Wir leben in einer Zeit voller Widersprüche. Einerseits führt uns die Postmoderne die kulturelle, paradigmatische, philosophische und theologische Vielfalt als ein Ideal vor Augen, andererseits aber tendiert die neoliberale und massenmediale Globalisierung zu einer immer umfassenderen und rigideren kulturellen und erlebnismäßigen Gleichförmigkeit. Einerseits wird eine Öffnung zu dynamischen ökumenischen und interreligiösen Dialogen sichtbar, aber andererseits tauchen immer mehr in sich geschlossene Fundamentalismen und Dogmatismen auf. Die Bewegung des Weltsozialforums und des Altermundialismus (“eine andere [alter] Welt [mundus] ist möglich”) steht in schrillem Kontrast zu den vielen nationalistischen oder gar rassistischen Tendenzen in Politik und Kultur, und die politische Demokratisierung vieler Länder in Lateinamerika und darüber hinaus trifft auf die eiserne Diktatur des Kapitals und seiner Steigbügelhalter.
Seit ein paar Jahrzehnten wird das philosophische und theologische Monopol, das seit Jahrzehnten vom weißen Mann mit akademischem Titel aus der Mittelklasse beansprucht wird, der zudem eine europäische Sprache spricht und sich der “hellenischen Beschneidung” unterworfen hat, zusehends von den aus diesem offiziellen Diskurs Ausgeschlossenen ernsthaft in Frage gestellt. Dabei war das Bewusstwerden der kulturellen Entfremdung, des Androzentrismus und des intellektuellen Kolonialismus der vorherrschenden Philosophien und Theologien, auch in der nicht-abendländischen Welt, ein erster Schritt zur Dekonstruktion des Euro- und Okzidentozentrismus dieser philosophischen und theologischen Traditionen.
Unter den neuen theologischen und philosophischen Subjekten kann man in Lateinamerika insbesondere die AfroamerikanerInnen, die Indígenas, die Frauen, die Jugendlichen, die Personen mit einer nicht-heterosexuellen Identität (LGBT), Personen mit Behinderungen und VertreterInnen einer nicht-christlichen Religiosität ausmachen. In einigen Kontexten handelt es sich um eine seit fünfhundert Jahren marginalisierte und diskriminierte Mehrheit (die ursprünglichen Völker in Guatemala, Ekuador, Peru und Bolivien) oder vom sozialen, politischen und kulturellen Leben ausgeschlossene (Frauen) oder zu BürgerInnen zweiter Klasse deklassierte (Jugendliche; Behinderte; LGBT) Bevölkerungssegmente. In anderen Kontexten geht es um eine sehr starke Minderheit (etwas die afroamerikanische Bevölkerung in der Karibik, in Brasilien oder in Kolumbien), die aber zu einem Leben in Armut verurteilt und von ihren kulturellen Wurzeln abgeschnitten worden sind.
Das Sichtbarwerden dieser Subjekte im öffentlichen Leben ist im theologischen und philosophischen Betrieb erst in den 1990er Jahren auf Resonanz gestoßen. Auch wenn die lateinamerikanische Befreiungstheologie zweifellos eine der ersten und durchschlaggebenden nicht-abendländischen kontextuellen Theologien war, schaffte sie es jedoch nicht, den patriarchalen, eurozentrischen und akademizistischen konzeptionellen und paradigmatischen Rahmen des theologischen Betriebs systematisch und radikal zu dekonstruieren. Die erste Generation von Befreiungstheologen (Theologinnen gab es praktisch noch nicht) waren weiße Männer oder Mestizen, mit einem abendländischen intellektuellen Gepäck (die große Mehrheit studierte in Europa oder den USA) und ohne Kenntnisse einer in Abya Yala ursprünglich ansässigen Sprache.
Erst seit den 1990er Jahren haben die theologischen Subjekte immer mehr weibliche und farbige Gesichter, sprechen Quechua, Aimara oder Nahua, reden in einer anderen theologischen Sprache und konfrontieren uns mit regionalen kontextuellen Theologien. Theologien der Frau (Mujerista-Theologie; Womanist Theology; feministische Befreiungstheologie), afroamerikanische, indigene Theologien (die sogenannten Teologías Indias), Latin Theology, Ökotheologien, Theologien der Körperlichkeit, Queer-Theologie usw. tauchten auf.
Der Bewusstwerdungsprozess hinsichtlich der Vielfalt der Subjekte führte aber nicht automatisch zu einer Theologie in interkultureller oder gar interreligiöser Perspektive, sondern in erster Linie zu regional kontextuellen Theologien. Dadurch entstand eine Art ‘Para-Theologie’. Die “offiziellen” (vor allem an Universitäten und Akademien gelehrten) Theologien halten an den akademischen Standards des Abendlandes fest und vertreten nach wie vor eine starke konzeptuelle und terminologische Anbindung an den Hellenismus, ein reglamentiertes Vorgehen nach den logischen und hermeneutischen Prinzipien der europäischen Aufklärung und eine signifikante Tendenz zum Ausschluss jeglichen “heterodoxen” Denkens.
Dagegen tauchen die bis anhin zum Schweigen und zur Unsichtbarkeit verurteilten Subjekte aus der Versenkung auf und konfrontieren uns mit alternativen Theologien, meistens noch in Nischen, die von den Wahrheitshütern kaum bemerkt werden. In einigen Fällen wie etwa der Teología India haben sie es geschafft, die Aufmerksamkeit der römischen Glaubenskongregation auf sich zu ziehen, und in anderen stecken sie in einer nicht sehr fruchtbaren Debatte mit der Akademie.
Die interkulturelle Philosophie, die als eine andere Art des Philosophierens zeitgleich mit den erwähnten kontextuellen Theologien entstanden ist, hat den auch an der Peripherie vorherrschenden Eurozentrismus der Philosophie, deren Anatopismus und kulturelle und sozio-politische Entfremdung deutlich ans Licht gebracht. Dies führte dazu, dass die vermeintliche Superkulturalität oder Universalität der abendländischen Theologien und Philosophien und ihr implizierter Monokulturalismus und Globalisierungsanspruch radikal in Frage gestellt wurden. Die Interkulturalität in der theologischen und philosophischen Reflexion untergräbt die vermeintliche abendländische Kanonizität und deren Universalitätsanspruch radikal. Man kann nicht mehr einfach von der Theologie als solcher sprechen, und auch nicht von der katholischen oder methodistischen Theologie, sondern muss immer den Terminus a quo erläutern: Von woher und wer stellt ein theologisches Thema zur Debatte, und mit welcher Absicht?
Trotzdem darf man nicht vergessen, dass die interkulturelle und interreligiöse Transformation der Theologie in Lateinamerika (wie auch in anderen Erdteilen) unter ganz realen Machtverhältnissen stattfindet, was bedeutet, dass man mit einer Reihe von Mechanismen zu tun hat, die einen Ausschluss der neuen Subjekte und ihren Methoden bezwecken. Unter anderen erwähne ich die aristotelische Unterscheidung zwischen einer “Theologie in strengem Sinne” und einer “Theologie in übertragenem Sinne”, bzw. einer eigentlichen und einer Para-Theologie. Es handelt sich um einen bekannten Mechanismus zur Disqualifizierung einer unüblichen Herangehensweise, indem man diese als unwissenschaftlich, nicht akademisch, unlogisch oder gar widersprüchlich abtut.
Diese Strategie entspricht der Überzeugung, das abendländische Paradigma sei superkulturell und könne im interkulturellen Streit als “Schiedsrichter” fungieren, um dabei seine Spielregeln auferlegen und somit die Überlegenheit der eigenen Theologie einmal mehr unter Beweis stellen zu können. Diese “wiederkäuende” Theologie wird im Anderen und in der Anderen niemals eine Theologie im wahrsten Sinne des Wortes erkennen, sondern bloß kontextuelle ethnische Theologien. Mehr lesen…
Josef Estermann | Romero Haus Luzern