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Im Grunde philosophieren Menschen an jedem Ort

12. April 2021

In den Justizvollzugsanstalten treffen sich die Seelsorger – auch während der Pandemie – zu Gesprächen mit Gefangenen und mit dem Anstaltspersonal. Es sind persönliche Gespräche, die nicht nur einen seelsorgerlichen, sondern ebenso einen „sokratischen“ Charakter haben. Die sogenannten sokratischen Gespräche – ein philosophischer Dialog unter Menschen – sind wertvoll und helfen elementare Fragen im Zwiegespräch zu klären. Themen wie der Lockdown, Maskenpflicht, Impfungen und das Familienleben in Corona-Zeiten sorgen für Auseinandersetzungen. Über die Dynamik freien Philosophierens innerhalb des Knastalltags sinniert Diakon Dr. Meins Coetsier von der JVA Hünfeld und Fulda.

Die Menschen innerhalb einer Justizvollzugsanstalt denken – wie draußen ebenso – über vieles nach. Häufig geht es dabei um wesentliche Fragen, die die Gefängnissituation übersteigen. Was ist das Gute? Was ist Gerechtigkeit? Was sind Gesetze? Was ist Wahrheit? Was ist der Sinn des Lebens? Ein immer wiederkehrendes Thema im Strafvollzug ist vor allem das spezielle Spannungsverhältnis zwischen der Zeit im Gefängnis und dem Leben, das außerhalb der Mauern weitergeht. Die Dialoge bieten nicht immer eine Lösung von Knastproblemen, aber sie bringen seelsorgerliche Ermutigung und Trost. Der Gefängnisalltag mit all seinen Abläufen, Erfahrungen, Entscheidungen und Gesetzen ist vielfältig. Bestenfalls führen Gespräche dazu, dass die Menschen Alternativen für ihr Leben entdecken.

Sokratischer Dialog im Knast

Der moderne Mensch und so auch manch ein Gefangener, hält seine Gedanken durchaus für richtig, „aber der HERR“, so spricht die Bibel, „prüft seine Beweggründe… Der Mensch wirft das Los, um Gott zu befragen; und der HERR allein bestimmt die Antwort“ (Sprüche 16, 1-2,33). Der niederländische Philosoph und Theologe Meins Coetsier erläutert: „Da ist nichts, was der Mensch gedacht hat, das Gott – der Vater – auch im Gefängnis nicht mitgedacht hat. Gott ist der Geist, in dem jeder kleine menschliche Geist seinen Ursprung findet. Deswegen steht „Gott“ zu Beginn von dem, was wir seit Jahrtausenden Philosophie nennen. Gleichzeitig übersteigt sein ewiger heiliger Geist, seine Liebe und Weisheit den Weg ihrer Denkwelt und Geschichte.“ Das Wort „Philosophie“ ist griechischen Ursprungs und bedeutet so viel wie Liebe zur Weisheit. Als Seelsorger im Gefängnis ist Coetsier selbst ein Suchender mit einer großen Liebe für die Weisheit und den innerlichen Denkprozessen. Ein sokratischer Dialog verwickelt die Menschen in Gespräche und zeigt jedem, wie wenig Menschen über sich selbst, über die Mitmenschen und über die Welt wissen. Die andauernde Corona-Tragödie zeigt, dass sokratische Gespräche und der Austausch wichtig sind. Zu schnell besteht die Gefahr unkritisch die Meinung von Politik und Medien zu übernehmen.

„Die Schule von Athen“ (La scuola di Atene) mit Platon und Aristoteles im Gespräch. Fresko des Malers Raffael. Von 1510 bis 1511 in der Stanza della Segnatura des Vatikans für Papst Julius II. angefertigt.

Detektive im Urgeschehen

Schon vor Platon und Aristoteles stellten Menschen die Frage nach dem Antrieb und der Unruhe, die in Menschen lebt oder leben will. „Wir sind lebendige Wesen aus Körper, Seele und Geist. Wir staunen und glauben, wir fragen und möchten im Herzen Aufklärung finden. Wir sind Detektive im Urgeschehen. Wir suchen und möchten entdecken und klopfen an die Tür unseres Schicksals (Mt 7,7)“, betont Coetsier. Ist das Suchen nicht Ursprung der Philosophie? Aristoteles hat diesen Prozess durchschaut, wenn er beschreibt, wie der Mensch, um der Unwissenheit zu entkommen, zu philosophieren anfängt. Interessanterweise merken die Menschen nicht, dass sie, sobald sie miteinander in einen Dialog treten, sei es in einer Kneipe, in der Kirche, auf der Straße, Zuhause oder im Gefängnis, im Grunde schon philosophieren.

Jeder Mensch kennt das Gefühl an einen Punkt zu kommen, an dem man ausgebremst wird, an dem man sich neu orientieren muss oder vor einem Loch steht. Grübeln und Zweifel überfällt einen: Wie geht es weiter? Warum musste dies oder jenes so sein oder passieren? Werde ich diesmal die Kurve kriegen? Gibt es einen Halt in meinem Leben? „Die Frage nach dem Grund taucht in einem auf“, beobachtet Coetsier. „Gefangene fragen sich manchmal, ob da überhaupt noch etwas in ihrem Leben ist. Als Seelsorger frage ich: Für was willst Du leben? Sind alle freie Menschen oder bleibt man Gefangene in den Lebensvorstellungen?“, philosphiert der erfahrene Theologe.

Suche nach Sinn

Wenn der Zweifel erwacht ist, kann sich ein spiritueller Weg öffnen. Eine Kraft, ein Anstoß zum Weiterdenken, Weiterfühlen und philosophieren. Selbst hinter Gittern. Überlieferte Werte und Traditionen, ob religiös oder kulturell oder durch die Familie geprägt, werden dem Zweifel und der lebendigen Suche unterworfen. „Anfragen und Klagen dürfen sein“, betont Diakon Coetsier, „ja, sie sind sogar aus biblischer Perspektive notwendig. Als Mensch in dieser Welt lebt man im Bewusstsein zu dem, was mich mit meinen Sehnsüchten, Hoffnungen und Schmerzen prägt.“ Ein Ursprung der Philosophie im Leben kann darin entdeckt werden, dass das Leben fragwürdig und endlich ist. Besonders in der körperlichen Zerbrechlichkeit und den persönlichen Grenzen. Das Gefängnis macht diese Lebenswahrheit ganz deutlich. Der Theologe philosophiert: „Jeder in der Corona Pandemie wird zum Nachdenken gedrängt. Ich kann versuchen bei mir selbst anzufangen und über mich selbst zu reflektieren. Was ist in meinem Leben wesentlich? Wer bin ich? Ich fühle und denke in aller Freiheit. Gott wird es lenken!“ führt der mit niederländischem Akzent sprechende Gefängnisseelsorger nachdenklich aus.

 

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