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Mitgehen, auch wenn der Weg ins Dunkel führt?

5. Oktober 2019

Inhaftierte entwickeln, bedingt durch ihre Situation, im Laufe der Zeit eine sehr gute Menschenkenntnis und so haben sie bald gespürt oder auch praktisch ausprobiert, mit wem sie es zu tun haben. Gerade hier ist es von großer Wichtigkeit, sich selbst darüber im Klaren zu sein, wer man für die Inhaftierten sein möchte. Finden sie im Seelsorger einen „Kumpel gegen den Rest der Anstalt“, den „Pastor Gutmensch“, einen hilfreichen und verschwiegenen Gesprächspartner oder einen, den man „über den Tisch ziehen“ kann…? Mitgehen, auch wenn der Weg ins Dunkel führt?

Die Bedürfnisse von Inhaftierten sind ihrer Situation entsprechend und breit gestreut. Da ist zunächst ein sehr hohes Bedürfnis nach Verständnis für ihre Lage, nach Solidarität und Hilfestellung. Da sie sich permanent in Krisensituationen befinden, im Konflikt mit dem Bediensteten, dem Vollzugsabteilungsleiter, dem Anstaltsleiter, der Familie, dem Meister im Betrieb etc., kommen Sie vielfach mit der Bitte um Hilfe zum „Pastor“. Der soll dann vermitteln und ein gutes Wort einlegen. Untersuchungshäftlinge, welche in einer ganz besonders angespannten Lage und deren Kontaktmöglichkeiten äußerst eingeschränkt und der richterlichen Genehmigung unterworfen sind, bitten um Hilfe, dass hier ein Telefongespräch zustande kommt, da ein Brief übermittelt wird, dort ein Päckchen Tabak jemandem mitgenommen wird.

Michael Waterböhr und Elisabeth Biermann sind SeelsorgerIn in der JVA Bielefeld-Senne und Ummeln.

So wird der Seelsorger vielfach um Umgehung und Unterlaufen von gegebenen Richtlinien und Anforderungen gebeten wird. Es wird so deutlich, dass man unweigerlich in einen Dschungel von Interessenkonflikten hineingezogen wird und unterzugehen droht, wenn man selbst nicht klar hat, welche Rolle und Funktion man ausüben will. Auf wessen Seite stehe ich? Auf der Seite der Gefangenen? Auf der des Vollzugs? Nach welchen Kriterien entscheide ich, was zu tun und zu lassen ist? Für die Gefängnisseelsorge liegt der Schwerpunkt der Tätigkeit bei den Gefangenen. Dabei sollten die Probleme und Bedürfnisse der Bediensteten, sowie der Institution auch wahrgenommen werden. Durch den Kontakt mit den Bediensteten eröffnen sich viele Möglichkeiten sich für die Gefangenen einzusetzen. Hier ist ein hoher Grad an Menschenkenntnis, an Eigen- und Selbstständigkeit, an Fähigkeit, sich abzugrenzen gefordert, weil man sonst unweigerlich für fremde Interessen ausgenutzt wird, in „Teufelsküche“ kommt und an Ansehen bei den Inhaftierten und den Bediensteten verliert, was schließlich die Arbeitsmöglichkeiten beeinträchtigen wird.

Aus den Biographien der Inhaftierten wird meist schnell deutlich, dass sie als Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen hinnehmen mussten. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, bruchstückhafte oder gar keine Ausbildung haben sie gelehrt, diese Mängel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren. Dies Bedeutet, die Menschen, mit denen der Seelsorger zu tun hat, haben Erfahrungen gemacht und Kenntnisse erworben, die ihm selbst weithin fremd sein werden, so dass Kommunikations- und Verstehensschwierigkeiten auftreten müssen.

Die Differenz zwischen dem Binnenleben eines Gefängnisses und der Außenwelt wird als erstes in der Sprache deutlich. Ausdrücke wie die „Hütte“, „Bombe Tabak“, „Piste“ oder „Diszi“ z.B. müssen Neulinge sich erst entschlüsseln lassen. Es ist dies eine von vielen Arten der Inhaftierten, sich eine eigene Welt zu schaffen. Es ist dies ein Schutz gegen die Übermacht derer, die mit ihren Schlüsseln durch alle Türen kommen. Auch der Seelsorger gehört dazu. Ob man es lernt, seine Schlüssel richtig zu benutzen, muss sich erst erweisen. Hier ist ein Höchstmaß an Sensibilität und Empathiefähigkeit.

Der Schwerpunkt der seelsorgerlichen Arbeit liegt bei der Sorge um die Inhaftierten. Wenn auch das Vollzugspersonal außerhalb der Anstalt Möglichkeiten seelsorgerlicher Betreuung hat, so sollte die Seelsorge vor Ort nicht außer Acht gelassen werden. Im Umgang mit beiden wird der Seelsorger bald merken, wie beide Seiten durch ihr Leben und Arbeiten im Gefängnis aufgerieben werden, wie sehr auch viele der Bediensteten unter den vielen Interessens- und Zielkonflikten ihrer Arbeit leiden, also ständig unter Spannung stehen. Beide Seiten zu sehen, zu verstehen und mit ihren Problemen ernst zu nehmen, bedeutet eine tägliche Gratwanderung.

Bedienstete in der JVA Münster in Nordrhein-Westfalen.

Die Bediensteten wünschen sich angepasste, unproblematische Inhaftierte; der Rebellische soll ruhig gestellt werden, auch wenn gerade die dem Aufbegehrenden zugrunde liegende Vitalität eine gute Voraussetzung für ein späteres Zurechtkommen „Draußen“ ist. Der leistungsschwache Inhaftierte ist dem Leiter des Werkbetriebes ein Dorn im Auge, weil er die allgemeinen Betriebsergebnisse herabsenkt. Der Inhaftierte ist aber durch seine Situation – auch durch die veränderungsbedürftige finanzielle Lage – gar nicht motiviert. Auf der anderen Seite soll gerade der Leistungsschwache und -unwillige hier an regelmäßiges Arbeiten herangeführt werden, um so eine Grundlage für ein straffreies Leben zu führen.

Inhaftierte selbst beklagen sich vielfach über die ungleiche Behandlung. Der Behandlungsauftrag des Gesetzgebers ist aber ohne das ganz besondere Eingehen auf die individuelle Lage des einzelnen Inhaftierten nicht möglich. Solche Interessenkonflikte durchziehen wie ein roter Faden den Vollzugsalltag und wollen gelöst werden. Mitten in dieser Spannung befindet sich der Seelsorger oft zwischen den Stühlen. Hier zeigt sich, dass ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Standfestigkeit, Rollenklarheit, Verständigungsbereitschaft, Konfliktfähigkeit und Gesprächsführungskunst gefordert sind, um der Aufgabe gerecht zu werden. Ein Gefängnis ist eine totale Institution. Das bedeutet, dass alle Tätigkeiten und Lebensäußerungen und alle Personen, die mit ihr in Kontakt kommen, von ihren Regeln, Gesetzen und Zielen beeinflusst werden und sie sind ihren Widersprüchlichkeiten unterworfen. Das Mitgehen mit dem konkreten Menschen als ein Gegenüber, das klare Rückmeldungen gibt, ist eine Herausforderung.

Aus: Seelsorge im Gefängnis. Norddeutsche Konferenz

 

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