Im Urlaub habe ich vom großen Stapel ein paar Bücher aus der Abteilung “Die musst du unbedingt bald anschauen“ gelesen. Dazu gehört das Buch mit dem Titel “Herkunft” von Sasa Stanisic. Der Autor erzählt in einer unglaublichen Sprachgewalt – melancholisch, direkt (ein unterklassiger Literaturkritiker würde womöglich “schonungslos” schreiben) und oft sehr witzig – von seiner Ankunft in einem fremden Land nach der Flucht vor dem Krieg in Bosnien. Das Kapitel über die ARAL Tankstelle in Heidelberg gehört zu den wundervollsten.
“Die soziale Einrichtung, die sich für unsre Integration am meisten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch. Die einzige Regel: In der Nähe von Zapfsäulen – Rauchen verboten. An Sonntagen war es besonders schön. Mittags gesellten sich die Polen nach der Kirche dazu und soffen sich langsam in den Nachmittag hinein. Großzügige, blonde Männer, noch leicht benommen vom Blut Christi, mit schmalen Schnurrbärten und diesen immer eine Spur zu großen Sakkos. Gespräche über Ausbildung, Felgen, Bundesliga, Bundeswehr, Leberwerte und immer irgendwann: Fortpflanzung… Unvergesslich. Die ARAL-Tankstelle war Heidelbergs innere Schweiz: neutraler Grund, auf dem die Herkunft selten einen Konflikt wert war.”
Vorstellungskraft lernen
Mit wenigen Strichen füllen sich dürre Bürokratieworte wie “Migration”, “Asylbewerberleistungsgesetz”, “Erstunterkunft”, “Fluchtgrund”, “Bürgerkriegsfolgen” oder “Aufnahmelager” mit, ja mit was? Ich meine: mit so etwas wie dem Blut des Lebens, mit dem Fleisch des Lebendigen. Vielleicht hat der Papst Sasa Stanisics Buch nicht gelesen (vielleicht tut er es ja noch). Aber er muss Literatur wie diese gemeint haben, als er in seinem Brief über die “Bedeutung der Literatur in der Bildung” zum Lesen aufgerufen hat. Denn wer liest lernt Vorstellungskraft und schafft es, “sich mit dem Standpunkt, dem Zustand, dem Gefühl der anderen zu identifizieren, ohne die es keine Solidarität, kein Teilen, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit gibt.” Literatur schafft es, dass das Wort Fleisch wird. Eine ferne Geschichte, ein fremdes Leben, ein Mensch, dessen ersten deutsches Wort “Lothar Matthäus” war (auch davon erzählt der Roman) – wird Fleisch von meinem Fleisch.
Leer gewordene Worte füllen
Daran habe ich denken müssen, als ich die Geschichte gelesen habe, die wir am Sonntag im Gottesdienst hören. “Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag”, lässt der Evangelist Johannes Jesus sagen. Was wollen wir mit diesem rätselhaften Bild? Vielleicht das: Gott füllt leere Worte der Welt wie “Hoffnungslosigkeit”, “Isolation”, “Ungerechtigkeit”, “Lieblosigkeit”, “Ignoranz”, “Krankheit”, “Sterben” und “Tod” mit, ja mit was? Mit dem Fleisch des Lebendigen. Dem Blut des Lebens. Davon erzählen jedenfalls die Geschichten des Evangeliums. Seine Identifikation mit dem, was lebt ist ohne Grenzen. Oder anders erzählt: Gott, Fleisch von unserem Fleisch. Sein Leben ins Leben lassen. Fleisch sein für die, die nur noch Hunger kennen. Das wäre Kommunion feiern.
Peter Otten