Der Begriff „Homosexualität“ wurde 1869 durch Karl Maria Kertbeny (vor 1847: Karl Maria Benkert) geprägt. Für diesen Begriff – ebenso wie für „Sexualität“, „sexuelle Orientierung“, „sexuelle Identität“ oder andere Termini aus diesem Wortfeld – gab es davor in keiner Sprache Äquivalente. Eine direkte Anwendung des Begriffs Homosexualität auf Texte der Bibel ist insofern ein Anachronismus. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass das humanwissenschaftliche Wissen über dieses Thema (bzw. die Frage der sexuellen Orientierung des Menschen) in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen erfahren hat.
Nach heutigem Stand ist Homosexualität eine Normvariante menschlichen Verhaltens im sexuellen wie im partnerschaftlichen Bereich. Die gleichgeschlechtliche sexuelle Ausrichtung wird im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung vom Individuum entdeckt und bedarf wie jede andere sexuelle Ausrichtung auch der Integration in ein stimmiges Lebenskonzept. Zur Homosexualität im heutigen Verständnis gehören somit – wie bei Heterosexualität auch – Fragen der Partnerschaft, der Verantwortung für die/den Andere/n und für die Gemeinschaft (Familie, Gruppe, Gesellschaft), der Verlässlichkeit, der Emotionalität, der Rücksichtnahme und vieles mehr. Wird dagegen der Begriff „Homosexualität“ auf den bloßen gleichgeschlechtlichen Akt unter Männern reduziert, wird das Wort bewusst in Anführungszeichen gesetzt und sollte eigentlich nicht verwendet werden, vielmehr sollte man von genitalem Analverkehr unter Männern sprechen. Für diesen bzw. für dessen Verbot kann es viele Gründe geben.
Neues Testament
Homosexualität wird im Neuen Testament nicht eigens zum Thema gemacht. Nur an drei knappen Stellen finden sich Aussagen, die üblicherweise mit gleichgeschlechtlichen Sexualpraktiken in Verbindung gebracht werden. Dies sind Röm 1,26f; 1Kor 6,9 und (davon abhängig) 1Tim 1,10. Der Umstand, dass sich die neutestamentliche Wissenschaft in den vergangenen ca. 25 Jahren so intensiv mit Homosexualität befasst hat, kann kaum mit den neutestamentlichen Texten selbst erklärt werden. Nicht die Aussagenwelt des Neuen Testaments gibt die Beschäftigung mit Homosexualität vor, sondern ein in der (Post-)Moderne geführter Diskurs um Vielfalt und Ausgestaltung zwischenmenschlicher Lebensformen. Innerhalb der theologischen und kirchenpolitischen Diskussion zu Einordnung, Legitimierung oder Ablehnung von Beziehungen, welche sich von heteronormalen Vorgaben unterscheiden, soll das Neue Testament einen Beitrag leisten. Mehr lesen…
Stefan Scholz
Altes Testament
Homosexualität im heutigen Verständnis ist in der Hebräischen Bibel als Dokument aus der Antike kein explizites Konzept. Die biblische und außerbiblische Quellenlage erlaubt kaum Rückschlüsse auf das Phänomen gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens im alten Israel. Gleichgeschlechtlicher Analverkehr unter Männern wird nur an zwei Stellen im gleichen Kontext des Buches Levitikus, näherhin des → Heiligkeitsgesetzes, angesprochen. Die Vorschriften in Levitikus 18 und Levitikus 20 behandeln kein umfassendes Konzept der sexuellen Orientierung von Menschen und reflektieren keine Sexualmoral. Vielmehr ächten sie unter bestimmten geschichtlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen einzelne Akte. Teilweise werden sie mit Sanktionen versehen, deren Durchführbarkeit möglicherweise bewusst im Dunkeln bleibt. Nähere Begründungen werden nicht explizit gegeben, sind aber aus der Anordnung der Bestimmungen und damit aus dem Kontext zu erschließen. […] Da das Alte Testament das moderne Konzept von Homosexualität nicht kennt, kann man nicht sagen, dass es Homosexualität verurteile. Für die gesamte Antike gilt, dass das heutige differenzierte Konzept von Homosexualität als vieldimensionales Phänomen und integrierter Bestandteil einer Persönlichkeit so nicht bekannt war und das Thema bei Weitem nicht den Stellenwert hatte, den es in der heutigen Kultur hat. Mehr lesen…
Thomas Hieke
Die Artikel sind im wissenschaftlichen Bibellexikon WiBiLex publiziert