Mathilde ist 83 Jahre alt und für eine Herzoperation in der Universitätsklinik. Von ihrer Tochter bekommt der Klinikseelsorger einen Anruf mit der Bitte, sie mit einer schlimmen Nachricht zur Mutter zu begleiten: der Sohn ist in seinem Zuhause plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. So gehen sie außerhalb der Besuchszeit zur Patientin Mathilde. Sie weint und ruft: „Das geht doch nicht! Der Sohn darf doch nicht vor der Mutter sterben!“
Die Tochter hat sich auf die Bettkante gesetzt und umarmt still ihre Mutter. Dann sagt Mathilde: „Da muss ich jetzt durch. Es braucht Zeit, das zu begreifen.“ „Da muss ich jetzt durch“ – so sagen wir es manchmal in Krankheit und anderen Krisenzeiten. Da ist Leid, das alles Bisherige erschüttert, und im Moment ist völlig offen, wie es weitergehen soll.
Zeitlebens auf Pilgerschaft
Die Worte „Da muss ich jetzt durch“ sagen auch: Leid, so groß es sich auch anfühlen mag, kann getragen werden. Und mehr noch: da ist eine Zuversicht, dass es einen Weg durch dieses Leid hindurch gibt, auch wenn sein Verlauf noch unklar ist. Vielleicht kann Mathilde so etwas sagen, weil sie gleichzeitig die liebevolle Umarmung ihrer Tochter spürt. Sie spürt, dass sie beim Hindurchmüssen nicht allein ist. Indem ein Mensch das erlittene Leid anschauen kann, und das möglichst liebevoll mit sich selbst und den anderen Personen, taucht auf, dass dieses Leid nicht Untergang bedeutet, sondern dass es tragbar ist. Mathilde durchlebt und gestaltet eine grundlegend menschliche Wirklichkeit: Leben verändert sich von Moment zu Moment, wir sind stets auf dem Weg. Religiös gesprochen: wir sind zeitlebens auf Pilgerschaft.
Perspektive eröffnen
Dies verkörpert im Evangelium Johannes der Täufer. Er versteht sich als Vorläufer des Jesus von Nazareth, auf den hinweisend sagt er: „es kommt einer, der stärker ist als ich“. Johannes kündet Jesus, indem er sich selbst zurücknimmt. Weder sich selbst, noch das, was die Welt im Hier und Jetzt ausmacht, absolut setzend, öffnet er die Perspektive für das Kommen Jesu. Darin, so die Botschaft des Evangeliums, kommt Gott dem Menschen entgegen auf seiner Suche nach Antworten, in der Sehnsucht nach Glück, nach Heilung, Frieden und Gerechtigkeit, und nicht zuletzt nach einem Aufgehobensein über den Tod hinaus. Jeder neue Anfang nach einem erlebten Ende hat bereits dieses Entgegenkommen Gottes in sich. Und die Leute fragen Johannes: „Was sollen wir tun?“ Das Gegenwärtige, auch das Leidvolle, anzunehmen und zu würdigen, ohne es absolut zu setzen, bedeutet nicht, alles passiv über sich ergehen zu lassen. Die Frage „Was sollen wir tun“ führt in die Gestaltung der Situation. Johannes antwortet mit dem Aufruf zu teilen, ehrlich zu sein und keine Gewalt anzuwenden. Es sind elementare und praktische Weisungen, die nicht überfordern, und doch im Miteinander aufleuchten lassen, wie in unserem Suchen nach neuen und guten Wegen das Ziel schon anklingen kann. Wie sehr verwandeln Großzügigkeit, Offenheit und das Bemühen, der anderen Person nicht zu schaden, unsere Begegnungen?
Heilung wird kommen
„Adventliche Reise ist“, so hat es Karl Rahner mal beschrieben, „wenn wir laufen und uns beim Lauf das entgegenkommen lassen, was wir selbst durch den Lauf nicht einholen würden, Gott, der uns insgeheim laufen ließ, wo wir meinten, nach unseren eigenen Zielen zu laufen, und uns sich selbst gibt, wo das Greifbare und Ergriffene uns entwunden wird, weil wir selbst Vorläufer sind und alles Ergriffene vorläufig bleibt.“ Mögen wir, Vorläuferinnen und Vorläufer des entgegenkommenden Gottes in allen Begrenzungen und Unsicherheiten, an den Umbrüchen des Lebens und im Scheitern zu spüren bekommen, dass Heilung schon wird.
Christoph Kunz | Lk 3, 10 – 18