Seit Ende April 2021 ist Kolumbien im Streik. In Kolumbien sagt man: Wir müssen die Nachrichten anderer Länder sehen, um zu wissen, was bei uns passiert – weil die lokalen Nachrichtensender so starke Zensur ausüben. An der Quelle sieht man einiges anderes, und anderes, was vielleicht noch nicht so gesehen worden ist. Die Regierung hatte eine Steuerreform einführen wollen, die von den armen Menschen bezahlt würde (über erhöhte Preise von Grundnahrungsmittels, Wasser und Strom), während die wohlhabenden und reichen Menschen auf Immobilien und Umsätze Steuerbefreiungen erhalten würden. Das war im Zusammenhang mit Corona unhaltbar.
Deswegen haben sich Gremien und Gruppen zum Widerstand organisiert. Gewerkschaften, u.a. Lehrer, der öffentliche Dienst, den es hier so nicht gibt, und viele Menschen, die arbeitslos geworden sind. Dazu kamen: die verschiedenen ethnischen Gruppen, Indigenas, Afros. Dann: die Studierenden. Die Lastwagenfahrer. Die Taxifahrer. Und die Bauern. Die Steuerreform, die zynischerweise „Nachhaltige Solidarität“ im Untertitel trägt, war nur die Spitze des Eisbergs, gegen die sich die Demonstrierenden stellen. Man könnte sagen, dass 500 Jahre Conquista – also „Eroberung“ oder „Besetzung“ Lateinamerikas vor allem eins gebracht haben: Ungerechtigkeit, in allen denkbaren gesellschaftlichen Bereichen – von Nahrungssicherheit über Bildung, die Gesundheitsvorsorge, das Dach über dem Kopf. Die Unterzeichnung der Friedensverträge 2016 hatte Hoffnung geweckt, dass in Kolumbien Frieden möglich würde – Hoffnung, die schnell wieder zerbrach, nachdem im Jahr 2018 die jetzige Regierung an die Macht kam und in Person von Ivan Duque Marquez, Ziehson des ultrarechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, erklärte, man würde den Friedensvertrag nicht umsetzen. Die Guerrilla war weg, aber die Gewalt nahm zu. Líderes sociales, die auf das Recht der Bevölkerung pochen, in einem „demokratischen Staat“ ihre „Menschenrechte“ erfüllt zu sehen, werden systematisch ins Visier der legalen und illegalen bewaffneten Gruppen genommen und ebenso systematisch umgebracht.
Es eskaliert…
Wer sich in Kolumbien für Gerechtigkeit engagiert, muss buchstäblich um sein Leben fürchten. Corona greift Leib und Leben aller Menschen an – und auch nicht politik-affine Menschen wurden mit der Realität ihres Landes konfrontiert. Am 28. April ging es los. Im ganzen Land. Mit Demos in Innenstädten und Blockaden auf Hauptverkehrs- und Bundesstrassen, die nicht nur internen Verkehr behindern, das Fahren von A nach B, sondern die Güterverteilung und, wesentlich für Kolumbien, den Im- und Export von Produkten (nicht nur Kohle für’s Ruhrgebiet, sondern auch Bananen für die Aldi-Kette). Mehrheitlich friedlich, fielen diejenigen auf, die Graffiti auf Bankgebäude sprayten, den Supermarkt plünderten, Steine auf die Polizei wurden. Die Polizei schlug zurück. Es gab Verletze. Tote. Und es eskalierte. Und was als „Streik“ gedacht war, verwandelte sich in einen „Paro Nacional indefinido“ – in einen nationalen Stillstand, der anhält, und dessen Ende offen ist. Kolumbiens Zivilgesellschaft verlangt Verhandlungen und Lösungen. Weil es nicht mehr nur um die Steuerreform geht, die der Präsident bereits nach drei Tagen zähneknirschend zurückziehen musste.
37 Tode und 379 Verschwundene
Es geht heute um die vielen Forderungen und Versprechungen, die nie eingelöst worden sind – Landgerechtigkeit, Zugang zu freier Bildung, Ernährungssicherheit, ein brauchbares Gesundheitssystem. Und darum, dass man seine Rechte friedlich einfordern können will und sollte. In einem Staat, der sich „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ nennt – aber die Demonstrierenden „Terroristen“ und „Vandalen“ nennt, und die Polizei mit Tränengas, Gummigeschossen, Revolvern und Gewehren gezielt auf Demonstrierende losschickt. Nach einer Woche Streik ist die Bilanz von Verletzen und Toten auf beiden Seiten – der Demostrierenden und des Staates – hoch. Seitens der Demonstrierenden weiss man von offiziell 37 Toten – nicht wenige durch direkte Schüsse von Polizei und Militär. Verletzte sind ungezählt, auffällig viele Augenverletzungen – Gummigeschosse, die erblinden. Verschwundene ebenfalls – 379 offiziell genannt – los „Desaparecidos“, auf der Strasse aufgegriffen, bei einer Demo oder nicht, in weisse oder andersfarbige Vans gesteckt, zu oft nie wieder gesehen, und die, die wieder gesehen wurden, nach Stunden Haft an unbekannten Orten, berichten von Misshandlung, Schlägen, Folter.
Impfstoffe und Sauerstoff fehlen
Nachdem selbst UNO-Vertreter angegriffen worden sind und die UNO sich öffentlich geäussert hat, sind viele Regierungen der internationalen Staatengemeinschaft, einschliesslich der Vereinigten Staaten, gefolgt und fordern den Präsidenten Iván Duque und seine Regierung auf, die Gewalt zu lassen und Dialog zu ermöglichen. In Deutschland haben Abgeordnete die Regierung dazu aufgefordert, sich gegenüber Duque zu erklären. Kolumbianische Sänger, Fussballer, Künstler haben aus dem Ausland ihre Solidarität erklärt. Selbst der Hacker-Club Anonymous hat eingegriffen und die Seiten von Regierung und Armee sabotiert. Zum jetzigen Zeitpunkt aber gibt es wohl niemanden in Kolumbien, der nicht direkt oder indirekt vom Streik betroffen ist: Strassenblockaden führen dazu, dass im Land Benzin und Nahrungsmittel fehlen – von Impfstoffen und Sauerstoff nicht zu reden. Über 82 „humanitäre Korridore“, die entsprechende Transporte durchlassen sollen, soll dieses Problem gelöst werden. In einigen Städten wird der wenige Treibstoff, der noch vorhanden ist, aus Tankstellen gestohlen. Woanders sind die Supermärkte und Tiendas leer. Selbst in der „Wirtschaftshauptstadt“ Medellin und dem Departamento, das eigentlich alles an Nahrungsmitteln produziert, sind im Supermarkt die Regale, in denen normalerweise Öl, Brot und Zucker stehen, verdächtig leer. Knappheit sort für Preissteigerung: Brokkoli, um ein Beispiel zu nennen, kostet nicht mehr 2500 Pesos/lkg, sondern 10800 Presos/kg, also mehr als viermal so viel.
Der Staat hat Waffen. Demonstrierende nur ihren Körper
Wo die Polizei nicht reicht, wird Militär zur Bürgerkontrolle hinzugezogen. Es ist keine Überraschung, wenn neben dem Bus auf einmal ein Motorrad mit zwei Soldaten auftaucht, der hintere die AK47 schussbereit in der Hand. Und in der Metro wird am Eingang von Polizisten die Tasche kontrolliert: man könnte ja Natron oder einen Fotoapparat oder Milch dabei haben. Um sich bei Tränengas zu helfen oder zu dokumentieren, was auf den Demonstrationen passiert. Weil immer mehr Soldaten sich weigern, auf ihre Mitbürger zu schiessen, ruft das Militär mit Werbespots im Fernsehen die jungen Männer des Landes auf, ihren Militärdienst jetzt zu leisten, soweit sie das noch nicht getan haben. Das wichtigste Anliegen hier ist heute: die Gewalt beenden. Die Gewalt bei den Demonstrationen, von Seiten des Staats und seiner bewaffneten Gruppen gegenüber den Demonstrierenden, und umgekehrt auch. Wobei eine klare Unverhältnismässigkeit besteht: weil der Staat über Waffen verfügt, die man benutzt, während die Demonstrierenden allein ihre Körper einsetzen und den einen oder anderen Stein oder ihr Aerosol. Das ist ein praktisches – aber auch ein kulturelles Problem. Wo Politiker erklären „Estamos de Guerra“, „Wir sind im Krieg“, geht es um Gewinnen desselben und damit um die Vernichtung eines Feindes. Gewalt beenden heisst jetzt: nicht nur zum Dialog einladen, sondern verhandlungsbereit sein, Forderungen und Leistungen verhandeln, Lösungen erarbeiten. Politik gestalten, Fakten schaffen. Die internationale Staatengemeinschaft: Regierungen, Nichtregierungsorganisationen, Kirchen, Hilfswerke – sind wichtige Stimmen, die Druck ausüben können auf „unsere“ kolumbianische Regierung.
Anne Stickel | Evangelische Theologin, die in Medellín mit ihrem kolumbianischen Mann lebt