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Anmaßend zu wissen, was mein Gegenüber sucht

9. Januar 2024

Die ersten Worte Jesu im Johannes-Evangelium sind wie eine Überschrift über sein ganzes Wirken. Er beginnt nicht mit einer Predigt. Er erklärt den Menschen nicht, wie sie zu leben haben. Er beginnt mit einer Frage: Was sucht ihr? „Dieses Wort bewegt mich unter mehreren Gesichtspunkten. Ich bin als Seelsorger beauftragt, den Menschen bei seiner Suche zu begleiten und nicht dazu, das Ziel vorzugeben“, sagt Manfred Heitz von der rheinland-pfälzischen JVA Frankenthal in seinem Wort für das Neues Jahr.

Jesus-Handtuch auf Wäscheleine in Gran Canaria. Foto: Jonathan Werner

Was suche ich?

Jesus stellt diese Frage nicht nur den ersten Jüngern, er stellt sie auch mir. Mir fällt es nicht leicht, darauf eine Antwort zu geben. Suche ich überhaupt noch? Oder bin ich schon so gesättigt von all dem Guten, das mir in meinem Leben geschenkt wurde? Habe ich es mir bequem gemacht in meinem Wohlstand und in den Gewohnheiten, in denen das Leben vor sich hinplätschert? Die Frage Jesu rüttelt mich wach, sie ist unbequem. Sie erinnert mich daran, dass Christsein kein Zustand ist, sondern ein Weg. Dem Ziel dieses Weges kann ich nur näherkommen, wenn mir klar ist, was ich suche. Ich merke, dass Jesus nicht locker lässt und unbedingt eine Antwort von mir möchte. „Was suchst Du?“ möchte mich durch das Jahr begleiten und durch mein ganzes Leben. Darum gefällt es mir, dass diese Frage gleich am Anfang des Jahres steht. Vielleicht lautet meine Antwort jeden Woche anders oder ist sogar jeden Tag eine andere. Ich werde mir jeden Monat eine Erinnerung in den Kalender eintragen, damit ich nicht vergesse, mich regelmäßig von Jesus fragen zu lassen: „Was suchst Du?“

Was suchst Du?

Wenn ein Inhaftierter einen Kontakt zur Gefängnisseelsorge wünscht, muss er einen Antrag schreiben, d.h. ein Formular ausfüllen, dass seinen Weg in meinen Briefkasten findet. Manchmal ist das Anliegen auf dem Antrag formuliert, manchmal steht da nur „Ich bitte um ein Gespräch mit der Seelsorge“. Einige Antragssteller kenne ich schon, andere wenden sich zum ersten Mal an mich. Wenn ich den Inhaftierten in seinem Haftraum besuche, kommt es vor, dass ich schon weiß, was ich sagen möchte, bevor der Gefangene mir erzählt, warum er mir geschrieben hat. In diesen Situationen kann mir die Frage Jesu eine Mahnung sein, meine Haltung zu prüfen, mit der ich in dieses Gespräch gehe. Wie anmaßend ist es, wenn ich glaube zu wissen, was mein Gegenüber sucht! Es liegt viel Wertschätzung in dieser Frage „Was suchst Du?“.

Gutes Leben

Ich nehme mein Gegenüber ernst, ich zeige Interesse für das, was ihn bewegt und umtreibt, statt ihn zu bevormunden und ihm die Chance nehme, selbst für sich herauszufinden, was er sucht. Ich bin als Seelsorger beauftragt, den Menschen bei seiner Suche zu begleiten und nicht dazu, das Ziel vorzugeben. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin: woher soll ich wissen, wie ein gutes Leben für mein Gegenüber aussieht (sofern es das ist, was er sucht), wenn ich doch für mich selbst nicht mehr als eine Ahnung habe, wie mein Leben gelingen könnte? In diesem ersten Dialog Jesu mit den zwei Jüngern steckt eine Anleitung für den Umgang mit meinen Mitmenschen und besonders mit all denjenigen, zu deren Seelsorge ich beauftragt bin: mein geistliches Zuhause zu zeigen und zu teilen, wenn ich danach gefragt werde.

Was sucht ihr?

Ein junger Mensch ist für die Ausbildung in einer fremden Stadt und nimmt Kontakt zu seiner Kirchengemeinde auf. Eltern bekommen Nachwuchs und melden sich beim Pfarramt. Eine Familie kommt in den Sonntagsgottesdienst, weil das Kind wissen will, was Kirche ist. Wie erleben diese Menschen Kirche? Erzählen wir ihnen, welche Angebote es bei uns gibt, wo sie sich einbringen können und vielleicht auch schon direkt, was alles nicht geht? Zeigen wir überhaupt echtes Interesse oder spulen wir einfach unser Programm ab? Kommen wir etwa sogar auf die verwegene Idee, ihnen zu erklären, wie sie ihr Leben zu gestalten haben, was erlaubt ist und was verboten, nach welcher Moral sie leben sollen, was sie glauben dürfen und was nicht? Ich träume von einer Kirche, die sich dafür interessiert, was Menschen bewegt; die Menschen einlädt zu kommen und zu sehen, solange sie es wollen; in der Gemeinschaft erfahrbar ist und keine Hierarchie; in der Suchen, Irren, Zweifeln und Scheitern selbstverständliche Erfahrungen auf dem Lebensweg sind und nicht als Versagen gedeutet werden. Ich träume von einer Kirche, die nicht darauf wartet, dass jemand kommt, sondern sich wie Jesus auf den Weg zu uns Menschen macht und so ihrer Berufung folgt.

Manfred Heitz | JVA Frankenthal

 

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