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Nr. des Personalausweises entscheidet über Ausgang

21. Mai 2020

Die kolumbianische Stadt Tumaco befindet sich irgendwie immer im Ausnahmezustand, aber mit Corona ist eine Dimension hinzukommen, mit der in dieser Weise niemand rechnen konnte. Die kolumbianische Pazifikküste ist drei Jahre nach der Unterzeichnung der Friedensverträge nicht zur Ruhe gekommen. Während in Deutschland die ersten Lockerungen eingeführt werden und langsam ein Alltag zurückkehrt, hat der kolumbianische Präsident die Ausgangssperre noch einmal bis Ende Mai verlängert. Seit über zwei Monaten ist das öffentliche Leben in Kolumbien komplett lahmgelegt. Die Theologin Ulrike Purrer arbeitet seit 2012 mit der Fundacion Afrosinfronteras zusammen.

Im Jugendzentrum Centro Afro unterstützt Ulrike Purrer mit der schweizer Organisation Comundo Kinder und Jugendliche dabei, Wege in ein gewaltfreies und eigenständiges Leben zu finden. In Tumaco sind drei Viertel der Bewohner Flüchtlinge, die durch den Krieg aus ihren Dörfern in die Stadt vertrieben wurden. Die Gewalt und Armut ist hoch. Besonders die jungen Menschen sind betroffen. Personen über 60 Jahre dürfen das Haus gar nicht verlassen, alle anderen nur zu absolut lebensnotwendigen Erledigungen und alle zwei Wochen einmal zum Einkaufen. Ein-Personen-Haushalte werden damit vor besondere logistische Herausforderungen gestellt. Die letzte Nummer des Personalausweises entscheidet jedenfalls über die Ausgangserlaubnis, die von der Polizei kontrolliert und beim Einlass in den einzigen großen Supermarkt der Stadt konsequent überprüft wird.

Die Bemühungen gelten rund um das derzeit großzügig abgesperrte Stadtzentrum. Doch sobald man in die dicht besiedelten Viertel wie unser Nuevo Milenio kommt, sieht die Welt schon wieder ganz anders bzw. „normal“ aus. Tobende Kinder kicken ihren Ball zwischen den erzählenden Nachbarinnen hindurch, ein paar Jungs spielen Domino und hören laute Musik, während nebenan ein Motorrad gewaschen oder ein Huhn gerupft wird. Das Leben findet auf der Straße statt, das zuhause-bleiben fällt so unendlich schwer, und selbst die vorbeifahrende Polizei weiß, dass ein „social distancing“ in Tumaco kaum in aller Konsequenz durchzusetzen ist.

Wie soll es meine 8-köpfige Nachbarsfamilie auch monatelang 24 Stunden am Tag in ihrer kleinen Holzhütte aushalten, wo es unter dem vor Hitze knackenden Wellblechdach nur winzige Schlafnischen hinter einfachen Vorhängen gibt? Keine Kinderzimmer, kein Spielzeug, keine Bücher, kein Internet. Diese Häuser sind nicht dafür vorgesehen, sich tagsüber in ihnen aufzuhalten, und mein Häuschen fühlt sich auf einmal an wie ein Palast, denn so einfach es auch sein mag, ich habe es ganz für mich allein, muss es mit niemandem teilen, habe eine relativ stabile Internetverbindung – vorausgesetzt der Strom verlässt uns nicht mal wieder–, dazu einen kleinen, aber feinen Büchervorrat und sogar ein paar freie Quadratmeter für meine abendlichen Sporteinheiten.

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Leben und Tod

Gleichzeitig schaue ich jeden Tag nachdenklich auf die leere Straßenecke, an der meine Nachbarin Lucha und ihre älteste Tochter normalerweise Pommes Frites verkaufen, von deren Erlös nicht nur sie beide, dazu die kleine Enkelin und die Großmutter leben müssen, sondern auch die beiden jüngeren Töchter, die in Bogotá an der Uni studieren. Seit zwei Monaten haben die Frauen ihren kleinen Stehimbiss schließen müssen, seit zwei Monaten haben sie keinerlei Einkommen. Kein Arbeitslosengeld, keine staatlichen Hilfen, und während wie bei Lucha in unzähligen Familien absoluter ökonomischer Notstand herrscht und immer mehr Menschen Hunger haben, steigen auch die Infektionszahlen, und Tumaco schreibt die ersten Coronatoten.

Unser örtliches Krankenhaus hat weder eine Intensivstation mit Beatmungsgeräten noch ein Labor, das die Patienten auf Covid-19 testen könnte. So müssen die Laborproben nach Bogotá geschickt und die Schwerkranken ins 5 Stunden entfernte Pasto überwiesen werden. Die strukturelle Abgeschiedenheit und Vernachlässigung der Pazifikregion wird dadurch deutlicher denn je. Wer im Krankenhaus an Corona oder dem Verdacht stirbt, wird direkt in einer der 500 eigens für die Pandemie errichteten Grabstellen aus Beton bestattet, ohne die traditionelle Totenwache, ohne Aussegnungsgottesdienst, ohne Begleitung durch die Angehörigen. Diese epidemiologisch sicher notwendige Maßnahme läuft jedoch dem wichtigsten afrokolumbianischen Erbe zuwider. Einen Toten ohne die traditionellen Riten zu bestatten, ist undenkbar.

So verzichtet mancher Kranke lieber auf eine professionelle Versorgung im Krankenhaus, um einem solch einsamen Tod zu entgehen, und trotz Ausgangs- und Versammlungsverbot finden Totenwachen und Beerdigungen mit weit über 100 Personen statt. Vor einigen Tagen hat eine Familie unserer Gemeinde sogar unter massivem Einsatz von Gewalt den Leichnam ihres nachweislich an Covid-19 verstorbenen Angehörigen aus dem Krankenhaus „entführt“ und zu Hause in Begleitung mehrerer Dutzend Freunde und Angehöriger betrauert. Warum diese Unvernunft? Haben die Menschen denn keine Angst, sich anzustecken? Ich spüre, dass sich viele Leute sehr wohl vor dem Virus fürchten und auch an die offiziellen Auflagen halten, so gut sie eben können.

Luisner führt stolz seinen selbstgenähten Mundschutz vor.

Doch gleichzeitig ist der Tod in Tumaco eben seit so vielen Jahren so allgegenwärtig, dass die Corona-Pandemie im Grunde nur noch eine zusätzliche Gefahr ist, aber nicht DIE eine große Bedrohung wie anderswo. Nach wie vor hat Tumaco deutlich mehr Gewaltopfer zu beklagen als Coronatote, und wenn man nie weiß, ob man morgen noch am Leben ist, dann lebt und genießt und feiert man das Leben eben heute, so gut man kann. Damit rechtfertige ich das kurzsichtige Verhalten vieler Menschen natürlich nicht. Viel zu oft macht es mich in diesen Tagen sprachlos und wütend, aber ich versuche auch, die Menschen in ihrer Realität zu verstehen – ein Leben immer ganz nah am Tod.

Geschlossen und dennoch aktiv

Und wir? Und unser Jugendzentrum? Mit einem gewissen Stolz habe ich in den letzten Jahren ja immer wieder davon berichtet, dass unser Centro Afro stets eine zuverlässige Anlaufstelle für viele Kinder und Jugendliche darstellt und auch an Feiertagen, in Ferien- und Krisenzeiten geöffnet ist. Das ist nun leider anders. Wir haben uns konsequent dem Log-down untergeordnet und das Jugendzentrum vorerst geschlossen, doch nach der ersten Perplexität haben wir doch auch sehr schnell begonnen, uns selbst neu zu erfinden. Die Kids wollten zu Hause beschäftigt werden. Also mussten Zeichen- und Schreibwettbewerbe her, von uns selbst gestaltete Kreativ- und Rätselhefte sowie Mandalas zum Ausmalen.

Mit den HipHoppern konnten wir corona-spezifische Radioprogramme und neue Lieder aufnehmen. Zudem verbringe ich viel mehr Zeit als sonst am Telefon, um die Kinder und Jugendlichen per Facebook-Messenger oder Whatsapp ganz individuell zu begleiten. Natürlich sind die modernen Kommunikationsmittel dabei ein Segen, auch wenn sie längst nicht allen Familien in Tumaco zur Verfügung stehen. Bald zogen allerdings auch die Schulen nach. Der Unterricht soll nun teilweise online stattfinden, die Hausaufgaben müssen in virtuellen Plattformen hochgeladen werden. Wer keinen Zugang zum Internet hat, bleibt auf der Strecke. So haben wir uns darum bemüht, vielen unserer Jugendlichen eine Internetverbindung per Handy für zu Hause zu ermöglichen.

Für unsere Zirkustruppe mussten wir uns etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Sie brauchen Bewegung, gerade auch jetzt während der Quarantäne. Also haben wir mit unendlich mühsamer Logistik ein ganzes Tutorenprogramm aus dem Boden gestampft und für unsere 12 Jungs hier in Tumaco 12 zirkuserfahrene StudentInnen aus Bogotá gefunden, die in einem ehrenamtlichen, ganz individuellen Prozess durch 2-3 virtuelle Lerneinheiten pro Woche per selbst aufgenommenen Kurzvideos oder Liveschaltungen die persönlichen Fähigkeiten unserer Artisten fördern. Einige konzentrieren sich auf das Jonglieren (dafür habe ich in den ersten Tagen schnell über 20 Jonglierbälle gehäkelt), andere auf die Clownerie, wieder andere auf die Akrobatik, und ich bin einfach begeistert, was in diesen kleinen Häuschen alles möglich ist.

Unseren jungen Hobbyschneider Luisner unterstütze ich dabei, aus recycelten Stoffen Mundschützer zu nähen, mit denen er eine kleine Einnahmequelle geschaffen hat. Ihr seht schon, die Kreativität kennt in diesen Wochen keine Grenzen, und so finde ich es trotz aller Herausforderungen wirklich wunderbar, auch diese besondere Zeit mit den Menschen hier in Tumaco erleben zu dürfen. Mehr lesen…

Ulrike Purrer | Comundo

 

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