschaft Gottes. Die kommt langsam wie ein Senfkorn und nicht mit einem Schlag, von Gottes Allmacht herbeigezaubert wie die Apokalyptiker glaubten. Die Herrschaft Gottes kommt durch die Liebe. Das ist die Macht auf die Jesus setzt. Er lehrt wie einer der Macht hat und nicht wie die Schriftgelehrten. Sie hatten die Autorität, sie zwangen den Menschen schwere Lasten auf: 248 Gebote und 365 Verbote der Thora. Jesus zwang keinem etwas auf, aber er bezwang die Menschen durch seine Güte. Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren amtlich befugt über den Willen Gottes zu sprechen. Jesus dagegen war ein gewöhnlicher Laie. Aber er hatte viel zu sogen. Er sprach nicht nur über Gott und seinen Willen, er trat sogar auf mit dem Machtanspruch, den Willen Gottes zu erfüllen. Um Gottes Willen musste er den Kelch trinken. Er hat ihn nicht so souverän getrunken wie Sokrates den Giftbecher. Jesus war kein Halbgott, kein Übermensch. Er hatte Angst, er schwitzte Wasser und Blut vor seiner Verhaftung. Nachdem er gefoltert wurde, sagte er dem Militärgouverneur Pilatus: „Ja, ich bin ein König!“ Gekrönt mit Dornen. Der König der Ohnmächtigen.“

Nicht tot zu kriegen

Und als er dann am Kreuz hing und verhöhnt und verspottet wurde: „Wenn Du der Messias bist, dann steig doch herab!“ da zeigte sich, dass er nicht der Messias war, den die Juden erwarteten. Wehrlos, hilflos, erschöpft, erstickte Jesus on einem Schandpfahl. Und wer on solchem Kreuz hing, der galt als verflucht. Auch Gott ließ ihn hängen. Ein Skandal. Gott zeigt offen seine Ohnmacht. Golgatha ist der Gipfel der Ohnmacht – und der Liebe. Jesus hat sich tot-geliebt. Das Kreuz ist die Krönung der ohnmächtigen Liebe. Die gekreuzigte Liebe ist eine gewaltige Macht, der Sieg der Ohnmacht. Der Gekreuzigte ist viel stärker als die Mächtigen, die ihn mit Gewalt ans Kreuz schlagen ließen. Bald zeigte sich, die Machthaber konnten ihn gar nicht töten. Er ist nicht tot, nicht totzukriegen. Auch die Worte, die er gesprochen hat, sind keine toten Buchstaben.

Seine eigene Macht nutzen

Wir sollten unsere Macht, unseren Einfluss dazu verwenden, die Schwachen zu schützen. Aber das ist leichter gesagt als getan. Einmal wurde ein Gefangener böse zusammengeschlagen. Er bat mich, dass er dem Arzt vorgeführt wird, um seine Verletzungen festzustellen. Der Arzt wollte nicht. Ich bestand darauf: Die Beamten haben mir das sehr übel genommen, mich einen Nestbeschmutzer genannt. Ich würde ihnen in den Rücken fallen, nur weil ich diesem Schwachen zu seinem Recht verhelfen wollte. Sich schützend auf die Seite der Schwachen stellen, mit seinem Einfluss hinter den Geschlagenen stehen, dazu gehört Mut, das ist eine Zumutung. Leichter ist es, wegzuschauen, wenn ein Gefangener in den Bunker geschleppt wird. Auch wenn ich nicht helfen kann, allein schon mein Blick bewirkt in einer solchen Situation mehr als ich glaube. Allein schon meine Anwesenheit bewirkt, dass andere ein schlechtes Gewissen bekommen. „Sie sind hier. Das schlechte Gewissen”, sagte mir einmal ein Gefangener. Vielleicht möchte ich das nicht sein und fühle mich nicht wohl in dieser Rolle, aber ich glaube tatsächlich, dass wir so etwas wie das schlechte Gewissen in der Anstalt sind. Unterschätzen wir nicht, was wir vermögen. Wir führen einen Gefangenen aus. Dieser haut nicht ob. Das, was ihn on uns bindet, ist stärker als Fesseln.

Ich sehe das Kreuz auf dem Arm des Gefangenen, das eintätowiert ist – es geht ihm unter die Haut. Wenn ich auf das Kreuz schaue, kommt mir das Wort des Apostels Paulus in den Sinn: Die Mächte des Bösen mögen noch so mächtig sein. Schicksal und Zufall mögen noch so unerbittlich zuschlagen. Und auch der Tod kann noch so allmächtig sein. Nichts vermag uns zu trennen von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus erschienen ist (Röm. 8,38-39). Ich schaue auf das Kreuz und ich sehe den Gekreuzigten dort, wo ich hoffe, eines Tages auch hinzukommen: Zu Gott, der nicht die Macht, sondern die Liebe ist.

Petrus Ceelen | Quelle: Seelsorge im Strafvollzug

 

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