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Jüdischer Seelsorger und Musiker, Erich Lewin, überlebte bis 1945

4. September 2024

Der jüdische Prediger und Gefängnisseelsorger Erich Lewin und seine Frau Ella, geborene Zöllner sind aus der ostwestfälischen Hansestadt Herford im Alter von 52 Jahren mit dem ersten öffentlichen Zwangstransport im Dezember 1941 über Bielefeld ins lettische Riga deportiert worden. Das Todesdatum von Ella Lewin ist nicht bekannt. Erich Lewin wurde kurz vor Kriegsende in einem Konzentrationslager erschossen. Lewin war jüdischer Gefängnisseelsorger, Lehrer und Musiker. Ein jüdisch-liberaler Theologe und hervorragender Pianist.

Erich Lewin in der Mitte mit einigen Schülern. Foto: Herforder Kommunalarchiv, Gedenkstätte Zellentrakt aus Privatbesitz Thekla Schiff.

Über seine Frau ist wenig bekannt. In Berlin geboren und nach ihrer Heirat mit ihrem Mann in Ostpreußen lebend, kam sie 1935 nach Herford. Ihr Mann wurde Nachfolger von Prediger Goldmann. Ihr gemeinsamer Sohn Gerd war 1933 zwanzigjährig nach Frankreich geflohen. Die Eltern blieben im Reich. Was war das für eine Stadt, in die beide im Jahr 1935 kamen? Die Beerdigung seines Vorgängers Goldmann hatte hohe Wellen geschlagen. Der „Stürmer‘“ hetzte über eine Kleinstadt, in der ein evangelischer und katholischer Theologe wagten, ihrem jüdischen Amtskollegen das letzte Geleit zu geben.

Antijüdischer Terror ab 1933

Die Stadt selbst hatte in der Zeit zwischen 1933 und 1935 eine für die damalige Zeit extreme Fülle von Ausschreitungen erlebt, die alle auf das Konto des Herforder SA-Chefs Niebuhr gingen. Von September 1933 bis Juli 1934 überzog er die Stadt mit antijüdischem Terror, ließ sofort in allen Stadtteilen diffamierende Boykottaufschriften anbringen, konstruierte mehrere Fälle von Rassenschande, die sich hauptsächlich gegen jüdische Geschäftsleute und SPD-Politiker richteten, ließ einen Kaufmann als „Rasseschänder“ durch die Stadt führen, überfiel das Lichtwerk „Wittekind“ und ließ im April 1934 durch seine Männer die Synagoge erstmals in Brand setzen. Der Vorstand der jüdischen Gemeinde wehrte sich — protestieren durfte er zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr — und bat um die Entfernung der Schilder. Prediger Goldmann setzte sich ein, versuchte zu retten, erreichte auch die Freilassung eines der Diffamierten, war aber selbst zu diesem Zeitpunkt durch die Ereignisse schon ein physisch wie psychisch gebrochener Mann. Er starb im Januar 1935, vier Monate nachdem der SA-Chef seines Amtes enthoben und aus Herford versetzt worden war.

Betreute Menschen in seiner Umgebung

War von dieser Aufregung noch etwas zu spüren, als Erich Lewin mit seiner Frau in Herford eintraf? Hatte sich der christliche Teil Herfords wirklich über diesen Umgang mit ihren jüdischen Nachbarn und Mitmenschen aufgeregt? 1933 stellten sich noch etliche Verkäuferinnen des Kaufhauses „Wohlwert“ öffentlich hinter ihren der vermeintlichen Rassenschande verleumdeten Geschäftsführer. Hatte sich die Atmosphäre gewandelt? An die antisemitischen Ausschreitungen im Herford des ersten NS-Jahr gibt es kaum Erinnerungen. Erich Lewin machte durch keinerlei Schlagzeilen auf sich aufmerksam. Er war ein zurückhaltender Mensch, der seine immer schwerer werdende geistliche Betreuung der Gemeinde mit einer unerschütterlichen Ausstrahlung von Ruhe und Kraft versah. Nach dem zweiten Synagogenbrand in der Reichspogromnacht ging er in die Wohnungen seiner Gemeindemitglieder und traute dort z.B. das Ehepaar Sommer, geborene Grundmann. Er betreute die jüdischen Gefangenen im Ortsgefängnis Herford bis 1938. Er unterrichtete im Gemeindehaus die Jugendlichen, die aus den Schulen vertrieben, ausschließlich auf seine pädagogische Vermittlung angewiesen waren. Wie exzellent er dies tat, berichtet noch
heute Walter Heinemann, einer seiner damaligen Schüler.

Die neue Synagoge und jüdisches Gemeindezentrum gegenüber der Katholischen Kirchengemeinde St. Johannes Baptist in Herford.

Jüdischer Kulturbund

Bei den Recherchen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Herford wurden nur zwei persönliche Dokumente aus der Hand Erich Lewins gefunden. Es waren Einladungen zu zwei Veranstaltungen des „Jüdischen Kulturbundes“. Um die ab Frühjahr 1933 einsetzenden Vertreibungen jüdischer Künstlerinnen und Künstler aus den akademischen und kulturellen Einrichtungen des Reiches aufzufangen, gründete der damalige stellvertretende Intendant der Städtischen Oper Berlin, Hans Singer getragen von den Repräsentanten der großen jüdischen Organisationen, den „Deutsch-Jüdischen Kulturbund“, der sich später zwangsweise „Jüdischer Kulturbund“ nennen musste. Bis zu seiner Auflösung im Jahr 1938 erfasste der „Jüdische Kulturbund“ 1700 Künstler in 76 Kulturbünden in rund 100 deutschen Städten. Auch Herford gehörte zu den Städten mit einem eigenen Kulturbund. Die Spielfolgen für die Veranstaltungen mussten eingereicht und genehmigt werden. Es durften ausschließlich Theateraufführungen oder musikalische Veranstaltungen ernster Art durchgeführt werden, die von der Gestapo überwacht wurden. Die Unterschrift Erich Lewins findet sich auf zwei Einladungen zu Vortragsabenden klassischer Musik. Aus heutiger Sicht geriet die Selbsthilfe der Künstler zu einer von ihnen nicht intendierten Form bürokratischer Mithilfe bei der Verfolgung durch den NS-Staat und war gleichwohl ein Bund im Sinne des Alten Testamentes, inmitten der Verfolgung.

Überlebte bis kurz vor Kriegsende

Von dem Reichskulturverwalter Hans Hinkel, „zuständig für die Überwachung geistiger und kulturell tätiger Juden im deutschen Reichsgebiet“ ist bekannt, dass dieser Antisemit besonders die Nähe jüdischer Künstler suchte und sie vor allem dann genoss, als sie – ihrer Freiheit beraubt – zur Manövriermasse des Verwaltungsmordes geworden waren. Am 9. Dezember 1941 musste sich das Ehepaar Lewin zusammen mit 33 anderen Herfordern auf dem Marktplatz einfinden. Am Sabbat, dem 13. Dezember 1941, erfolgte von Bielefeld aus der Abtransport nach Riga. Wann seine Frau ermordet wurde, ist nicht bekannt. Erich Lewin überlebte bis 1945, kurz vor Kriegsende. Möglicherweise, weil er auch ein Künstler war. Weil auch der Kommandant seines Lagers eine Vorliebe für die Künstler unter den Juden hatte. Über die Rolle, die die Musik in Konzentrationslagern spielte, ist inzwischen einiges bekannt geworden. Musiker mussten mit Musik aller Art zum Weg in die Gaskammern aufspielen. Von dem Kommandanten des holländischen Durchgangslagers Westerbork ist bekannt, dass er eine Häftlingsbühne mit wöchentlichen Unterhaltungsprogrammen errichten ließ, dass er die als “Negermusik” verpönten Jazznummern genoss und dass sein Lieblingspianist — mit Auflösung des Lagers 1944 nach Auschwitz transportiert und dort vergast – Beethovens Neunte verjazzt spielen musste.

Erlaubnis zu musizieren

Im KZ Theresienstadt wurde zuerst heimlich musiziert. Die spätere Erlaubnis der Lagerleitung zu musizieren bedeutete nach der Auskunft der Schwester des Komponisten Gideon Klein, der 1941 nach Theresienstadt deportiert worden war, viel für die Menschen. „Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass Menschen einen solchen Drang in sich verspürten, sich durch Musik auszudrücken. Alle haben sich mit großer Leidenschaft der Musik ergeben“. Mithilfe des Komponisten Gideon Klein und seines Freundes, dem Dirigenten Rafael Schächter wurde das Requiem von Verdi drei Mal in Theresienstadt aufgeführt. Gideon Klein spielte alle Orchesterstimmen auf dem Klavier, Rafael Schächter dirigierte einen Laienchor. Eine unglaubliche musikalische Leistung. Dreimal wurde das Requiem aufgeführt mit einem jeweils neu zusammengestellten Chor, weil direkt nach der jeweiligen Aufführung ein Abtransport des Chores nach Auschwitz erfolgte. Beim dritten Mal mit Gideon Klein und dem Dirigenten Rafale Schächter. Die Liebe zur Musik errettete möglicherweise den Pianisten Erich Lewin vier Jahre lang vor dem Tod. Als er nach einem Auftritt vor dem Kommandanten im Frühjahr 1945 die Hoffnung äußerte, nach dem Krieg wieder einmal musizieren zu können, wurde er sofort hinausgeführt und erschossen.

Quelle: Zellentrakt im Herforder Rathaus | Jeder Name eine Geschichte. Ein Erinnerungsprojekt, S. 125-127 

 

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