parallax background

Für viele Jugendliche ist Gewalt Teil ihres Alltags

15. Juli 2021

„Außer Kontrolle – Jugendgewalt in Deutschland“: Zwei Jungen, einer mit roter und einer mit brauner Jacke, sind in eine Prügelei verwickelt. Beide tragen Kapuzen, ihre Gesichter sind nicht zu sehen. Zwei weitere Jugendliche schauen zu. Foto: ZDF. alamy/agenzia sintesi.

Ein raueres gesellschaftliches Klima sowie Frustration und Perspektivlosigkeit begünstigen die Gewalt unter Jugendlichen. Lange Zeit hat die Gewalt bei Jugendlichen abgenommen. Doch seit 2015 sehen Forscher einen erneuten Anstieg. Es herrscht ein raueres gesellschaftliches Klima, die Frustration und Perspektivlosigkeit der Jugend steigen. Für viele Teenager ist Gewalt Teil ihres Alltags. Die ZDFinfo-Dokumentation „Außer Kontrolle – Jugendgewalt in Deutschland“ begibt sich mithilfe von Experten auf die Suche nach Ursachen und Lösungen – bei Opfern, aber auch den Tätern. Der Film von Carsten Binsack ist in der ZDF Mediathek abrufbar.

Immer wieder kommt es in Deutschland zu Gewaltausbrüchen unter Jugendlichen. So auch im Sommer 2020, als plündernde Gruppen von jungen Menschen durch die Stuttgarter Innenstadt zogen und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Schockierende Szenen, die Forscher und Polizei zunächst sehr überraschten. Die Dokumentation „Außer Kontrolle“ begibt sich auf Spurensuche, lässt Jugendliche zu Wort kommen und ihre Unzufriedenheit erklären. Doch wie soll eine Gesellschaft mit jungen, straffälligen Gewalttätern umgehen? Zu Wort kommt der Richter Andreas Müller vom brandenburgischen Amtsgericht Bernau. „Jugendknast ist keine schöne Sache – ist nicht gut“, sagt Müller, „wenn es gut gemacht wird und nicht allzu lange dauert und eine vernünftige Betreuung auch im Jugendknast stattfindet, dann kann aus den jungen Leuten immer noch etwas Gutes werden,“ sagt der konsequente Richter. Im Jahr 2018 wurden 3719 Jugendstrafen ohne Bewährung verhängt.

Das „Seehaus Leipzig“ ist ein besonderer Jugendstrafvollzug in freier Form – ohne Mauern und vergitterten Fenstern. Hier leben und arbeiten jugendliche Straftäter zusammen mit einer Familie in einer Wohngemeinschaft. Die intensive Betreuung soll ihnen Geborgenheit und eine neue Perspektive für ihr Leben bieten. Der 20 jährige Tim verbringt hier seine Haft. „Die Gewalt hat bei mir viel eine Rolle gespielt. Dann ging es halt los, dann hast Du den abgezogen und dann gab es doch mal auf die Mappe… Manchmal einfach nur aus Spaß“, erzählt er. So kriminell sieht er gar nicht aus. Er wirkt mit seinem Vollbart sehr erwachsen. 21 Monate muss er absitzen. Jetzt in einer Familie im Seehaus. Bis zu 7 Straftäter leben hier in einer Art Wohngemeinschaft zusammen. Jugendstrafvollzug in freien Formen gibt es selten in Deutschland.

In Hamburg setzt man auf Prävention, damit es gar nicht erst zu Gewaltausbrüchen kommt. Die Polizisten des Jugendschutzes zeigen Präsenz, wenn sie auf Streife durch die Hansestadt ziehen. Sie versuchen täglich mit jungen Tätern und ihren Opfern ins Gespräch zu kommen. In Nordrhein-Westfalen ist die kriminalpräventive Initiative „Kurve kriegen“ gestartet. Sie zielt darauf ab, besonders kriminalitätsgefährdete Kinder und Jugendliche (überwiegend im Alterssegment von 8 bis 15 Jahren) so früh wie möglich zu erkennen und sie durch individuelle, passgenaue Reaktionen und Maßnahmen nachhaltig vor einem dauerhaften Abgleiten in die Kriminalität zu bewahren.

Der Schlag trifft Christoph 2007 völlig unvorbereitet, als er aus der Disko kommt. Die Überwachungskamera zeichnet mit. Gewalttätig und menschenverachtend. Christoph schlägt auf den harten Steinboden auf. Die Folge: Hirnblutungen. Er fällt ins Koma, aus dem er erst wieder nach vier Monaten erwacht. Grund für diese Attacke des Täters ist, dass der ehemalige Freund eines Mädchens, dem Christoph in der Disco ein Getränk spendiert, eifersüchtig ist. Der Geschädigte muss von Grund auf alles neu lernen. Zwei Jahre kämpft sich Christoph in der Reha zurück ins Leben, so gut es geht. Heute ist er erwerbsunfähig und zu 80 % schwerbehindert. Auch er hätte Täter werden können: „Ich war selbst kein Unschuldslamm. Ich habe auch schon mal jemanden aufs Maul gehauen“, sagt er. Der Jugendliche, der ihn zusammengeschlagen hat, wird mit 2 Jahren auf Bewährung verurteilt.

Dirk Baier, Soziologe der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften, sieht ein Anstieg der Jugendgewalt um über 4 % ab dem Jahr 2015. Mehrere Faktoren spielen eine Rolle. „Aus meiner Sicht ist zentral, dass sich die Zukunftsperspektiven junger Menschen wieder verschlechtern. Wir haben ein raueres gesellschaftliches Klima. Egoistische Vorbilder eifern Jugendliche nach. Ich kann mir nehmen, was mir zusteht….“ Jugendgewalt hat tiefere Ursachen: Auflehnung, Grenzen austesten oder Rebellion. Spielt der Migrationshintergrund und der soziale Status eine Rolle? So manches erlernte gewalttätige Verhalten in Familien wird reproduziert. Diese Frage ist für Richter Andreas Müller überhaupt nicht wichtig. „Bei mir im Saal sind Menschen, die über Jahrzehnten deutsch sind. Es sind alle Teile der Gesellschaft „, sagt er. Die Lebenssituation ist zentral und nicht die Herkunft. Und es sind überwiegend junge Männer. „Es ist ganz selten, dass ich eine gewalttätige junge Frau vor mir habe“, fügt Richter Müller hinzu. Doch die Umsetzung von Konsequenzen seitens des Gerichts dauert viel zu lange. Nach einem Jahr wissen Jugendliche oft wenig mehr von dem, was sie zu verantworten haben.

Verfügbar bis 18. Juli 2023. 44 Minuten.

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert