Lange Jahre war ich in den achtziger Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Viele unsere Aktionen liefen letzten Endes auf Appelle an die andere Seite hinaus. Genauso in späteren Jahren beim Predigen im Gottesdienst: Immer wieder diverse Appelle, unsere Nächsten zu lieben, bereit zu sein zu vergeben, Geduld zu haben, ehrlich zu sein usw. Ich habe mich dabei immer unwohler gefühlt und auch in Hinblick auf mich selbst oft hilflos. Es war mir ja klar, wie ich mich „gut“ verhalten kann, und trotzdem tat ich oft das andere: kritisierte herum, war wütend oder zog mich verletzt zurück, argumentierte die Kollegin unter den Tisch, schrie meine Kinder an, manipulierte subtil und vieles andere mehr – eben das ganz normale Programm zwischenmenschlichen Umgangs in unserer Kultur. Warum eigentlich?
Letzten Endes musste ich das immer wieder einem anscheinend fehlenden Willen meinerseits zuschreiben, anderen gegenüber zugewandt, offen und fair zu sein. Aber stimmte das? Jedenfalls habe ich mich oft schlecht und schuldig gefühlt, was weder für mich noch für andere Menschen besonders hilfreich oder förderlich war. Als ich Anfang 2000 bei Marshall Rosenberg, einem Schüler von Carl Rogers, an einer Einführung in die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) teilnahm, war ich vollkommen begeistert: ich hatte das fehlende Puzzleteil gefunden. Hier war das klare, praktikable Handwerkszeug, das ich brauchte, um nach dem Evangelium leben zu können, in der Liebe zu mir selbst und zu meinen Mitmenschen.
Und endlich konnte ich auch anderen Menschen Wege aufzeigen, wie das gehen kann, sich selbst und seinen Nächsten zu lieben, oder gar ganz konkret seine Feinde zu lieben, dass sich eine strapaziöse Beziehung zu einer wirklichen Partnerschaft entwickelt, in der keiner zu kurz kommt oder dass z.B. aus verfeindeten Nachbarn wenn nicht Freunde dann doch wenigstens Menschen werden, die ihre Konflikte miteinander regeln können. GFK – eine Kommunikation von Herz zu Herz. Das zentrale Anliegen der GFK ist, dass alle Menschen das bekommen, was sie zu einem erfüllten Leben brauchen, sprich, dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden, Bedürfnisse nach Autonomie, nach Anerkennung, Verbindung, Zugehörigkeit, Harmonie, nach Struktur, Sinn und Verlässlichkeit – um nur einige zu nennen.
Für mich entspricht das vollständig dem Anliegen Jesu, wenn er sagt: „Ich bin gekommen, damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben“. Unsere Bedürfnisse teilen wir grundlegend mit allen anderen Menschen, wenn sich auch die Bedürfnisprioritäten in jeder Situation anders aufstellen. Für viele von uns ist es ganz ungewohnt, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, geschweige denn, im Kontakt mit anderen Menschen empathisch deren Bedürfnisse herauszuhören. Normalerweise kommunizieren wir nicht über unsere Bedürfnisse sondern über die Strategien, über die Art und Weise, wie wir gerne ein Bedürfnis erfüllt hätten – und hängen dann nicht selten an dieser Strategie fest. Wenn diese Lieblingsstrategie dann nicht klappt, sind wir oft blockiert und bekommen nicht, was wir wollen.
Mit Bedürfnissen in Kontakt treten
Die oberflächliche Kommunikation lediglich über Strategien ist eine wesentliche Ursache für viele Konflikte. Mit der GFK lernen wir, mit anderen über unsere Bedürfnisse in Kontakt zu treten, z.B.: Ich brauche Bewegung, und meine Lieblingsidee dafür ist, dass ich schwimmen gehen möchte. Aber ich hätte auch gerne Kontakt und Verbindung. Und so einige ich mich vielleicht mit meiner Freundin, dass wir zusammen laufen gehen, was mein Bedürfnis nach Bewegung genauso erfüllt. Für jedes Bedürfnis gibt es viele unterschiedliche Weisen, sie zu erfüllen und so öffnet sich ein weiter Raum dafür, dass ich auch wirklich bekomme, was ich brauche – und auch mein Mitmensch seine Bedürfnisse erfüllen kann.
Wunderbarerweise haben wir von Natur aus Wegweiser mitbekommen, um unsere Bedürfnisse wahrzunehmen. Und das sind in der GFK die Gefühle: die so genannten negativen Gefühle, z.B. frustriert, sauer, traurig, ängstlich, wenn meine Bedürfnisse nicht erfüllt sind, und die sogenannten positiven Gefühle, wenn meine Bedürfnisse erfüllt sind: glücklich, zufrieden, dankbar, begeistert usw. Wir versuchen, unseren Gefühlswortschatz zu erweitern, denn oft ist uns von der riesigen Gefühlspalette, die es gibt, nur noch „gut“ oder „schlecht“, bzw. zufrieden, wütend, sauer oder gefrustet geblieben. Ein wichtiger Schritt dabei ist, für unsere Gefühle nicht andere verantwortlich zu machen, nach dem Motto: Hättest nur du dich anders verhalten, dann ginge es mir jetzt gut. Es geht jetzt nicht mehr nach dem „Ich bin traurig, weil du…“, sondern in der GFK übernehmen wir die Verantwortung, indem wir sagen: „Ich bin traurig, weil ich… z.B. gerne Kontakt und Verbindung gehabt hätte.“
Vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation
Gefühle werden in Situationen ausgelöst, aber der Grund für unsere Gefühle sind unsere eigenen Bedürfnisse. Nichtsdestotrotz sind die Auslöser natürlich wichtig. Damit bei der Kommunikation über eine Situation nicht gleich Interpretationen, Vorurteile, Erwartungen oder Pauschalierungen einen Rückzug oder den Gegenangriff provozieren, lernen wir in der GFK, zunächst nur unsere Beobachtungen (Schritt 1) ohne unsere (moralischen) Bewertungen wiederzugeben, um dann unsere „Stellungnahme“ zu dem Ereignis in Form unserer Gefühle (Schritt 2) und unserer erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisse (Schritt 3) zu äußern.
Klar und deutlich für uns selbst einstehen, auf eine Weise, die die Freiheit, Selbstbestimmung und Wertschätzung aller anderen beteiligten Menschen im Blick hat, das ist das eine. Die Bereitschaft, hinter jedem auch noch so schwierigen Verhalten den Versuch zu sehen – wenn auch auf „tragische“ Art und Weise – für legitime, gute Bedürfnisse zu sorgen, das ist das andere – und ich denke, in Hinblick auf den Umgang mit Straffälligen ein ganz zentraler Punkt. Die Fähigkeit, empathisch, d.h. auf Gefühle und Bedürfnisse achtend, zuzuhören, ist ein wesentlicher Bestandteil des GFK-Trainings. Und damit auch wirklich etwas geschieht und wir nach der Verbindung mit dem, was in uns wirklich lebendig ist, auch ins Handeln kommen und konkret erhalten, was wir brauchen, besteht der letzte Schritt im Gegensatz zu den sonst üblichen Forderungen im Äußern einer Bitte: konkret, machbar und positiv formuliert (Schritt 4).
Beziehungsweise wir unterstützen unseren Mitmenschen mit einer Vermutung, was er jetzt vielleicht gerne konkret zur Erfüllung seines Bedürfnisses hätte. – Uns auf diese Art und Weise mit uns selbst und anderen zu verbinden, in Verstehen und Verstanden werden, ist trotz der Einfachheit dieses aus vier Schritten bestehenden Handwerkzeugs ein enorm lebensbereicherndes „Programm“ rein für uns selbst und für die Lösung von Konflikten und das Miteinander überhaupt. Die vier Schritte sind dabei nicht als Selbstzweck gedacht sondern als eine Art Geländer um in eine bestimmte Haltung zu kommen, die für mich letzten Endes nur als spirituell beschreibbar und vom Begründer auch so gedacht ist. Diese Haltung hat mit Achtsamkeit zu tun für das, was ist, mit Präsenz, Wertschätzung und Dankbarkeit und ist letzten Endes eine Haltung der Liebe zu allem, was ist.