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Arbeit und gelingendes Leben in der Gesellschaft

27. Februar 2020

Auszüge aus dem Referat zur Tagung der evangelischen und katholischen Gefängnisseelsorge in NRW. Gehalten in der Akademie Wolfsburg, Mülheim/Ruhr am 12. Februar 2020 (es gilt das gesprochene Wort).

Mein Name ist Dieter Heisig. Ich bin 65 Jahre alt, aufgewachsen in Münster; studiert habe ich in Münster, Heidelberg und Marburg. Nach meiner Zeit als Gemeindepfarrer war ich ab 1985 als Industrie- und Sozialpfarrer im Evangelischen Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid tätig. Seit Januar dieses Jahres bin ich nun im Ruhestand. Der Schwerpunkt der Arbeit im Industrie- und Sozialpfarramt waren die sozialen Fragen; die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche; die politische Diakonie. In vielen Landeskirchen war dieser Dienst anders benannt: „Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt“  –  und tatsächlich war ja das Thema Arbeit für mich in meiner aktiven Zeit als Industrie- und Sozialpfarrer eines der „Kernthemen“ der „Kernkompetenzen“ , wie man heute in der Wirtschaft zu sagen pflegt.

Es gab und gibt bis heute immer wieder Diskussionen um die korrekte Bezeichnung dieses Arbeitsfeldes. Dabei steht auch die Frage im Raum, ob es eigentlich sachgerecht sei, einem einzigen Thema ein ganzes kirchliches Arbeitsfeld zuzuordnen? Und schließlich: es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Bezeichnungen heute in vielen Fällen gewandelt haben und man hier eher vom Arbeitsfeld der „gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche“ spricht. Aber trotz aller Veränderungen: „Arbeit“ ist bis heute der Kernbereich dieses Tätigkeitsfeldes geblieben. Leider seit Jahrzehnten aber auch schon der thematische Gegenpol:  Arbeitslosigkeit. Und auch wenn die Anzahl der öffentlichen Stellungnahmen zu diesen Themen z.Zt. etwas zurückgegangen ist – sie wird auch wieder zunehmen. Ich bin mir sicher, dass der öffentliche Diskurs sich dem Thema „Arbeit“ auch wieder verstärkt zuwenden wird. Das hat unterschiedliche Gründe: aber denken Sie nur an die Fragen nach den Folgen von Digitalisierung, an die Einschätzungen von Künstlicher Intelligenz oder schlicht an die Auswirkungen der nächsten Konjunkturkrise.

Arbeit ist wichtiges Element

Damit ist ja schon eine erste Vermutung geäußert; eine erste Feststellung –  oder eher ein erstes Vorurteil?  Nämlich dass „Arbeit“ zumindest ein ganz wichtiges, wenn nicht sogar „das“ Element für gelingendes Leben in unserer Gesellschaft ist. Und auf den ersten Blick spricht ja auch Vieles für die Einschätzung, dass mit dem Begriff der „Arbeit“ fast so etwas wie eine Antwort auf die Frage formuliert wird, was denn nun aus gesellschaftlicher Sicht gelingendes Leben ausmacht.  Und in der Tat: es würden doch auch viele Menschen, die mit dieser Frage konfrontiert werden, genau im Sinne von „Arbeit“ antworten. Und natürlich: diese Antwort ist ja nicht einfach so aus der Luft gegriffen, – denn wer arbeitet, ermöglicht sich vieles von dem, was sich ein Mensch ohne Arbeit nicht leisten kann. Und sich etwas leisten können; keine, zumindest keine materiellen Sorgen mehr haben zu müssen; den Kindern etwas hinterlassen zu können; sind das nicht tatsächlich auch wichtige Aspekte dessen, was bei uns unter „gelingendem Leben“ mit verstanden wird? […]

Aber da waren auch diejenigen, die unter zu viel Arbeit gelitten haben oder denen die Arbeitsbedingungen ihre Gesundheit ruinierten. Und da waren diejenigen, die sich über die Eintönigkeit ihrer Arbeit beklagten, aber auch diejenigen, die tatsächlich sehr glücklich waren über die Bedingungen und Inhalte ihrer Arbeit. Wenn ich mir also die so verschiedenen Situationen und Lebensbedingungen dieser unterschiedlichen Menschen vor Augen halte, dann bin ich sehr vorsichtig mit der Einschätzung geworden, was denn nun eigentlich zum gelingenden Leben gehört und was nicht. Und ebenso skeptisch bin ich bei der Einordnung dieser Frage in eine einfache Ursache – Wirkung Struktur zwischen Arbeit und gelingendem Leben. Eben weil ich sie erlebt habe: die, die trotz fehlender Erwerbsarbeit niemals davon gesprochen hätten, dass ihr Leben kein gelingendes sei;  aber eben genauso diejenigen, die sich bitter darüber beklagten, dass die fehlende Erwerbsarbeit ihnen ein gelingendes Leben unmöglich mache.

Ich räume gerne ein, dass die Zahl derjenigen, die sich ohne Arbeit ( ich benutze der Einfachheit halber diesen Begriff  mal als identisch mit „ohne bezahlte Erwerbsarbeit“)  also der sogenannten Arbeitslosen, dass die sich eher abgehängt sahen und alles andere als ein gelingendes Leben für sich sehen konnten und dass sie größer war als die Zahl derer, die hier keinen zwingenden Zusammenhang für sich sahen. Und da tun sich ja schon die nächsten Fragestellungen auf, denn: wer beurteilt eigentlich diese Zusammenhänge; und: sind das nicht manchmal schlicht Schubladen, in die Menschen verfrachtet werden? Und was muss auch im Zusammenhang mit dem Begriff der „gesellschaftlichen Sicht“ eigentlich alles mit bedacht werden und was ist das eigentlich, dieser schillernde Begriff vom „gelingenden Leben“? […]

Gewaltanwendung aus der Sicht eines Geschädigten.

Gewaltanwendung und Unrechtsbewusstsein?

Generell gesagt von denjenigen, die den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Diskurs gestalten. Und das sind dann zunächst mal die, bei denen es offensichtlich ist: die Medien;  die sogenannten gesellschaftlich bedeutenden Personen; Repräsentanten; Wissenschaftlerinnen; da sind heute aber auch die sogenannten InfluencerInnen und aktuell ja auch leider die, die inzwischen ihr rassistisches und nationalistisches Süppchen kochen, um die gesellschaftliche Sicht der Dinge zu gestalten.

Und gerade auch für unser Thema hat das eine besondere Bedeutung: denn wieso wird z.B.  hier in solchen Zusammenhängen bei Kriminalstatistiken so vehement darauf bestanden, ethnische und nationale Daten zu erhalten? Solche Informationen mögen ja für manche Fragestellungen tatsächlich bedeutsam sein – aber so, wie es heute manchmal geschieht, geschieht es doch oft auch in der Absicht, die gesellschaftliche Sicht in eine Richtung zu prägen, die die Menschen unterscheidet, in Deutsche und Nicht Deutsche, in Schwarze und Weiße u.a.m.

Und gerade der Bereich von Gesetzesübertretungen und Straffälligkeit ist hier für diejenigen von besonderem Interesse, die damit ihre politischen Interessen voran bringen wollen. Denn genau dieser Bereich ist ja einer derjenigen, bei dem sich jeder/jede auch in der Öffentlichkeit als vermeintliche Expertin fühlen kann und infolge dessen sich auch berufen fühlt, hier Wegweisendes in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen. Natürlich: es ist ja auch fast jeder/jede betroffen bei den vielen Fragen im Zusammenhang mit Gesetzesübertretungen. Und natürlich fühlt sich deshalb schon  jede/jeder legitimiert in die öffentliche Diskussion einzugreifen – ja, und er/sie ist es in gewisser Weise ja tatsächlich auch. Das ist grundsätzlich in Ordnung und auch wünschenswert für eine demokratische Gesellschaft.

Eine persönliche Betroffenheit gilt sowohl für die individuelle Sicht auf die Dinge als auch auf die kollektive, die gesellschaftliche. Dazu ein Beispiel aus meiner jüngsten persönlichen Vergangenheit: Wir hatten inzwischen den vierten Wohnungseinbruch zu Hause. Da kommen persönliche Aspekte der individuellen Ebene zum Tragen, denn ein Einbruch wird natürlich als Eingriff in die Privatsphäre erlebt. Aber auch die gesellschaftliche Seite meldet sich nach 4 Einbrüchen: da liegen Fragen nahe, wie zum Beispiel: sind in Sachen Einbrüche nicht schärfere Strafen nötig; oder: hilft hier Prävention in Form von Erziehung und Sozialarbeit u.a.m.? Aber wie gelangen dann solche, zunächst oft eher individuellen Erfahrungen, in den gesellschaftlichen Diskurs?   Das ist die eine Seite des Fragehorizontes.  Aber da gibt es ja auch noch die andere Seite eines Zuganges zu solchen Fragen; zum Beispiel: Was hat jemanden dazu gebracht, die Regeln zu missachten? Wo verlaufen hier eigentlich die Grenzen, z.B. bei der Frage von Gewaltanwendung oder der eines eindeutigen Unrechtsbewusstseins?

Und dann gibt es noch weitere Fragen, wie z.B.: was bedeutet eigentlich für einen Menschen die Situation einer Gesetzesübertretung. Wie erlebt er/sie hier die gesellschaftliche Einschätzung, gerade wenn sie sich zum Teil auch noch laufend ändert? So z.B. bei der Wertung von Gewalt in der Ehe (als einem „klassische“ Beispiel) oder vom Drogengebrauch- und/oder -missbrauch ? Da waren und sind die Dinge doch immer wieder im Fluss. Für die Frage nach einer gesellschaftlichen Sicht gäbe es sicher noch viel Grundlegendes zu bedenken – festzuhalten bleibt aber in jedem Fall: Es ist immer der Zusammenhang von individuell und kollektiv zu beachten –  zwischen dem Einzelnen/ der Einzelnen und der Gesellschaft. Und daraus resultierend: Es handelt sich hier um einen Prozess, der sich wandelt und der deshalb auch jeweils neu betrachtet werden muss. […]

Resozialisierung und Arbeit

Denn diese und andere Begriffe fallen ja meist sehr schnell in unseren gesellschaftlichen Zusammenhängen, wenn es um das Thema des Strafvollzuges geht. Aber auch hier bitte genau hinschauen:  ist denn tatsächlich immer schon und zu allen Zeiten ausgemacht, was z.B. genauer unter Resozialisierung zu verstehen ist? Und auch hier wieder: neben der gesellschaftlichen Seite bleibt natürlich auch von der subjektiven, der individuellen Seite her zu fragen, ob es tatsächlich so klar ist, was z.B. Glück, was gelingendes Leben ist. Da reichen die Antworten und Sprüche auf Glückwunschkarten oder Kalenderblättern oder in Glückskeksen eben doch nicht aus. Deshalb also jetzt die konkreteren, die vielleicht für unseren Zusammenhang näher liegenden Aspekte von „Gelingendem Leben aus gesellschaftlicher Sicht im Kontext des Strafvollzuges“

Da scheint mir der Begriff der Resozialisierung der Schlüsselbegriff dessen zu sein, was zumindest der große Teil der Gesellschaft hier nennen würde. Zum Begriff an sich: Re- Sozialisierung – da schwingt ja dieses: zurück in die Gesellschaft!  mit. Heißt im Umkehrschluss dann aber auch, dass jemand in Haft außerhalb der Gesellschaft steht – sonst wäre ja eine RE – Sozialisierung nicht notwendig. Und in der öffentlichen Diskussion gibt es ja sogar einen eindeutigen Maßstab für den Erfolg, den Grad einer Resozialisierung: das ist die Rückfallquote. Sie wird gemessen, sie kann verglichen werden, so können Verbesserungen oder Verschlechterungen belegt werden. Das ist ja im Übrigen nicht nur im Strafvollzug so. Heute wird in der Ökonomie, in der Psychologie, in der Sozialwissenschaft etc., überall wird gemessen und verglichen. Kennzahlen sind inzwischen das Schlüsselwerkzeug z.B. in der Ökonomie. Und in gewisser Weise kann ich es ja nachvollziehen, dass man gerne Vergleichbares hätte, vermeintlich Objektives. Gerade auch für die Politik ist es ja inzwischen unverzichtbar geworden, mit solchen Zahlen und Erhebungssystemen zu arbeiten. Das alles dient ja dazu, das Ziel zu erreichen, das im Strafvollzugsgesetz formuliert wird: es soll nicht einfach weggesperrt werden, sondern die Gefangenen sollen befähigt werden, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“

Rückfallquoten und gelingendes Leben?

Wenn es also gelänge, dass niemand mehr in Straftaten verwickelt würde – wäre dann nicht schon ein gelingendes Leben für alle erreicht?  In dieser Breite wird dem wohl kaum jemand zustimmen, zumindest nicht in einer einfachen Gleichung. Vielleicht wäre es von daher ehrlicher, zumindest im Bereich von Politik und Gesellschaft, das Ganze etwas tiefer zu hängen und nicht davon zu sprechen, dass es ein gelingendes Leben ist, wenn keine Straftaten darin passieren. Ich will dieses gesellschaftliche Ziel ja nicht einfach desavouieren,  aber wir sollten schon exakter sein und vielleicht davon reden, dass ein Leben ohne Straftaten eines ist, das nach unseren derzeitigen gesellschaftlichen Maßstäben ein, vielleicht würde man sagen, erfolgreiches ist. Oder zumindest eines, das den verabredeten Spielregeln entspricht. Aber auch das ist ja schon nur schwerlich zu erreichen, denn die Zahlen sind da eindeutig: ich habe gelesen, dass es eine Rückfallquote von 45% bei den Erwachsenen und 65% bei Jugendlichen in NRW gibt.

Und solche Zahlen bergen natürlich ein Riesenproblem in sich, denn wenn der gesellschaftliche common sense so weit verfehlt wird, dann hält das eine Gesellschaft auf die Dauer nicht gut aus. Das wäre auch in anderen Bereichen so. Wie also geht eine Gesellschaft damit um, wenn die eigenen Ziele so weit verfehlt werden?  Da gibt es ja zumindest erst mal zwei Wege, damit umzugehen: entweder wir separieren diesen Teil unserer Gesellschaft so weit aus, dass er niemanden weiter stört, weil wir ihn dann nicht einmal weiter zu Gesicht bekommen. Oder wir versuchen, etwas an dieser Situation zu ändern. Die erste Möglichkeit, das Wegsperren, möglichst lang und möglichst billig,  das ist der Weg, der zwar offiziell als politisch nicht korrekt würde, der aber für mein Empfinden doch in vielen Köpfen und Herzen sehr verbreitet ist.

Eine mögliche Erklärung dafür: ein möglichst billiger Strafvollzug (also kein „Luxusleben im Knast, kein Fernseher etc.  – Sie kennen das alle viel besser als ich), das entlastet zumindest wegen der geringeren Kosten zumindest mich als Steuerzahler, so der Tenor. Aber machen wir uns klar: um in dieses Horn stoßen zu können, muss ich eine Grundentscheidung, bewusst oder unbewusst, getroffen haben, die in etwa so lauten könnte: in dem Moment, in dem jemand den verabredeten gesellschaftlichen Konsens verlässt, indem er oder sie z.B. eine Straftat begeht, verliert er auch einen Teil seiner menschlichen  Grundrechte, die ansonsten jedem zukommen. Ich muss also zumindest bereit sein, die grundsätzliche Entscheidung zu treffen und zu bejahen, dass unsere Gesellschaft eben nicht jeden und jede gleich behandelt, weil auch nicht jede / jeder zu ihr gehört?  Aber: unsere Verantwortung füreinander: besteht sie nur im Blick auf manche Menschen; oder dürfen wir sie vielleicht getrost aufgeben, wenn es sich zum Beispiel um geflüchtete oder zugewanderte Nichtdeutsche handelt?

Wir kennen das zum Beispiel in Analogie aus dem Bereich von Therapien für Geflüchtete: wieso sollten die „so was Teures erhalten? Hatten wir nach dem Krieg doch auch nicht;  wieso sollten wir auch noch so viel Geld einsetzen für Menschen, die gar nicht zu uns gehören,  oder für Menschen, die es sich eben früher hätten überlegen müssen, dass sie nicht schwarz fahren sollten….. Wieso sollten wir für Menschen einstehen, die sich doch selbst hinaus katapultiert haben? Wenn aber die Dinge in dieser Weise diskutiert und öffentlich vertreten werden, dann sind wir, zugespitzt für unser Thema,  auch bei den Grundfragen angekommen: Gelingendes Leben – dafür ist doch jeder /jede allein verantwortlich? Was hat das mit mir zu tun? Was hat das mit unserer Gesellschaft zu tun? […]

Autoklau und Beförderungserschleichung

Alles das zeigt doch deutlich: wir müssen im öffentlichen Diskurs deutlicher machen, dass viele Dinge dem Wandel der Zeiten unterliegen; dass jede Gesellschaft natürlich das Recht hat, ihre Spielregeln zu definieren – ohne sie ginge es doch gar nicht – aber dass es hier auch Grenzen gibt, denn die Würde jedes/ jeder Einzelnen/er muss gewährleistet sein. Zumindest so weit sollte aus christlicher Sicht unsere Gemeinsamkeit in der Begründung als Geschöpf Gottes reichen. Und: der öffentliche Diskurs zum gelingenden Leben muss immer neu geführt werden. Und hier sehe ich eine weitere wichtige Aufgabe der Seelsorge im Gefängnis, am sinnvollsten gemeinsam mit anderen kirchlichen Diensten und Institutionen. Denn das würde bedeuten, zum Beispiel Fragestellungen  als Diskussion weiter zu befördern, wie diese:

  • Ja, unsere Gesellschaft kennt das Recht auf Eigentum. Insofern ist verständlich, dass jemand, der jemandem etwas entwendet, diese Regel verletzt und damit Sanktionen erfolgen. Und dennoch: müssen wir auch hier nicht differenzieren? Zum Beispiel zwischen einem Autoklau und der sogenannten Beförderungserschleichung(im Hartz IV Satz reichen die Mittel zur Mobilität hinten und vorne nicht – aber gibt es denn  nicht ein Recht in unserer Gesellschaft auf Mobilität – und wird mit diesem Zustand nicht eine „Grundverankerung“ in Frage gestellt?
  • Und ist zum Beispiel derjenige, der sich durch die sog. Cum-ex Geschäfte um Milliarden bereichert, indem er öffentliche Gelder für sich „privatisiert“ nicht ein viel schlimmerer Regelverletzer als z.B. ein Taschendieb? Wie gestaltet sich da die gesellschaftliche Diskussion?  Verhindert so etwas nicht gelingendes Leben für Tausende unserer Mitmenschen, weil diese Milliarden dann fehlen –  auch für Hartz IV Sätze, die ein Mobilitätsrecht ermöglichen könnten?
  • Warum beschränkt sich die gesellschaftliche Sicht auf ein gelingendes Leben oft auf die verkürzte Definition auf ein Leben ohne Straffälligkeit, wo doch deutlich ist, wie variabel und manchmal auch ethisch wenig konsequent diese Definition ist?
  • Warum trifft eine gesellschaftliche, öffentliche, veröffentlichte Sicht auf ein gelingendes – vor allem aber auf ein misslingendes Leben – auf so viel Widerhall, wenn als Hauptkriterium das „Selbst Schuld“ so erbarmungslos eingesetzt wird?  (Hier ist für mich im Übrigen wieder eine große Übereinstimmung mit der Diskussion um Arbeitslosigkeit festzustellen). […]

Nicht alles in „platter“ Parteinahme für Gefangene

Gelingendes Leben aus gesellschaftlicher Sicht darf nicht das Ergebnis einer Befragung sein, das über eine prozentuale Auswertung definiert werden kann. Dennoch muss immer wieder einfließen, dass die gesellschaftliche Sicht einer der prägendsten Faktoren zumindest für das Zustandekommen von Vorstellungen von gelingendem Leben ist. Daraus ergibt sich auch eine gesellschaftliche Verantwortung für den öffentlichen Diskurs, denn gelingendes Leben soll ja befördert und nicht verhindert werden. In diese öffentliche Debatte einen eigenen Beitrag einzubringen, das erscheint mir eine unverzichtbare Aufgabe von Kirche zu sein, die ihren Auftrag, die gute Botschaft in Wort und Tat zu verkündigen, wirklich ernst nimmt. Dabei ist immer zu bedenken, dass wir als Kirche inzwischen nicht mehr das Monopol auf Deutungshoheit haben. Unser „Pfund“ in dieser Diskussion ist aber, neben der inhaltlich theologisch geprägten Überzeugung, der „Vorteil“, dass wir, hoffentlich zumindest, in der Lage sind, Individuum und Kollektiv im Menschen zusammen zu sehen und wir damit einen Weg aus der Falle weisen können, die sich zwischen den Polen des Rechtes auf Selbstverwirklichung des Individuums auf der einen und dem Recht der Gesellschaft auf das Erstellen und Einhalten von Regeln des Zusammenlebens auf der anderen Seite ergibt.

So mündet nicht alles in einer „platten“ Parteinahme für alle Gefangenen. Dennoch aber scheint mir die Parteinahme für die Seite der Gefangenen nötig zu sein in einer gesellschaftlichen Diskussionslage, die in weiten Teilen meint, mit populistischen Forderungen nach härteren Strafen, strengeren Gefängnissen, etc. auskommen zu können. Klar, es gibt für die Gesellschaft ein Recht auf Schutz; es gibt einen nachvollziehbaren Wunsch nach Bestrafung und es gibt die Notwendigkeit von einheitlichen Regeln. Aber: Wir müssen darüber reden, was unsere Gesellschaft dazu beitragen kann, dass der /die Einzelne für sich ein gelingendes Leben realisieren kann und: was dabei eher abträglich und hinderlich ist. Und: niemand ist aus seiner/ihrer persönlichen Verantwortung dabei entlassen, auch wenn die gesellschaftlichen Bedingungen dabei eine so große Rolle spielen In Beidem spiegeln sich für mein Empfinden die doppelte Seite der kirchlichen Arbeit in Gefängnissen wieder: die Seite der Einzelgespräche und individuellen Hilfen,  aber eben auch die gesellschaftliche Verantwortung im Prozess des „Austarierens“ von Individuum und Kollektiv. Dass beides unverzichtbar ist, sollten wir als ChristInnen wissen! Gesamtes Referat…

Dieter Heisig | Gelsenkirchen

 

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