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Ein Heftpflaster für den zerbrechlichen Gott

17. Januar 2020

Mit dem Gedenken an den Tod Jesu verbinden sich an Karfreitag viele Symbole – von Kreuz und Dornenkrone über schweigende Glocken bis hin zum Verzicht auf Fleisch. Dieser Gott kennt sich aus mit Verletzungen, er ist vertraut mit Wunden und er weiß wie man sie heilt. Der Autor Jens Ehebrecht-Zumsande aus Hamburg hat ein eher ungewöhnliches Karfreitagssymbol bei der Kreuzwegandacht entdeckt: Ein etwa sechs Jahre altes Mädchen, nimmt ein Pflaster, zieht in aller Ruhe die Klebestreifen ab und klebt es auf die Jesusfigur am Tragekreuz.

Doch zur Vorgeschichte: Es ist Karfreitag, morgens 11 Uhr. In der Kirche haben sich viele Familien zu einer Kreuzwegandacht versammelt. In fast jeder katholischen Kirche hängen diese vierzehn Kreuzwegbilder, sogenannte Stationen. Sie zeigen den Weg Jesu von der Verurteilung durch Pilatus, bis hin zum Tod am Kreuz und der Grablegung. Mit den Kindern und ihren Eltern ziehen wir betend und singend in einer Prozession von einer Kreuzwegstation zur nächsten. Die Kinder tragen dabei abwechselnd ein größeres Holzkreuz mit einer Jesusfigur voran. Weil jede und jeder mal drankommen möchte, wird es ein bisschen wuselig zwischen den Kirchenbänken. Ein ganz wohltuender Kontrast zu dem nicht einfachen Thema.

Im Kindergottesdienstteam haben wir uns zu den einzelnen Stationen Verschiedenes überlegt: Steine symbolisieren die Last des Kreuzes und wandern nach einer kurzen Meditation in die Hosentaschen. An der nächsten Station können die Kinder kleine Tränen aus Papier mit ihren Gedanken beschriften und in einem Krug sammeln. Ein paar Bilder weiter regt uns ein Rollenspiel an, das Geschehen aus Sicht der Mutter Maria und der Freunde Jesu wahrzunehmen. Immer wieder gibt es einen kurzen Gedankenanstoß mit einem Bezug zu unserem Leben. Das tut gut. Von Station zu Station begleitet uns ein Lied. Manchmal löst es auch einen Kloß im Hals: „Seht das Zeichen, seht das Kreuz. Es bedeutet Leben…“

Wir stehen an einer der letzten Stationen mit dem Bild des verwundeten Jesus. Kraftlos ist er  unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen. Davor stehen ein geöffneter Verbandskasten und ein Korb voller Pflaster. Wir denken an eigene Verletzungen und richten den Blick wieder auf den geschundenen Jesus. Dieser Gott kennt sich wirklich aus mit Verletzungen, er ist vertraut mit Wunden und er weiß wie man sie heilt. Als Erinnerung sollen wir ein Pflaster mitnehmen. Wir stimmen das Lied an und wollen weiterziehen zur nächsten Station.

Doch die drei Kinder, die das Kreuz vorantragen sollen, bleiben stehen. Ein etwa sechs Jahre altes Mädchen, nimmt ihr Pflaster, zieht in aller Ruhe die Klebestreifen ab und klebt es auf die Jesusfigur am Tragekreuz. Dann streichelt sie noch sanft die Jesusfigur. Wo vorher die Seitenwunde klaffte, klebt nun das Pflaster. Das war nicht angeleitet und auch nicht geplant. Für einen Moment halten wir Erwachsenen sprachlos inne, leicht irritiert und doch vor allem berührt durch diese Geste. Sie steckt uns an. Nach und nach tun alle es dem Mädchen gleich. Die Jesusfigur ist schließlich über und über bedeckt mit unseren Pflastern. Die mächtigen Bilder und Worte von Qual und Sterben, werden nun überwältigt durch Zärtlichkeit und Mitgefühl. Es braucht keine weiteren deutenden Worte. Wir gehen schweigend zur nächsten Station und erst dort singen wir: „Seht das Zeichen, seht das Kreuz. Es bedeutet Leben…“

Am Nachmittag bin ich wieder in der Kirche zur Karfreitagsliturgie. Vorne im Altarraum lehnt unser Pflasterkreuz vom Vormittag an der Wand. Als der Choral erklingt „O Haupt voll Blut und Wunden…“, fällt mein Blick auf den Pflasterjesus. Ich muss an das Mädchen denken, erst recht, als wir die fünfte Strophe singen:

Diese alten Worte sind mir sonst so fremd und viel zu groß. In diesem Moment bekommen sie für mich eine wirkliche Bedeutung und ergeben einen Sinn. Ich habe große Karfreitags-Fragen: „Warum lässt Gott überhaupt zu, dass Jesus auf diese grausame Weise stirbt?“, „Wenn Gott so allmächtig ist, hätte er seine Geschichte mit Jesus nicht auch anders zu Ende bringen können?“, „Was ist das eigentlich für ein Gott, der so radikal scheitert und einfach stirbt?“ Ich habe darauf keine endgültigen Antworten. Doch heute rücken die Fragen ein kleines Stück weiter in den Hintergrund. Auf ihre Weise hat das Mädchen mir eine wunderbare Karfreitagsdeutung geschenkt.

Seltsamerweise fällt mir dazu ausgerechnet Weihnachten ein. Ich denke an Jesus in der Krippe. Gott kommt als kleines und ziemlich wehrloses Baby in die Welt. Beim Anblick eines Neugeborenen kann ein halbwegs gesunder und vernünftiger Mensch gar nicht anders, als Glück und Liebe zu empfinden. Und wie jeder Säugling, ist auch das Baby Jesus angewiesen auf Menschen, die ihm Fürsorge und Zuwendung schenken. Nun am Karfreitag ist dieser Jesus in einer ähnlichen Situation: er ist abhängig und bedürftig der Unterstützung und der Liebe anderer. Am Anfang und am Ende des Lebens Jesu entdecke ich in ihm einen Gott, der gar nicht so allmächtig und stark daherkommt, sondern begrenzt und bedürftig ist.

Vielleicht ist das Gottes Idee uns Menschen damit nicht nur etwas von ihm selbst zu offenbaren, sondern uns vor allem etwas über uns selbst zu lehren? In dem Menschen Jesus zeigt Gott sich zerbrechlich und verwundbar. Er lässt uns Menschen sein Bedürfnis nach ganz elementarer, menschlicher Zuwendung spüren – als Säugling und als Sterbender. Ich ahne: Gott hat eine Schwäche für uns. Er glaubt an uns Menschen und an unsere Fähigkeit zu lieben und echtes Mitgefühl zu empfinden. Gott kennt unser Potential die Not anderer wirklich zu sehen und die Wunden anderer zu verbinden. Er mutet und traut er uns zu, solidarische und liebende Wesen zu sein. Denn Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig (2. Korinther 12,9).

Jens Ehebrecht-Zumsande
Aus: Magazin zum Kirchenjahr, Heft 1/2020, Andere Zeiten Hamburg

 

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