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„Lesen Sie meine Akte.“ Die beschissene Lage des Detlef M.

16. Februar 2021

Es kommt ein Anruf aus dem Zugangsbereich der Justizvollzugsanstalt Werl. Der Bedienstete Herr K. bittet mich, sobald wie möglich den Neuzugang Detlef M. aufzusuchen. Der sei völlig apathisch; esse nicht, trinke nicht, wasche sich nicht, gehe nicht duschen und reagiere auf keine Ansprache. Sein Blick ähnele dem eines Blinden; wenn er auf seinem Bett sitzt, stiere er wie vor sich hin. Zwar sei eine viertelstündliche Überwachung angeordnet, doch die können die Bediensteten bei dem Betrieb nicht leisten. Ob ich mal als Seelsorger mein Glück versuchen wolle. Von den Fachdiensten sei keiner mehr erreichbar.

So machte ich mich auf den Weg. Detlef M. sitzt da, wie der Bedienstete Herr K. beschrieben hat. Als ich ihn ansprach, reagierte er mit einer leichten Bewegung der Schultern. Ich setzte mich zu ihm. Nach einer Weile atmete er tief, hob langsam der Kopf, schaute mich mit einem Blick wie aus einer anderen Welt an und fragte mit tonlos rauer Stimme: „Wo kommen Sie denn her?“ Ich stellte mich vor und sagte ihm, in der JVA seien einige in Sorge um ihn. Er schüttelte den Kopf und blickte auf den Boden. Ich: „Was wollen Sie mit dem Kopfschütteln sagen? Können Sie mir das übersetzen?“ Nach längerem Schweigen seufzt er tief und richtet sich langsam auf. Er sieht mich mit leidvollem Blick an und sagt mit leichtem Klang in der Stimme: „Das dauert zu lange. Sie würden das auch nicht verstehen.“ Ich: „Können Sie das konkreter sagen? Vielleicht komme ich dem dann näher.“ Wieder langes Schweigen. Dann: „Wissen Sie was: lesen Sie meine Akte. Dann brauche ich nicht den ganzen Mist zu erzählen.“ Ich: „Mir ist lieber, wenn Sie sagen, um was es geht.“ Er, ärgerlich und fest, was mich sehr erleichterte: „Nein! Lesen Sie meine Akte; und zwar genau. Dann kommen Sie wieder, und wir reden miteinander.“ Ich, um Zeit zu schinden: „Das ist ein Wort. Wie viele Tage räumen Sie mir ein?“ Detlef M.: „Meine Akte ist ganz schön dick. Dafür brauchen Sie mehr als eine Woche.“ Ich: „Gut, wenn ich die durch habe, komme ich wieder.“

Nicht nur in den Akten ist einiges verborgen, auch bei sich selbst liegt einiges im Unbewussten.

Die Akte des Detlef M.

Der Bedienstete, Herr K., hatte mit einiger Ungeduld auf mich gewartet und war erleichtert durch das, was ich ihm berichtete: „Dann ist das Ärgste erst mal abgewendet.“ Sein Dank war groß. So machte ich mich ans Werk und traute meinen Augen und meinem Verstand immer weniger, je länger und mehr ich in der Akte las. Detlef M. hatte einige berufliche Ausbildungen, sogar ein abgeschlossenes Studium als Ingenieur. In allen Berufen und an allen Arbeitsplätzen war er gescheitert. Stets hatte er den Anlass geboten. Mehrere Beziehungen zu Frauen und zwei Ehen waren zerbrochen. Er schien unausstehlich. Mit erschreckender Konsequenz beging er Straftaten, die jedoch nicht verfolgt und geahndet wurden, weil seine Chefs nicht in die Schlagzeilen wollten. Als er jedoch mit einem dümmlichen Erpressungsversuch zu weit gegangen war, landete er im Knast. Einige Arbeitskollegen hatten sich gegen ihn zusammengetan und das Verfahren betrieben. Trotz guter Gehälter hatte er einen Haufen Schulden. Die Gläubiger waren nicht zimperlich. Am Ende war er in den Zähnen von „Kredithaien“, die ihm knallhart Fristen setzten. Entweder zahlen oder etwas leisten oder zusammengeschlagen werden.

Seine „Leistung“ bestand in einem Überfall auf ein Pfandhaus; so stümperhaft geplant und durchgeführt, dass er in einer Falle saß und scheitern musste. Die Quittung für „so viel Dummheit“ war eine lange Haftstrafe. Als ich die Akte gelesen und mich wieder einigermaßen gefangen hatte, ließ ich über Herrn K. fragen, ob es Detlef M. recht ist, wenn ich ihn aufsuche. Vom Bett her sah ich große, ängstliche Augen auf mich gerichtet, in denen ich las: prügele bitte nicht auf mich ein; ich habe schon mehr als genug bekommen. Ich fühlte mich in einer Spannung zwischen Zorn und Lähmung. Um wieder Zeit zu schinden, frage ich zunächst, wie es ihm geht und was sich getan hat; ob er in absehbarer Zeit mit Besuch rechnen könne und Arbeit in Aussicht habe. Diese Lockerungsübungen taten wohl uns beiden gut. Seine Stimme wurde frisch und lebendig, seine Augen bekamen Glanz. Von mir fiel die innere Spannung ab. Dann fragte Detlef M.: „Na, wie ist es Ihnen mit meiner Akte ergangen? Haben Sie sich nicht die Haare gerauft?“ Ich: „Weniger das, als dass ich nicht in meinen Kopf bekomme, wie ein Mann von Ihrer Intelligenz so blöd sein kann, sich derart rein zu reißen. Mir kommt das so vor, als wollten Sie sich umbringen, die Drecksarbeit aber andere machen lassen.“ Detlef M.: „So ganz liegen Sie nicht daneben. Da war noch einiges, was nicht in der Akte steht. Aber das führt zu weit.“

Ein Muster zeigt sich

Ich biete ihm Gespräche an, um näher hin zu schauen und vielleicht das Eine oder Andere aufzuarbeiten und zu klären. Er könne sich das durch den Kopf gehen lassen und mir über den Bediensteten oder einem Antrag Bescheid geben. Wichtig ist ihm noch, dass die Gespräche vertraulich bleiben und niemand etwas von ihrem Inhalt erfährt. Während der folgenden acht Jahre sprachen wir wöchentlich bis vierzehntägig mit nur kurzen Unterbrechungen miteinander; jeweils auf seiner Zelle. Die meiste Zeit davon war er auf der von mir und meinem Kollegen betreuten Wohngruppe 3 untergebracht. Aus den vielen Geschichten und Einzelheiten, die zusammen kamen, zeichnete sich ein Muster ab: Er hat sich Zeit seines Lebens immer wieder in ausweglose Situationen gebracht und viel Schäden eingehandelt. Was ihn dazu trieb, konnte er nicht sehen und sagen. Eine weitere Fährte wies in die Richtung, dass er sich darauf verließ, immer, wenn es ihm dreckig ging, käme jemand, der ihn da rausholte. Mir kam das märchenhaft vor und ich fragte Detlef M., ob und wann er das denn erlebt oder auch geträumt hat. Schließlich erzählte er, ohne zu ahnen, was er von sich gab, aus seiner frühen Kindheit.

Seine Mutter kannte er nur als kranke Frau, die meist im Krankenhaus war. Sein Vater war – nach dem Urteil der Oma – ein „elender Hungerleider, der es nie zu was bringen wird und niemals eine Familie ernähren kann.“ Sein Vater kam schwach, ausgemergelt und krank aus der Gefangenschaft. Als Schneider richtete er eine kleine Werkstatt ein und begann, Uniformen umzuarbeiten. Das war zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Für eine Wohnung verdiente er nicht genug. Als er seine Frau kennenlernte und heiraten wollte, schlugen ihre Eltern die Hände über dem Kopf zusammen, warfen den angehenden Schwiegersohn aus dem Haus und verboten ihm, jemals wieder zu kommen. Die Heirat verhindern konnten sie nicht. Das Paar wohnte in der kleinen Werkstatt. Der erste Sohn starb bald nach der Geburt an Schwäche. Die Oma von Detlef M. habe einen Schreikrampf bekommen, als ihre Tochter kurz drauf wieder schwanger war. Als der zweite Sohn, Detlev M., geboren war, drängte die Oma darauf, ein wenig nachzuhelfen, dass er nicht am Leben bleibt. Dagegen wehrte sich die schwer kranke Mutter und informierte den Arzt und die Schwestern. Als es zu spät war für eine „Nachhilfe“, die Mutter immer noch zu krank und zu schwach war für den Jungen zu sorgen, wurde er der Oma vom Jugendamt anvertraut, weil es sonst keine Verwandten gab. Das wusste er aus Erzählungen anderer.

Buchstäblich „in die Hose machen“

Alltägliche Erinnerungen von damals waren, dass er allein im Garten war und spielen sollte, ohne irgendein Spielzeug zu haben. Andere Kinder durften nicht kommen. Er durfte nicht auf die Straße. Meist mehrmals am Tag geschah es, dass eine Nachbarin, die ständig im Fenster lag, durch den Garten rief: „Frau… der Junge hat wieder in die Hose gemacht.“ Schimpfend und wütend kam die Oma angefegt, „riss mich unter einen Arm, brachte mich in die Waschküche, zog mich aus und spritzte mich mit kaltem Wasser ab. Dann musste ich wieder raus.“ Das Spiel begann von vorne. Das waren seine frühesten und zugleich prägendsten Erinnerungen, die bis ins 3. Lebensjahr zurückreichten. Für mich war dies die Bestätigung, dass ich in seinen Berichten und Erzählungen meinte, entdeckt zu haben: Er macht sich in die Hose in der sicheren Erwartung, dass irgendeine Oma herbei gerufen wird und angerannt kommt, um ihn aus der ‚beschissenen’ Lage zu befreien. Dann kann das Spiel neu beginnen. Ein Schrecken fuhr mir durch Herz und Glieder, als mir die Regel dieses Spiels aufging: lieber solche Zuwendung als gar keine; wenn ihr an mir keine Freude findet, sollt ihr euch über mich ärgern; aber übergeht und überseht mich nicht völlig.

Als ich Detlef M. meine Zusammenfassung und Deutung anbot, saß er lange wie erstarrt da, zuckte zusammen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Zwischendurch stammelte er mehr, als dass er sprach: „Ja, so war es.“ In weiteren Gesprächen versuchte ich, ihm klar zu machen, dass es so mit ihm und für ihn nicht weitergehen muss. Wenn er will und bereit ist, für sich Verantwortung zu übernehmen, kann er das Muster durchbrechen und sein Leben gestalten. Intelligent genug sei er. Damit hatte ich wohl seinen Stolz gekitzelt. Innerhalb weniger Monate war er reif für die Verlegung in den offenen Vollzug. Aus dem ersten Urlaub ist er nicht in die Anstalt zurückgekehrt. Er halte das System keinen Tag länger mehr aus. Das hatte er Helfern gesagt, die volles Verständnis hatten. Ohne Geld in der Tasche und ein Dach überm Kopf fuhr er an seine frühere Wirkungsstätte, suchte seine Freunde und Gläubiger auf, von denen er Hilfe erhoffte. Die konnte er sich erneut verdienen. Fast spiegelbildlich war sein letztes Werk wie das, wofür er etwa acht Jahre gesessen hatte. Erst nach vielen, weiteren Knastjahren schaffte er es, sich zu hüten, die Hosen voll zu machen bzw. sie selbst auszuziehen und zu säubern. Wenn mein letzter Wissensstand noch stimmt.

 Ein Kapitel aus: Erinnerungen eines Gefängnispfarrers. (K)eine Satire

 

1 Rückmeldung

  1. Manni sagt:

    Betreff: Gute Frage was mein Betreff ist.
    Nachrichtentext:

    Guten Morgen erstmal (das ist schon mal ein Anfang),

    zwei Dinge vorweg:
    1. Ich bin und werde niemals gläubig werden.
    2. War ich knapp drei Jahre im Knast (ich wurde vor ziemlich genau einem Jahr entlassen).

    Nicht desto trotz wollte ich mich an dieser Stelle für Ihr Engagement an Orten wie der JVA Hannover, JVA Lingen/Ems, JVA Bruchsal, Sozialtherapie Asperg (Meine „Karriereorte“ geordnet von 8/17 bis 3/20) bedanken. Es ist in dieser Law and Order Gesellschaft nicht üblich sich für den „Abschaum“ einzusetzen. Mir fallen jetzt auf einmal keine Worte mehr ein obwohl eben noch „da“. Ich versuch´s trotzdem weiter.

    Die Weihnachtstüten (vermutlich mit von Ihnen gesponsert) haben mir speziell an den Feiertagen etwas von „Normalität“ geschenkt. Was mir beim Gedanken an die jeweiligen Pastoren / Pfarrer (und was es noch so gibt, bitte entschuldigen sie mein Nichtwissen in dieser Richtung) bleibt ist immer ein offenes Ohr. Natürlich unter den Gegebenheiten des Vollzugs (Antrag stellen usw). Ich kann ihnen gar nicht sagen weshalb ich ausgerechnet jetzt diese Mail schreibe. Vielleicht weil ich morgen ein Jahr „draußen“ bin? Ich weiß es nicht und beende diesen peinlichen Monolog einfach schnell mit: Danke für alles.

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