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Jedes Jahr das Gleiche? Resonanzräume und Religion

10. Juni 2023

„Herzlich willkommen zur Bibelarbeit in St. Sebald am Samstagmorgen auf dem 38. Evangelischen Kirchentag in Nürnberg“, so beginnt Dr. Bischof Georg Bätzing seine Bibelarbeit. In dieser Kirche nehmen Menschen ihren Ort ein, den niemand sonst gleichzeitig innehaben kann. Raum mit den drei Dimensionen von Länge, Breite und Tiefe und dazu die vierte Dimension, die Zeit. Die Thematik der Bibelstelle ist in Lukas 17, 20-25 mit dem „Reich Gottes“ umrissen.

Raum und Zeit nehmen wir immer wieder ganz unterschiedlich wahr. Natürlicherweise ist uns wohl eher der Raum in der Wahrnehmung gegeben; bei der Zeit brauchen wir manchmal Hilfe, wieviel Uhr es denn eigentlich gerade ist, wieviel Zeit vergangen ist zwischen zwei Punkten des Erlebens. Die Physik kennt noch viele weitere Dimensionen, und mit der Relativitätstheorie wird es dann noch komplexer, denn „sie unterscheidet im Grunde nicht zwischen Raum und Zeitkoordinaten, wie es in ihr auch keinen wirklichen Unterschied zwischen zwei beliebigen Raumkoordinaten gibt“. Aber klar ist: Im Alltag prägt die Raumzeit unsere Wahrnehmung und unser Leben, sie ist gemeinsamer Orientierungsrahmen.

Kleines Häuschen auf der Insel Wangerooge.

Bereich Gottes: Wo ist es, wo ist es nicht?

Die Beziehung zu Christus verändert und schafft eine neue Realität, einen neuen Raum. Wie aber kann man das noch verstehbar machen? Der Soziologe Hartmut Rosa hat in den vergangenen Jahren mit seinen Theorien zur Beschleunigung, Entfremdung und Resonanz eine, so finde ich, treffende Zeitanalyse geliefert. Er beschreibt „eine beschleunigte Transformation der materiellen, sozialen und geistigen Welt. Diese Erfahrung der Beschleunigung der uns umgebenden Welt ist in Wahrheit ein ständiger Begleiter des modernen Menschen“. In vielen Bereichen erleben wir diese Beschleunigung – in der Arbeitswelt, Kommunikation, dem Kultur- und Freizeitbereich, Moden, Sport, Film, oder Transport. Durch technische Beschleunigung wie die Nutzung von Transportmitteln schrumpft die Zeit für die Überbrückung von zwei Orten.

Mit Hermann Lübbe beschreibt Rosa im Bereich des sozialen Wandels eine „Gegenwartsschrumpfung“. Als Vergangenheit wird verstanden, was nicht mehr gilt, als Zukunft, was noch nicht gilt, und als Gegenwart der Raum, in dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zusammenfallen. Und das betrifft ebenso das eigene Lebenstempo: „Die vielleicht dringlichste und erstaunlichste Facette der sozialen Beschleunigung ist die spektakuläre und epidemische ‚Zeitknappheit‘ moderner (westlicher) Gesellschaften.“ Es geht um den Eindruck, dass einem die Zeit wegläuft, man nie genug Zeit zu haben scheint und die Wahrnehmung, dass irgendwie mehr in weniger Zeit geschieht. Dabei, so Rosa, ist die Beschleunigung ein Ersatz für eine (religiöse) Verheißung eines ewigen Lebens. Ein gutes Leben ist dann ein Leben, das reich an Erfahrungen und an ausgeschöpften Möglichkeiten ist und braucht kein „höheres Leben“, keine Hoffnung auf Ewigkeit.

Die Haltung ist maßgebend

Zugleich jedoch liegt die Tragik des modernen Menschen darin, dass nicht alles, was die Welt bietet, in einer Lebenszeit erfahren werden kann. „Während sich Individuen nämlich einerseits als vollkommen frei wahrnehmen, fühlen sie sich andererseits um so stärker beherrscht von einer stetig zunehmenden Liste von sozialen Anforderungen.“ Dies äußert sich z.B. in einer „Rhetorik des Müssens“: Ich muss weiterarbeiten, ich muss mich mehr bewegen. Am Ende des Tages kann es so leicht zu Schuldgefühlen kommen, etwas nicht gemacht zu haben in der zur Verfügung stehenden Zeit; ein Gefühl, die Zeit nicht genutzt zu haben. Das Phänomen der Gegenwartsschrumpfung braucht Resonanzerfahrung und Räume hierfür, wo ein „In-Beziehung-Treten“ geschieht. Hartmut Rosa beschreibt das so: „Jedenfalls brauche ich zunächst eine bestimmte Haltung, und die Haltung garantiert mir noch nicht, dass es dann tatsächlich zu Resonanz kommt. Ich brauche dafür auch die entsprechenden sozialen und materialen Räume. Meine Behauptung ist, dass Religion tatsächlich über eben jene Räume verfügt, oder zumindest: dass sie im Kern darauf abzielt, solche Räume bereitzustellen.

Jedes Jahr das Gleiche?

Sie verfügt über die Elemente, die uns daran erinnern können, dass eine andere Weltbeziehung als die steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung zielende möglich ist. Angefangen beim Zeitkonzept, denken Sie nur an Lieder wie ‚Meine Zeit steht in deinen Händen‘ oder an das Kirchenjahr. Dazu hat mein Vater immer gesagt: ‚Es ist total langweilig, da passiert ja nix, jedes Jahr das Gleiche, seit 2000 Jahren.‘ Ich würde entgegnen: ‚Das ist genau der Punkt! Keine Innovation, keine Steigerung, kein Wachstum!‘ Das ist eine andere Konzeption von Zeit als unser Konzept von Zeit als ökonomischer Ressource, die wir da haben. Auch das Raumkonzept ist ein anderes: Wenn Sie in eine Kirche gehen, gibt es dort nichts, was Sie sozusagen verfügbar machen können, was Sie unter Kontrolle bringen oder dominieren können. Der Aggressionsmodus findet da gar kein Ziel. Gut, außer natürlich, Sie sind Kirchenhasser und würden gerne das Kreuz von der Wand reißen, das gibt’s natürlich auch. Aber Leute, die nicht in so einer Absicht dort hineingehen, die geraten in einen räumlichen Kontext, in dem die Aggressionshaltung für einen Moment verschwindet. Aber der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, dass das gesamte religiöse Denken, die ganze Tradition, die besten religiösen Deutungen auf die Idee und Vergegenwärtigung von Resonanzverhältnissen hin angelegt sind.“ Ja, Resonanz, wörtlich eine Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Systemen, das finde ich ein sehr passendes Bild für das Reich Gottes, das mitten unter uns ist.

Dr. Georg Bätzing | Gesamte Bibelarbeit

 

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