„Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen“ – so heißt es im Evangelium des Lukas. Wer sich in diesen Tagen den Fernsehnachrichten aussetzt, dem kann es tatsächlich so ergehen. Bisher als demokratisch, gerecht und freiheitlich angesehene politische Systeme erweisen sich als brüchig. Abschottung statt Verständigung, Auseinandersetzungen werden aggressiver, Lügen werden besser verkauft als die Wahrheit. Ja, da ist viel Anlass, in Angst zu vergehen. Und das offensichtlich heute genauso wie in biblischen Zeiten.
Die Strategien, damit umzugehen sind unterschiedlich. Nahe liegt die Versuchung, das alles durch Ablenkung und Betäubung nicht an sich heranzulassen. Die Weihnachtszeit bietet dafür mit all den gesellschaftlichen Bräuchen und Ritualen sehr viel Gelegenheit: ganze Städte werden illuminiert, als wenn Dunkelheit nicht sein dürfe, einlullende Melodien überall, als wenn die Stille zu gefährlich wäre, und der übergroß zelebrierte Anspruch eine heile Familie zu sein, als wenn die Brüche im Leben nicht sein dürften. Kein Wunder, dass dabei der Advent als stille Vorbereitungszeit auf das Weihnachtsfest kaum eine Chance hat, weswegen mindestens eine Woche vor dem ersten Advent schon lautstark überall Weihnachten ertönt – jedenfalls das, was jenseits der biblischen Geschichte daraus geworden ist. Denn die erzählt was anderes.
Religion will nicht vertrösten
Es lohnt sich gerade angesichts all dessen, was uns Angst macht, die Botschaft des Advent wahrzunehmen. Das Evangelium lässt auf das „in Angst vergehen“ folgen: „dann wird man den Menschensohn kommen sehen“. Hier geraten zwei gegensätzliche Bewegungen ineinander und werden eins: das Vergehen und das Kommen. Und das geschieht im Sehen, also im wachen Wahrnehmen mit allen Sinnen, nicht in Ablenkung und Betäubung. Es ist wesentlich für das Verständnis der Botschaft Jesu, in ihr nicht zu trennen in ein Diesseits der Welt mit der Angst und ein Jenseits im Himmel mit Gott. Christliche Religion will nicht vertrösten, das wäre Ablenkung, sie will hineinführen in das allzu Menschliche. Und das bis tief in das Leid, die Angst, das Scheitern, um da aufleuchten zu lassen jene ganz andere Wirklichkeit, für die das Bild des Menschensohnes steht: Gott selbst ist da, wo nichts mehr zu machen scheint, wo nur noch das stille Aushalten möglich ist. Dann ist Advent.
In Dunkelheit Licht erahnen
Wenige Monate vor seinem Tod schrieb der Theologe Karl Rahner: „Höre, mein Herz, Gott hat schon begonnen, seinen Advent in der Welt und in dir zu feiern. Leise und sanft, so leise, dass man es überhören kann, hat er die Welt und ihre Zeit schon an sein Herz genommen, ja sein eigenes unbegreifliches Leben eingesenkt in diese Zeit – wir nennen es seine Ewigkeit und meinen damit das Namenlose und ganz andere zu jener Zeit, die uns so hoffnungslos traurig macht.“ Adventlich leben heißt den Mut haben, sehenden Herzens in der Dunkelheit der Welt das Licht schon zu ahnen. Der Wiener Psychologe Viktor Frankl, der den Holocaust in Ausschwitz überlebt hatte, sprach von einer „Trotzkraft des Geistes“. Es ist die Fähigkeit, sich nicht vom Irrsinn menschlicher Abgründe leiten zu lassen im Zurückschlagen oder Betäuben, sondern im gelebten Dennoch sinnvoll zu handeln. Das geschieht, wo immer wir angesichts der eigenen Brüche und jener der anderen Mitgefühl leben. Dann ist es so, als würde auf das verwundete Herz sich sanft eine Hand legen wie aus einer fernen – und dabei doch so nahen und heilvollen Wirklichkeit.
Christoph Kunz | Lukas 21, 25–28. 34–36