Aufbruch zum Spaziergang. © Grégoire Korganow, French Prison.
Wer die Bibelstelle über die Heilung des Aussätzigen (Mk 1,40–45) liest, ist garantiert der historischen Information begegnet über die Warnrufe, die von den Leprösen auszustoßen waren: „Unrein, unrein!“ Verbunden mit Geklapper oder sonstigem Lärm, mussten die Ausgesonderten auf ihre Infektiosität aufmerksam machen. Dem können Gedanken angefügt werden, wie diese Isolation durchbrochen wird, wie Jesus die Ausgrenzung und Abwertung aufhebt und Heilung sich ereignet.
„Unrein, unrein.“ So viele Menschen haben ein negatives Bild von sich selbst, weil ihnen immer wieder gesagt wurde, dass sie nicht richtig sind, so wie sie sind. Auch dieser Gedanke ist naheliegend,wenn wir uns mit dieser Perikope beschäftigen. Und jetzt, im Jahr eins der neuartigen Corona-Zeitrechnung? „Unrein, unrein“, ruft uns die Maske zu. Das Handeschütteln, die Umarmung, der Kuss sind schon lange den Nahbeziehungen vorbehalten, denn sie bedeuten erhöhte Ansteckungsgefahr. Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, FFP-2-Atemschutz, Ausgangssperre, Versammlungsverbot, Reiseverbot, Arbeitsverbot, Schulverbot, Besuchsverbot sind die Regeln, die das Sozialleben neu definieren.
Massive Nebenwirkungen
Mit verheerenden Folgen. Unendliches psychisches und physisches Leid ist die bittere Frucht der Anti-Corona-Maßnahmen. Depressionen, Essstörungen, häusliche Gewalt, Suizidversuche haben enorm zugenommen. Bildungs- und Entwicklungsdefizite von Kindern sind noch gar nicht abschätzbar. Der wirtschaftliche und soziale Schaden für Millionen von Familien und Alleinstehenden allein in unserem Land ist gigantisch. Kinder- und Jugendärztinnen, Therapeuten, Beratungsstellen und diverse Fachverbände versuchen, ihre Besorgnis vernehmbar zu artikulieren. Verschobene Operationen, nicht wahrgenommene Vorsorgeuntersuchungen, zögerliche Inanspruchnahme der medizinischen Notfallversorgung kosten jetzt schon tausende von Menschenleben. Existenzvernichtung und Wirtschaftskrise werden in Zukunft noch viel mehr Opfer fordern.
Reden wir nicht drumherum: es handelt sich um Opfer von staatlich angeordneten Zwangsmaßnahmen. Kein Thema für die Seelsorge? Doch, natürlich! Täglich haben wir in der Gefängnisseelsorge doch mit Gefangenen zu tun, die unter Besuchsbeschränkungen und Kontaktverboten leiden, die sich Sorgen um ihre Angehörigen draußen im Lockdown machen, die vollzugsöffnende Maßnahmen nicht in Anspruch nehmen können etc. Allerdings trifft uns im Gefängnis die Situation nicht annähernd mit der Wucht, die sie in dem Bereich entfaltet, den wir bisher „Freiheit“ nannten. Natürlich ist es schlimm, dass die soziale Isolation, die die Inhaftierung mit sich bringt, jetzt noch deutlich verschärft ist. Aber vielleicht rührt sie uns nicht so an, dass wir – wie der Jesus der Heilungsgeschichte – von Mitleid erfasst werden, ja von Zorn, wie viele Übersetzer ergänzen.
Unmenschliche Absonderungsmaßnahmen
Für mich persönlich stellt es sich tatsächlich so dar: meine Betroffenheit resultiert zum größten Teil aus privaten Erfahrungen und kritischer Recherche. Es sind ja nicht nur die Vielen, für die das Virus kaum eine Bedrohung darstellt, die mir leid tun. Auch diejenigen, die geschützt werden sollen, waren und sind zum Teil immer noch unmenschlichen Absonderungsmaßnahmen unterworfen. Würden all diese gequälten Seelen schreien – uns würde es in den Ohren klingen. Ich bin traurig und schockiert über all das sinnlose Leid, denn erkennbaren Nutzen für die Alten und Kranken hat der staatliche Zwang nicht gebracht. Stattdessen umso mehr Angst, Misstrauen und falsch verstandenen Gehorsam. Und einen irreparablen Schaden für die Demokratie und den gesellschaftlichen Diskurs. Wahrscheinlich auch für die Beziehungen und die Lebensperspektive einiger Insassen von Gefängnissen. So unnötig! Empörung ist noch ein zu schwaches Wort, um zu beschreiben, was ab und an in mir aufwallt. Aber es ist das, was mich weitermachen lässt. Gegen innere Resignation und Unterwerfung unter das vermeintlich Unvermeidbare. „Ich will: werde rein!“ Dieser Ruf Jesu gibt mir Kraft.
Wolfgang Wandzioch | JVK Fröndenberg, JVA Hamm
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Mit einem ökumenischen Gottesdienst in der evangelischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin wird am 18. April 2021 der Opfer der Corona-Pandemie gedacht. Im Anschluss an den Gottesdienst, zu dem auch die Vertreter der Verfassungsorgane eingeladen sind, findet ein staatlicher Gedenkakt statt. Der Gedenkgottesdienst wird mit VertreterInnen anderer Religionen gestaltet. „Unsere verwundete Gesellschaft sehnt sich nach Heilung“, sagte der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm. „Das aber setzt voraus, dass wir erst einmal Gelegenheit haben, auch gemeinsam zu trauern. Der Tod zehntausender Menschen während der Corona-Pandemie hat auf entsetzliche Weise Lücken gerissen in Familien, Freundschaften und in unserer Gesellschaft insgesamt.“ Große Verunsicherung gebe es bei Menschen, die nicht von einem Todesfall betroffen seien. „Wir haben erlebt, wie das Vertraute weggebrochen ist, wie verletzlich wir sind. Darum wollen wir unsere Not gemeinsam vor Gott bringen“, sagte Bedford-Strohm, „auch und gerade weil wir wissen, dass die Pandemie und ihre Folgen längst nicht überwunden sind“.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, betonte: „Es ist gut, dass wir in Kirchen und Staat der Opfer und Betroffenen der Pandemie gedenken. Das reiht sich gut in die vielfältigen Gedenkinitiativen ein, die es bereits gibt. Gerade den vielen Sterbenden können SeelsorgerInnen in den Krankenhäusern, Heimen und Gefängnissen nahe sein. Unsere Nähe im Gebet und unsere Verbundenheit wollen wir mit diesem Gottesdienst allen Menschen in unserem Land ausdrücken. Wir machen ganz in österlicher Hoffnung deutlich: Gott ist ein Freund des Lebens. Die Verstorbenen sind in ihm geborgen. Niemand ist vergessen!