Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen Anfang September 2024 und deren Folgen sind schlimm. Zum ersten Mal hat eine antidemokratische und rechtsextreme Partei der AfD die meisten Wählerstimmen bei einer Landtagswahl bekommen. Ob in beiden Bundesländern die demokratischen Parteien stark genug sein werden, sich gegen den Extremismus und Populismus mit stabilen Mehrheiten zu wehren ist fraglich.
Die Folgen sind schrecklich: Schon fordern die ersten Politiker des demokratischen Spektrums beispielsweise, das individuelle Recht auf Asyl in Deutschland einzuschränken. Dass das im europäischen politischen Kontext so einfach nicht möglich ist, spielt keine Rolle. Stimmungen zählen. Ausreisepflichtige sollen weniger oder gleich gar kein Geld mehr bekommen. Das Klima wird roh, ruppig und lieblos. Was ist da los? In diese Stimmung grätschen die Geschichten der biblischen Erzählungen. Sie sind unbequem.
Da ist jemand, der sich interessiert
Denn sie erzählt davon, dass ChristInnen auf den Schultern von Riesen stehen. Was bedeutet: Menschen sind einerseits ErbInnen all der Geschichten, die Personen vor ihnen gemacht haben, als sie sich den Kopf zerbrochen haben: Was ist Göttlichkeit? Und was ist sein Name? Erben der großen Freiheitserzählung des Alten und ersten Testaments beispielsweise, in der Mose die Israeliten aus der Sklavenherrschaft hinausgeführt hat. Weil er dem Gottesgedanken vertraut hat, dass der Glaube niemals in die Fremde oder in Abhängigkeit führt – sondern in die Freiheit. Oder Erbe der Geschichte, in der Gott dem Mose in der Wüste am Dornbusch, der brennt aber nicht verbrennt, seine Leidenschaft für die Menschen – für jeden Menschen zeigt und seinen Namen verrät: “Ich bin der ich bin da – für Dich.” Die Geschichte ist nur eine der vielen Varianten dieser einen Gottesgeschichte, die immer wieder so geht: “Da ist einer, der sich für Dich interessiert. Dem Du nicht egal bist. Selbst wenn alle anderen in Hysterie, Angst oder Gleichgültigkeit versinken.”
Den Einzelnen achten
Oder womöglich gerade dann. Nicht näher bezeichnete Menschen bringen einen Taubstummen zu Jesus. Und bitten ihn, ihm die Hand aufzulegen. Jesus berührt seine Ohren, bringt Speichel auf seine Zunge, blickt zum Himmel und beginnt ein Gespräch mit ihm: “Öffne dich!” Sogleich fällt dem Menschen die Fessel ab, heißt es in der Geschichte. Freiheit, Beziehung, Glück, Gemeinschaft, Resonanz. Vielleicht in seinem Leben zum ersten Mal. Gott achtet den Einzelnen. Den Stummeln und Gefesselten sowieso. So ist das nun mal. Und wir sind Erbinnen und Erben dieser Geschichten, die das immer wieder in allen Varianten erzählen. Gerade weil wir aber ihre Erbinnen und Erben sind, dürfen wir um diese Geschichte keine Mauer ziehen. Gegen alle Hysterie, Angst und Rohheit, gegen alle Extremisten erzählen wir sie weiter. In die Not der Verstummten, Gefesselten und Isolierten, Drangsalierten, Verstoßenen und Marginalisierten, Verächtlich- und Wertlosgemachten hinein: “Egal, was alle anderen sagen: Ich bin und bleibe der ich bin da – auch für Dich.”
Peter Otten