Gefängnis und Glücksfall? Ein Schaufenster mit Gitterfenster im Spiegelbild in der Stadt Meißen.
Die Evangelische Akademie „Klosterhof St. Afra” zeigt sich in der ersten Septemberwoche 2023 von seiner schönsten Seite. Mit dazu trägt bei, dass die Sonne den Meißner Dom sowie die Stadt in ein schönes Licht eintaucht. Hier treffen sich 11 GefängnisseelsorgerInnen aus dem Bundesgebiet, die im Jugendvollzug arbeiten. Sie setzen sich mit einem Thema auseinander, das die Gesellschaft zunehmend zu spalten droht und sich im Vollzugsalltag auswirkt.
“Immer mehr Menschen sagen sich los von Grundüberzeugungen unserer Gesellschaft. Weder die demokratische Ordnung noch das Gemeinwohl gehören zu den Selbstverständlichkeiten, die von allen geteilt werden. In den aktuellen Umfragen erzielt die Partei AfD hohe Zustimmungswerte und stellt bereits einen ersten thüringischen Landrat. Was führt dazu, dass Partialinteressen höher gewichtet werden als der gesellschaftliche Konsens? Was bedeutet das für den Umgang miteinander und mit Minderheiten?”, so schreibt der Vorsitzende Eckhard Jung von der JVA Wiesbaden und Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Jugendvollzug in der Einladung zu diesem Treffen. Im Strafvollzug kommen verschiedene Weltanschauungen und Kulturen zusammen. Der Ort der Inhaftierung ist ein Brennglas sozialer Probleme. So manche Stammtischparole wird getätigt von jungen Menschen, die unterschiedliche Prägungen mitbringen. Als GefängnisseelsorgerIn begegnet man bei Bediensteten wie Gefangenen manches Mal menschenverachtende Meinungen und Haltungen, die oft schwer zu ertragen sind. Was hat die Gefängnisseelsorge dem enzgegenzusetzen? In den neuen Ländern gibt es bereits eine Erfahrungsexpertise, die sich nach der Wende 1989 entwickelt hat.
Sehnsucht nach “Sicherheit”?
Dr. Alexander Leistner (Jahrgang 1979) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Dort verantwortet er die beiden Teilprojekte des BMBF-Forschungsverbundes “Das umstrittene Erbe von 1989”. Welche alltagsweltlichen Demokratievorstellungen werden aus den DDR- und ’89-Erfahrungen abgeleitet und welche Bedeutung haben diese für die Deutungen derzeitiger politischer Verhältnisse? Anschaulich gibt Leistner mit dem Titel “Ein Hauch von Wendestimmung” einen Überblick der Geschichte ab 1989 bis heute.
Er spricht die “Politik der Straße” an, die die charismatischen Ereignissen der Wendezeit bis hin zu den Popularisierungen bei PEGIDA oder den Querdenkern in den Blick nehmen. Ein gemeinsames Feindbild in “schwarz-weiß” zu haben, erscheint manchen Menschen in Krisenzeiten leichter, als die “Graustufen” anzusehen. Es lässt sich nicht mehr so leicht erkennen, wie eine Gruppierung oder Initiative gestrickt ist und was sie fordern. Die Kleinstpartei „Freie Sachsen“ warb beispielsweise anfangs mit scharfen Positionen gegen Corona-Maßnahmen für sich. Doch die Agenda der Organisation ist klar rechtsextrem ausgerichtet.
Wahrnehmungen ernst nehmen
Eine Gefängnisseelsorgerin erzählt, wie sie damit umgehen soll, wenn ein Kollege mit seiner AfD-Tasse im Dienstzimmer sitzt und ein Lob auf die umstrittene und klar rechtsgerichtete Partei ausspricht? Wichtig ist, welche klare Vorstellung jede/r Einzelne persönlich hat. Man neigt dazu, sich bspw. grundsätzlich für Menschenrechte auszusprechen, ohne die argumentativen Grundlagen, auch die Kritik an den Konzepten zu kennen. Das macht angreifbar. Welches Weltbild steht dahinter oder sind es diffuse Ängste? Die Wahrnehmungen und Argumentationen sollen ernst genommen werden, um einen kommunikativen Zugang zu öffnen. Dazu gehört auch, Gemeinsamkeiten auszuloten. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Was ist der Islam? Gehören Muslime nicht zu Deutschland? Gehören im Gegenzug ChristInnen zu Deutschland? Was ist mit fundamentalistischen christlichen Gemeinschaften, die eine klare Rollenzuweisung der Geschlechter biblisch begründen und die sich offen homophob zeigen?
Lösung schon im Problem enthalten
All diese Auseinandersetzungen sind immer wieder situationsbedingt und können nicht abschließend gelöst werden. Ralf Winkler, Coach und Berater aus Jena, führt die Gruppe zu einer anderen Sicht. Er arbeitet nach dem “Leben-Integrations-Prozess (LIP) nach Wilfried Nelles. Er sagt:” Wenn wir anhaltende Konflikte, Krisen und Symptome verstehen und entspannen wollen, lohnt es sich, die Herausforderungen als Spiegel oder Resonanz bewusst wahrzunehmen. Bleiben wir allerdings im Glauben stecken, dass wir es irgendwie loswerden oder kontrollieren könnten, verlieren wir langfristig wertvolle Energie”, sagt er. Anhand der Entwicklungsstufen des Menschen zeigt er auf, wie diese helfen können, seelische Auslöser für die belastend erlebte Resonanz im eigenen Leben zu sehen und annehmen zu können. In den sogenannten “Aufstellungen” erarbeitet er mit den Teilnehmenden Situationen und Ereignisse, die als belastet erfahren wurden. “Die Lösung ist schon im Problem enthalten. Wahres Selbstvertrauen und Präsenz im Hier und Jetzt sind die Stichworte”, erläutert Winkler.
Erkennen und umgehen lernen
Ob solch ein Prozess gesamtgesellschaftlich gegangen werden kann? “Die Angst ist ein schlechter Berater”, sagt ein anderer Gefängnisseelsorger. “Polarisierungen wird es immer geben. Sie gehören aber zusammen, um ein Gesamtbild zu bekommen”, sagt Winkler. “Das heißt nicht, dass man alles mit sich machen lässt”, führt er aus. Spaltende Tendenzen gibt es im Jugendvollzug zuhauf. Es gilt sie zu erkennen, um damit umgehen zu lernen. Ob man Problematiken als “Glücksfall” bezeichnen kann? Nach dem Motto „Hurra, ein Problem“? Im Sinne dessen, dass jede/r Einzelne sowie die Gesellschaft reifen und wachsen kann, könnte dieser Ausspruch eines Gefängnisseelsorger stimmen. Es sind oft Erfahrungen aus frühen Kindheits- und Jugendzeiten, die im späteren Leben in Krisenzeiten anscheinend wieder greifen. Winkler macht Mut, dies zu erkennen und zu sagen: “Du bist zu dem geworden, der Du geworden bist. Flüchte Dich nicht in existenzielle Erfahrungen früherer Zeit”, sagt er. Es sei eine Strategie, die zutiefst menschlich sei, die aber mit anderen Blickwinkeln zu einer anderen, veränderten Haltung führen kann.
Kriege führen ins Leere
Der Gang in die Geschichte zeigt, dass Ausgrenzung und das Kleinmachen von Menschen immer wieder zu Kriegen geführt hat. Im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, informieren sich einige der GefängnisseelsorgerInnen über umstrittene militärische Geschichte bis hin zur Gegenwart des Ukrainekrieges. Die Schattenseiten des Krieges, das Leid und die Vernichtung, rechtfertigen keine gewalttätige Aktion. „Das ist mir zu viel Krieg, es ist erdrückend. Der Mensch hat nichts dazu gelernt“, sagt eine der Teilnehmerinnen im Museum. Ist die Frage was es braucht, damit sich Menschen ihre Weltanschauung nicht gegenseitig aufdrücken „Das Hausmuseum der Bundeswehr beinhaltet kaum Friedensappelle“, fügt ein anderer hinzu. Aber: „Die Fotografien von Personen aus Afghanistan sind sehr gut und machen betroffen“, meint ein Besucher am Ausgang. Der Mensch dahinter ist wichtig. Das könnte ein Fazit dieser Gefängnisseelsorge-Tagung sein.
Michael King
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Das Landeskabinett Nordrhein-Westfalen hat sich für eine Änderung des Strafgesetzbuches ausgesprochen. Dabei geht es konkret um einen neuen § 341 im Strafgesetzbuch und einen neuen § 48 im Wehrstrafgesetz. Der Austausch rassistischer, antisemitischer oder fremdenfeindlicher Inhalte soll für Amtsträgerinnen und Amtsträger demnach auch in sogenannten geschlossenen Chatgruppen strafbar werden. Denn die Kommunikation solcher Inhalte unter Beamtinnen und Beamten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst ist keine bloße Meinungsäußerung mehr unter Kolleginnen und Kollegen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen wird eine entsprechende Initiative Ende September in den Bundesrat einbringen.
Innenminister Herbert Reul: „Null-Toleranz gilt auch nach innen. Wenn Amtsträgerinnen und Amtsträger querschlagen, müssen wir auch in der Lage sein durchzugreifen. Also helfen wir auf Bundesebene nach und holen uns die legale Eintrittskarte in geschlossene Chatgruppen. Das dürfen keine Privatpartys mehr bleiben, auf denen sich wie selbstverständlich extremistische oder kriminelle Schmuddelbildchen zugeschickt werden, ohne dass das auch strafrechtliche Konsequenzen hat.“
Minister der Justiz Dr. Benjamin Limbach: „Das große Vertrauen der Bevölkerung in unseren demokratischen Rechtsstaat beruht auch auf der Integrität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. Es ist mir wichtig, dass wir jetzt früh einen strafrechtlichen Riegel davor setzen, wenn einzelne meinen, rassistische, antisemitische oder fremdenfeindliche Ideologien im Zusammenhang mit ihrer dienstlichen Tätigkeit austauschen zu können.”
In den vergangenen Jahren sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen volksverhetzende, insbesondere rechtsextremistische Inhalte in sogenannten „geschlossenen Chatgruppen“ geteilt wurden. Teilnehmer dieser Chat-Gruppen waren auch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, Justizvollzugsbedienstete oder Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Die gegen sie eingeleiteten Ermittlungsverfahren mussten regelmäßig eingestellt werden, weil nach den derzeit geltenden Strafvorschriften solche Äußerungen erst dann strafbar sind, wenn ein größerer, nicht mehr kontrollierbarer Personenkreis angesprochen wird. Das ist bei geschlossenen Chatgruppen regelmäßig nicht der Fall.