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Kiezdeutsch – ein anspruchsvoller deutscher Dialekt

16. Dezember 2021

„Isch wollte heute einkaufen gehen, danach isch fahr zu mein Vater. Wallah!“ Bei Äußerungen wie dieser – hier aus aus einem Gespräch Jugendlicher in Berlin-Kreuzberg – denken viele spontan erst einmal „Grammatikfehler“, „kann nicht/will nicht richtig Deutsch sprechen“ oder gar „Sprachverfall“. Aber diese Jugendsprache, Kiezdeutsch, ist kein fehlerhaftes oder verkürztes Deutsch. Kiezdeutsch ist grammatisch anspruchsvoll! Warum steht z.B. im ersten Satz das Verb an derselben Stelle wie im Standarddeutschen (oft auch „Hochdeutsch“ genannt), im zweiten Satz aber nicht? Und wieso finden wir dieselbe Wortstellung im folgenden Beispiel aus dem 15.Jahrhundert?

„Danach die edle Königin fuhr auf die Güter des Laslaes Wans mit großem Kummer.“ [wörtl. Übersetzung aus dem Frühneuhochdeutschen] Hier zeigt sich etwas Systematisches: Wenn Jugendliche sagen Danach ich fahr … statt Danach fahr ich …, dann sind sie nicht einfach unfähig, den „richtigen“ Satzbau des Deutschen zu erkennen. Sonst hieße es schließlich auch im ersten Satz Heute ich wollte … und nicht Ich wollte heute … Sie verwenden vielmehr eine Wortstellung, die günstiger ist für die Art und Weise, wie Information im Satz verpackt wird: Zuerst kommt die Verbindung zum vorigen Geschehen (danach), dann die Angabe, um wen es im Satz geht (ich), und dann das Verb, das die Handlung angibt (fahr). In früheren Sprachstufen des Deutschen ging das auch schon einmal, wie der Satz mit der „edlen Königin“ zeigt. Kiezdeutsch bringt damit eine grammatische Option zurück in das Spektrum des Deutschen, die uns im Laufe der Sprachgeschichte verloren gegangen war.

Diese Wortstellung passt in das Deutsche und ist im Deutschen motiviert, sie entsteht nicht etwa durch eine Übertragung z.B. aus dem Türkischen, wie manchmal angenommen wird (Im Türkischen ist der Satzbau ganz anders, mit türkischer Wortstellung wäre der Satz „Ich danach Vater-meinem-zu fahre“.) Hier entsteht eine eigene Dialektgrammatik. Kiezdeutsch ist nicht einfach verkürztes Standarddeutsch, sondern ein Dialekt des Deutschen, mit grammatischen Eigenheiten und Besonderheiten in Wortschatz und Aussprache ebenso wie andere Dialekte auch. Dialekte sind grundsätzlich nicht mangelhafte Versionen des Standarddeutschen, sondern eigenständige Varianten, die auch dort eine komplexe Grammatik haben, wo sie vom Standard abweichen. Das gilt für Kiezdeutsch ebenso wie für andere deutsche Dialekte. Um so etwas wie das dialektale „meiner Mutter ihr Hut“ zu erzeugen, muss unser Gehirn mehr Grammatikarbeit leisten als für das vergleichsweise simple „Hut meiner Mutter“. Und könnten Sie auf Anhieb erklären, warum wir oft „sie brauch“ statt „sie braucht“ sagen, aber nie „sie rauch“ statt „sie raucht“? [Wen es interessiert: brauchen ist, anders als rauchen, ein Modalverb, und aus historischen Gründen haben die anderen Modalverben im Deutschen – z.B. wollen oder können – keine Endung -t in der 3.Person Singular („sie will“, nicht „sie willt“). Brauchen passt sich dem an.]

Dialekte bedrohen das Deutsche nicht, sie sind Teil des bunten Spektrums deutscher Varietäten und existieren neben und mit dem Standarddeutschen. Dies gilt auch auf Sprecher-Ebene: Niemand beherrscht nur eine Variante des Deutschen. Wir sprechen im Dienstgespräch anders als abends beim Bier, und wir schreiben anders als wir sprechen. Ebenso ist auch Kiezdeutsch immer Teil eines größeren sprachlichen Repertoires, und ob man mit seinen Freunden Kiezdeutsch spricht, ist unabhängig davon, wie gut man z.B. das schulische Schriftdeutsch beherrscht. Als deutscher Dialekt baut Kiezdeutsch grammatische Möglichkeiten des Deutschen aus, nicht nur im Bereich der Wortstellung. Und es führt Entwicklungstendenzen des Deutschen weiter, wie z.B. der Gebrauch von mein oben zeigt: So, wie es schon lange nicht mehr dem Manne heißt, sondern dem Mann, sagt man heute in der gesprochenen Sprache auch nicht mehr meinem, sondern eher meim. Von meim zu mein ist es dann nur ein weiterer Schritt. Hier einige weitere Beispiele, die verdeutlichen, wie gut Kiezdeutsch in das System des Deutschen passt: „Lassma hier aussteigen!“

Lassma aus „lass uns mal“ kennzeichnet einen Vorschlag und wird hier ähnlich gebraucht wie das Wort bitte, das ebenfalls Aufforderungen anzeigt, z.B. „Bitte hier aussteigen!“. Auch bitte ist ja, ebenso wie lass, zunächst einmal eine Verbform („ich bitte dich“), wird in solchen Aufforderungen aber als fester, unveränderlicher Ausdruck gebraucht. „Das hat er gesagt. Ischwör!“ Ischwör bekräftigt hier eine Aussage. Entstanden ist es aus „ich schwör(e)“, ganz ähnlich wie generell im gesprochenen Deutschen z.B. die Wendung „glaub(e) ich“ oft zu glaubich verschmilzt und dann als fester Ausdruck gebraucht wird, der eine Aussage abschwächt, z.B. in „Das hat er glaubich gesagt.“ „Wir wollen noch Görlitzer Park gehen.“ Hier wird das bloße Nomen, „Görlitzer Park“, als Ortsangabe gebraucht, während man im Standarddeutschen außerdem noch Präposition und Artikel hätte, also „in den Görlitzer Park“.

Aber nicht immer: Bei Haltestellen ist es in der gesprochenen Sprache auch außerhalb von Kiezdeutsch üblich, nur das Nomen zu verwenden, z.B. „Sie müssen Zoo umsteigen.“ / „Wir sind jetzt Hauptbahnhof.“ Studierende eines meiner Seminare haben einmal Passant:innen testweise nach dem Weg gefragt und dabei genau solche Antworten bekommen. – Bloße Nomen wie „Zoo“ und „Hauptbahnhof“ waren dabei viel häufiger als Formen wie „am Zoo / zum Hauptbahnhof“. Kiezdeutsch baut auch die Funktionswörter des Deutschen aus, z.B. beim kleinen Wörtchen „so“: „Ich such so Make-up.“ oder „Zu Hause sprech ich mehr so deutsch so.“ so hat hier nicht seine herkömmliche Bedeutung, in der es auf wie antwortet („Wie suchst du das Make-up?“ – „So.“), sondern bekommt eine pragmatische Funktion: Es markiert die zentrale, wichtige Information im Satz („Make-up“, „deutsch“) und stellt damit etwas dar, das in der Sprachwissenschaft als „Fokusmarker“ bekannt ist. Diese Verwendung ist in Kiezdeutsch sehr profiliert, wir finden sie aber auch sonst im gesprochenen Deutschen. Beobachten Sie sich selbst einmal in Gesprächen!

Vermutlich finden Sie etliche interessante Fokusmarker-so’s. Ich habe bei mir bemerkt, dass ich das häufig sage. Hier ein Beispiel, das ich in einem Gesprächsbeitrag von Hellmuth Karasek in einem Mitschnitt des „Literarischen Quartetts“ gefunden habe: „Nein, nein, die regen sich nicht auf, sondern sie sagen: Oh, da ist eine Verschwörung im Gang und der wird mich ablösen und der wird meinen Posten einnehmen. Es sind so Scheinkämpfe in einer Scheinwelt.“ Und hier ein Transkript aus einem ganz anderen Kontext, eine TV-Gesprächsrunde, in der Thilo Sarrazin die verwandte Form „also“ als Fokusmarker gebraucht: „In einer Passage, wo ich darauf hinwies, dass die Integrationsunterschiede zwischen also den muslimischen Migranten und anderen Migranten rein kulturelle Ursachen haben, die nach meiner Ansicht im also muslimischen Religionsunterricht begründet sind, wurde ich von den „Welt“- Redakteuren wiederholt unterbrochen „aber die Genetik“.“

Solche Beispiele zeigen nicht, dass beispielsweise Thilo Sarrazin Kiezdeutsch beherrscht. Sie zeigen, dass das, was in Kiezdeutsch passiert, ganz normal für das Deutsche und deshalb auch in anderen Varianten unserer Sprache zu finden ist. Kiezdeutsch ist nicht exotisch, sondern ein typischer Teil des Deutschen, auch dort, wo es grammatisch vom Standard der Schriftsprache abweicht. Auch Besonderheiten in der Aussprache kennen wir aus allen Dialekten. Das „isch“, das für viele geradezu zum Kennzeichen von Kiezdeutsch geworden ist, gehört im Rheinland grundsätzlich zum lokalen Dialekt, und auch im Berliner nüscht finden wir diese lautliche Eigenheit. Dialekte tragen immer auch eigene Elemente zum Wortschatz bei, und Kiezdeutsch ist auch da keine Ausnahme. Das können neue jugendsprachliche Wörter sein, z.B. mies in der Bedeutung „gut“. Weil Kiezdeutsch viele mehrsprachige Sprecher hat, bringt es auch neue Fremdwörter ein, darunter – das wird die Anglizismen-Verächter unter uns besonders freuen – auch Wörter, die nicht aus dem Englischen stammen, z.B. aus dem Türkischen lan „Alter“ oder canim „mein Herz“, aus dem Arabischen abu „Ey!“ oder wallah „Echt!“

Diese Wörter werden im Dialekt eingedeutscht: Die Bedeutung verändert sich (lan heißt z.B. im Türkischen eher „Kerl“, abu heißt im Arabischen ursprünglich „Vater“), die Aussprache wird eingedeutscht (wallah wird z.B. ohne das schwierige arabische „h“ am Ende ausgesprochen), und ebenso die Schreibung (canim wird im Türkischen eigentlich canım geschrieben, ohne Punkt auf dem „ı“). Kiezdeutsch ist damit ein echter deutscher Dialekt. Und das ist auch nicht verwunderlich: Kiezdeutsch wird von Deutschen gesprochen – von Jugendlichen, die in Deutschland geboren und mit dem Deutschen aufgewachsen sind. Viele der Sprecher sprechen daneben noch andere Sprachen, aber längst nicht alle: Kiezdeutsch ist eine Ko-Produktion von einsprachigen und mehrsprachigen Sprecher:innen – eine integrative Jugendsprache aus multiethnischen Wohngebieten, die unsere Sprache um einen weiteren Dialekt bereichert. Mehr lesen…

Heike Wiese | Humboldt Universität zu Berlin

 

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