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Grenzerfahrungen: Am Rand der Verzweiflung

7. März 2021

Wenn ich auf meinen Lebensweg zurückschaue, habe ich das Gefühl, dass ich beschützt worden bin. Als ob eine unsichtbare Kraft ihre Hand über mich gehalten hätte. Mit anderthalb Jahren wäre ich schon fast an einer Lungenentzündung gestorben. Der Arzt hatte mich schon aufgegeben und mein Vater wurde von der Arbeit heimgerufen. Aber irgendwie habe ich dann doch überlebt! Ein paar Mal wäre ich mit dem Auto fast auf der Strecke geblieben. 1972 flog ich mit meinem VW-Käfer aus der Kurve, überschlug mich mehrere Male und landete im Rübenfeld. Die Fahrer hinter mir trauten ihren Augen nicht, als sie mich völlig unverletzt aus der Schrottkiste aussteigen sahen.

Ein anderes Mal habe ich auf der Autobahn bei Karlsruhe einen folgenschweren Unfall verursacht. Einen Haufen Blechschaden. Aber kein Mensch wurde verletzt. Ich hatte keine Schramme. Ich muss wohl ein ganzes Heer von Schutzengeln gehabt haben, dass mir nichts zugestoßen ist. Der Unfall geschah, als ich zurück von der Beerdigung eines Gefangenen in Freiburg fuhr. Er hatte sich auf dem Hohenasperg in der Nacht am Gitterkreuz erhängt. Und das, nachdem wir am Vorabend noch lange miteinander gesprochen hatten. Der Untersuchungshäftling hatte auf einen Polizisten geschossen und war schon mehrmals vorbestraft. Es drohte ihm eine lange Haftstrafe, womöglich mit anschließender Sicherungsverwahrung. Trotzdem habe ich mich auf der Rückfahrt der Beisetzung immer noch gefragt, ob ich nicht anders mit dem verzweifelten Mann hätte reden sollen.

Im Labyrinth des Lebens mit vielen Kurven und Grenzerfahrungen…

An der Grenze des Helfers

Ein anderer Gefangener hatte mir immer wieder erzählt, dass er unschuldig in Haft genommen wurde. Ihm wurde vorgeworfen, seine drei Töchter jahrelang sexuell missbraucht zu haben. Mit der Zeit habe ich seine Unschuldsbeteuerungen nicht mehr ausgehalten und bin eines Tages zu der Mutter mit den drei Töchtern hingefahren. Im Gespräch wurde mir bald klar, dass der Mann zu Recht in Untersuchungshaft saß. Daraufhin habe ich dem Mann gesagt, dass ich nicht länger an seine Unschuld glauben kann und er zumindest mir gegenüber nicht mehr den Unschuldigen spielen soll. Einen Tag später hat er sich mit den Elektrodrähten seines Rasierapparates im Ohr das Leben genommen. Hätte ich dem Mann gegenüber nicht so ehrlich sein sollen?

Grenzerfahrungen haben mich mehrmals an den Rand der Verzweiflung gebracht. Da wird eine junge Frau, die ich gut gekannt habe, umgebracht von ihrem gewalttätigen Freund. Ich sitze ihm in der Zelle gegenüber mit geballten Fäusten in der Tasche. Ich, der immer davon redet, jedem Straftäter die Hand der Versöhnung zu reichen, ich stoße an meinen Grenzen, auch an die Grenze des Helfens. Kurz nachdem ich im Gefängniskrankenhaus war, bat ich den Anstaltsleiter, einen jungen Mann zu seiner Familie ausführen zu dürfen. „Aber Herr Ceelen, der haut Ihnen doch ab“, sagte mir der Anstaltsleiter. Trotzdem genehmigte er die Ausführung. So fuhr ich mit dem Überglücklichen zu seinen Angehörigen in ein Sinti-Camp bei Ravensburg. Dort war er nach kurzer Zeit nicht mehr auffindbar, so dass ich allein die schwere Rückreise antreten musste. Viel schlimmer war die Geschichte mit dem Lebenslänglichen, der auch nach 25 Jahren Haft immer noch seine Unschuld beteuerte. Um ihn an die Freiheit heranzuführen, bekam ich die Erlaubnis, ihn freitagabends, für zwei- drei Stunden zum Schachclub meines Wohnortes zu bringen. Viele Wochen lang gab´s kein Problem, bis er an einem Abend aufs Klo ging und verschwand. „Skandal! Pfarrer lässt Mörder laufen.“ Große Suchaktion. Am nächsten Nachmittag wird der Flüchtige auf der Autobahn aufgegriffen, wo er ziellos zu Fuß unterwegs war.

Seelsorger in der Justiz fragwürdig

Einmal begleitete ich einen Gefangenen zur Beerdigung seiner Mutter, der allerdings von zwei Beamten in Uniform bewacht wird. Am Grab macht einer der „Schließer“ ihm die Handschellen ab. Der Sarg wird hinabgelassen, der Pfarrer betet das Vaterunser: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Plötzlich springt der „Sargnagel seiner Mutter“ über ihr Grab und rennt den wachhabenden Beamten davon. Der Pfarrer gibt den Segen. O Gott! Weit kommt der Geflohene nicht und wird noch vor der Friedhofsmauer gestellt. Als ich ihn später in seiner Zelle aufsuche, tut es ihm so leid, dass er seiner Mutter auch noch diese Schande zugefügt hat. „Aber nach 38 Monaten das erste Mal wieder draußen, war die Versuchung einfach zu groß!“

Todesdarstellung in einer heilen Welt: Christophorus Kapelle.

Eine ganz andere Art von Grenzerfahrung hatte ich mit den RAF-Terroristen Günther Sonnenberg, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und anderen, als sie im Hungerstreik von Stammheim zu uns ins Vollzugskrankenhaus verlegt wurden. Da ich lange Zeit keinen evangelischen Kollegen hatte, war ich der Einzige, der allein mit ihnen reden durfte. Diese Gespräche waren meist sehr intensiv und für mich höchst unangenehm, musste ich mich doch jedes Mal als Stütze des verhassten Systems beschimpfen lassen. Ja, meine Rolle als Seelsorger in der Justiz ist durchaus fragwürdig. Vater Staat erwartet vom „Tröster vom Dienst“, dass er beruhigend auf die Gefangenen einwirkt. Er soll Insassen, die durchdrehen und ihre Zelle demolieren, zur Ruhe mahnen. Und ist der Gottesdienst nicht auch ein Beruhigungsmittel? Auch wenn ich Sand im Getriebe sein möchte, bin ich doch Öl. Ich trage dazu bei, dass die Vollzugsmaschinerie geschmiert läuft. Stört ein Gefangener den Betrieb, rede ich ihm gut zu. Liegt einer am Boden, richte ich ihn auf. Ich heile mit der einen Hand Wunden, die mit der anderen geschlagen werden. Schwierig. Schmierig.

Über die Grenze ausgesetzt

In Deutschland wurde die Todesstrafe zwar abgeschafft, aber Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre hatten Aidskranke Gefangene die Angst, dass ihr Todesurteil im Gefängnis vollstreckt wird. Gino, ein italienischer Drogenabhängiger, hatte noch 18 Monate Haft zu verbüßen. Lieber wollte er auf der Straße krepieren als hinter Gittern zu sterben. So wurde er nach Mailand ausgeflogen und dort regelrecht ausgesetzt. Noch am selben Tag holte ihn seine Mutter mit falschem Pass über die Grenze nach Deutschland zurück und versteckte ihn bei sich daheim. Dort starb er einige Monate später. Auch der HIV-infizierte Matthias wurde gnadenlos nach Wien abgeschoben, weil er einen österreichischen Pass hatte. Einmal hatte er so sehr Heimweh, dass er nachts über die grüne Grenze kam und zu seinen Eltern in Esslingen heim wollte. Er wurde erwischt, festgenommen, kam in die Psychiatrie und von dort wurde er wieder abgeschoben, über die Grenze gesetzt – ausgesetzt. Nach dem Buchstaben des Gesetzes handelt der Staat ganz legal, dennoch ist es menschenverachtend. An diesem Widerspruch habe ich mich im Strafvollzug mehrmals wund gestoßen.

Nicht berühren. Ansteckungsgefahr!

Aidskranke wurden wirklich wie Aussätzige behandelt. Auch nach ihrem Tod machten sie anderen noch Angst. Auf manchem Sarg stand: Nicht berühren! Ansteckungsgefahr! Und oft fassten die Sargträger die Kiste demonstrativ nur mit Gummihandschuhen an. Bernhard wurde im Sarg in einen blauen Müllsack gesteckt und so zu Grabe getragen. Einige Male stand ich schon ganz allein am Sarg von einem Menschen, nicht nur bei Gefangenen. Ich denke an den 79-jährigen Mann, der in einem Puff an einem Herzversagen starb. Bild berichtete: Ein schöner Tod. Aber von allen, die es gelesen hatten, war auch nicht einer, der sich für seine Beisetzung interessiert hätte. So habe ich mich als einziger verneigt vor dem betagten Mann, der sich zu Tode geliebt hatte.

Manchmal kommen auch ungebetene Gäste zum Abschied. Kripobeamte, die hinter Büschen lauern und die „liebe Trauergemeinde“ filmen. Am offenem Grab eines Drogensüchtigen stehen ein paar elende Gestalten neben mir. „Lass ihn ruhen in Frieden“, bete ich. „Und lasst uns hier wenigstens in Ruhe!“, schreit eine Fixerin Richtung „Bullen“. Noch auf dem Friedhof verhaften sie einen Junkie, der schon mit einem Bein im Grab stand. Bei vielen Beerdigungen stoße ich an Grenzen, an die Grenze der Hilflosigkeit, an die Grenze der Ohnmacht, an die Grenze der Sprache. Was soll ich denn sagen, wenn eine Mutter bei einem erweiterten Suizid ihre beiden Kinder mit in den Tod genommen hat, um sie vor dieser bösen Welt zu schützen? Bei einem „normalen“ Suizid fehlen mir vielfach schon die Worte. In so mancher Situation gibt es nicht die richtigen Worte, da ist jedes Wort eines zu viel. Ich schweige aus Respekt vor dem Schmerz der Betroffenen.

Dem „guten Gott“ ins Gesicht schreien

Bei vielen Trauerfeiern schreit das Warum zum Himmel. Warum sie? Warum gerade er? Warum ausgerechnet jetzt? Warum müssen Menschen sterben, die noch so sehr gebraucht wurden? Und warum müssen andere in Alten- und Pflegeheimen weiter leben, die froh und dankbar wären, wenn sie am nächsten Morgen nicht mehr jeden aufwachen würden. Auch die schönsten Worte sind nur Worte, aber nicht die Antwort auf die Frage warum? Warum wird der Mama fünf Tage nach der Geburt ihr Baby genommen? Wozu soll es gut sein, dass die Kinder ohne ihre Mutti aufwachsen? Wenn ich die Kleinen beim Herablassen des Sarges ihrer Mutter durch Mark und Bein schreien höre, möchte ich mitschreien, dem „guten Gott“ meine Wut ins Gesicht schreien. Noch hilfloser bin ich bei der Beerdigung eines Kindes. Das weiße Särglein macht mich klitzeklein. „Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat’s genommen. Gepriesen sei der Name des Herrn?“ Ohne mich! Auch bei einem Suizid sind die Hinterbliebenen oft so verletzt, so wund, dass sie nicht einmal das Wort Gott hören können. Geschweige denn den Trostpsalm 23. „Der Herr ist mein Hirte.“ Wo war er denn, als mein Junge sich in dunkler Nacht vor den Zug warf? Wenn ich an einen allmächtigen Gott glauben würde, der „es“ hätte verhindern können, wäre ich schon längst verrückt geworden. Auch fällt es mir schwer, von einem Leben nach dem Tod zu reden bei einem Menschen, der kein Leben vor dem Tod hatte.

Ich kann mich oft nicht von den Trauernden abgrenzen, dazu ist meine Seele zu betrübt. Meine Stimme bricht ein, meine Tränen rinnen nach innen. Ich bin total am Limit. Doch gerade dort, wo ich auch an die Grenze meines Glaubens stoße, begegne ich mir selbst und bin echt. Echt wahr, wahrhaftig. Und dann tue ich, was anderen gut tut. Die Verzweiflung in Worte fassen, aussprechen, was sprachlos macht. Sagen, was not tut.

Petrus Ceelen

 

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