Inhaftierte aus mehreren Gefängnissen auf dem Gebiet des Erzbistum Paderborn waren bei der 3. Gefangenenwallfahrt in Werl. Das Wallfahrtsteam und die GefängnisseelsorgerInnen machten dabei keinen Unterschied, wer da kam – die Gefangenen wurden behandelt wie jede andere Pilgergruppe auch.

Die Wallfahrtskerze wurde in der JVA Bielefeld-Senne gestaltet. Foto: Wiedenhaus
Der Parkplatz füllt sich. In lockeren Gruppen stehen Männer zusammen, lachen, rauchen eine Zigarette. Die Gruppe aus Attendorn? „Fehlt noch!“ Die Werler ebenso – so ist das eben, wenn man die kürzeste Anreise hat. Ebenfalls auf dem Parkplatz: mehrere Kleinbusse mit blauem Streifen und dem Schriftzug „Justiz“. Denn die rund 50 Männer (und wenigen inhaftierten Frauen) zwischen 20 und 70 Jahren gehören zur 3. Gefangenenwallfahrt.
Normalität anbieten
Daniela Bröckl, Diözesanbeauftragte für Gefängnisseelsorge im Erzbistum Paderborn, schaut in die Runde. Rund 100 Menschen wird die Gruppe aus Gefangenen, Seelsorgerinnen und Seelsorgern sowie Justizvollzugsbeamten groß sein. „Die Leute kommen aus dem offenen und geschlossenen Vollzug“, erklärt sie. Auch Menschen aus der Sicherungsverwahrung dürfen teilnehmen. Sie werden begleitet. Wallfahrtsseelsorgerin Ursula Altehenger gesellt sich dazu, hat noch Fragen zum Ablauf. Die sind schnell geklärt und so beginnt die Gefangenenwallfahrt im Heiligen Jahr 2025. „Wir versuchen keinen Unterschied zu anderen Pilgergruppen zu machen“, sagt Ursula Altehenger. Warum jemand im Gefängnis sitzt, das interessiert niemanden vom Wallfahrtsteam – sie wissen es auch nicht. „Wir möchten jeden als Menschen behandeln und ein Stück Normalität bieten“, so Altehenger. Doch ein einfacher Ausflug wird das Ganze auch nicht, was sich bereits an der ersten Station nach dem Frühstück zeigt.
Schlüssel für Türen
Es geht zur Gänsevöhde, einer Kapelle neben der Werler Stadthalle. Auf dem Weg aus der Innenstadt zur Kapelle gab es Szenenapplaus – ausgerechnet für die Polizei. Denn die Beamten hatten kurzerhand die Kreuzung abgesperrt, um die Gruppe gefahrlos passieren zu lassen. Ob sie wohl wussten, wer da vor ihrem Bulli hergeht? Sehen konnte man es nicht, oder – um es mit Daniela Bröckl zu sagen: „Man kann nicht erkennen, wer Gefangener ist und wer nicht.“ Eben ein Stück Normalität für Menschen, die sonst schnell von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Vor der Gänsevöhde gab es die Gelegenheit, über Hoffnungssymbole nachzudenken – was nicht unbedingt leicht fällt. Seelsorger Johannes Lange steht mit sechs Männern im Kreis. Welches Symbol steht überhaupt für Hoffnung? Die Männer schweigen lange, so recht mag niemand anfangen. „Für mich ist es die Friedenstaube“, wirft Lange in die Runde – breite Zustimmung. „Das Kreuz steht für den wahren Gott“, sagt ein Gefangener und dann bricht das Eis. „Der Schlüssel schließt die Tür zur Zukunft auf“, sagt ein anderer – und er soll die Tür zur Vergangenheit abschließen. Den Männern fällt zudem auf, dass manche Symbole zwei Seiten haben. Der Anker zum Beispiel könne ein Schiff nach unten ziehen und diesen Weg kennen die Männer zur Genüge. „Er kann aber auch Sicherheit im Hafen oder bei einem Sturm bieten“, gibt Lange zu Bedenken.
Durch Heilige Pforte gehen
Währenddessen gesellt sich der Wallfahrtsseelsorger Stephan Mockenhaupt zur Gruppe, umrahmt von erwachsenen Ministrantinnen und Ministranten. Sie tragen die Banner, die alle Pilgerinnen und Pilger zur Basilika begleiten – da gibt es keine Ausnahme bei der Gefangenenwallfahrt. Gemeinsam geht es zurück. Die Wallfahrtsbasilika betreten die Pilger allerdings nicht durch das Hauptportal, sie nutzen die Heilige Pforte. Ursula Altehenger erklärt die Bedeutung, die Verbindung nach Rom, die die Pforte symbolisiert. Ganz bewusst sollen die Gefangenen hindurch gehen. In der Kirche spricht Pastor Mockenhaupt zu den Pilgern. Er weist auf die Marienstatue hin. „Maria ist uns Menschen nah. Sie kennt alle Höhen und Tiefen des Lebens.“ Und sie habe beides ertragen, weil sie auf Gott vertraute. Als Höhepunkt wird die Wallfahrtskerze entzündet, die in der JVA Bielefeld-Senne gestaltet wurde. Ihr zentrales Thema sind Türen, die sich im Leben öffnen können.
Nach dem kurzen Impuls und dem Segen ist Zeit für Selfies. Die Statue der Muttergottes ist ein beliebtes Motiv, ebenso der Altarraum. Die Stimmung ist locker, teilweise ausgelassen. Mittendrin steht ein Mann, der mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen versunken betet. Wenig später ist er in der Krypta, sitzt ein wenig abseits. Hier läuft leise Gitarrenmusik, das Licht ist gedämpft. „Hoffnung mit allen Sinnen“ ist diese Station überschrieben. „Wie fühlt sich Hoffnung für dich an?“ Die Pilger können ihre Gedanken aufschreiben – und sie tun es. In der ersten Reihe sitzen vier junge Männer, lässig-schick gekleidet. Vorher hielt sich die kleine Gruppe eher abseits, jetzt schreiben sie. Dabei sind sie still, lassen sich nicht ablenken.
Hintergrund
Seit 1661 wallfahren und pilgern die Menschen zur „Trösterin der Betrübten“ nach Werl. Auf dem Programm stehen 2025 unter anderem eine Wallfahrt der Großeltern mit ihren Enkeln (6. September), die 3. Oldtimer-Wallfahrt (7. September) sowie die Diözesanwallfahrt des Erzbistums Paderborn zum Heiligen Jahr der Hoffnung 2025 (13. September).
Küster in der JVA
Im Klostergarten ist Guido unterwegs, unterhält sich mit anderen Gefangenen. Er hat einen besonderen Job, ist Küster in der JVA Bielefeld-Senne. So ungewöhnlich findet Guido die Aufgabe allerdings nicht. „Ich verteile Gesangsbücher und Zettel, halte den Raum sauber.“ Er habe sich schlicht auf die Stellenausschreibung gemeldet. Mit der Kirche hatte er nicht viel am Hut, zumindest die ersten Jahre in Haft nicht. „Du kommst hier nicht alleine durch“, sagt Guido inzwischen. Das sei ihm im Laufe der Jahre hinter Gittern klar geworden. Überhaupt Arbeit – wie wichtig eine sinnvolle Beschäftigung ist, wird vielen Gefangenen nach und nach klar. Ein älterer Mann mit vielen Tattoos ist froh, dass er nach seiner Haftentlassung wieder bei seiner alten Firma anfangen kann. Sonst habe er draußen keine Chance. Und im Gefängnis keine Arbeit zu haben, „da würde man durchdrehen“. Der Mann zieht weiter. Im Konferenz- sowie im Meditationsraum des Wallfahrtzentrums liegen Postkarten beziehungsweise Karten mit Sinnsprüchen aus. „Das Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt“, „Du kannst die Welle nicht stoppen. Aber du kannst lernen, auf ihr zu surfen“ – die Männer suchen sich eifrig solche Hoffnungsbilder aus. Ob sie vielleicht als Motivation dienen, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen?
Seelsorge hinter Gittern
Gegen Mittag kommt ein weiterer Gast an. Weihbischof Josef Holtkotte will mit den Gefangenen Gottesdienst feiern. „Ich bin sehr gerne gekommen“, betont der Weihbischof, der auch den ein oder anderen Inhaftierte wiedererkennt von seinen Visitationen in Gefängnissen. „Ich möchte auch dorthin gehen, wo ich noch nicht war.“ „Nach Hamm“, kam spontan eine Einladung. In seiner Predigt sprach der Weihbischof dann von Hoffnung, die etwas viel Tieferes als der zumeist oberflächliche Optimismus sei. „Da wurden ihre Augen aufgetan“, zitierte er das Emmaus-Evangelium. Gleichzeitig sei das sein Wahlspruch zur Priesterweihe gewesen. Den Anwesenden wünschte er solche Momente der Erleuchtung für ihren weiteren Lebensweg. Zuvor hatte Holtkotte betont, wie wichtig die Seelsorge hinter Gittern sei. Wie geht es nach der Haftentlassung weiter? Was brauchen Menschen, um wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen? Diese Fragen treiben den Weihbischof um.
Obwohl längst nicht alle Pilger Christen oder überhaupt gläubig sind, scheint sich dieser ungewöhnliche Ausflug gelohnt zu haben. Der Gottesdienst hatte ein festliches Ambiente. Ruhig und andächtig hörten die Männer zu und vielleicht haben sie gespürt: Alleine kannst du es nicht schaffen. Guido kann das jedenfalls bestätigen. Mehr lesen…
Andreas Wiedenhaus, Wolfgang Maas | Der Dom
Tielfotos: Michael King
1 Rückmeldung
Ob Gefangene solch eine Wallfahrt für sich als Normalität sehen, mag ich bezweifeln. Für viele der Menschen ist solch eine religiöse Veranstaltung eher unnormal. Ich möchte nichts generalisieren, aber man kann davon ausgehen, dass die meisten der inhaftierten Menschen mit Kirche nichts (mehr) oder noch nie etwas am Hut hatten. Sie sind bekenntnisfrei, Muslime, Jesiden oder haben noch eine wage Erinnerung an eine christliche Taufe. Oder die sind einfach nur „normal“. Die Fahrt „nach draußen“ ist eher eine willkommene Abwechslung mit christlichem Tatsch.
Ist die Frage, ob der Tag mit den Lichtern und dem Beichtangebot, eine heimliche Faszination auslöst. Dies besonders angesichts der katholischen Liturgie und des „heiligen“ Weihbischofs mit seinen mächtigen (Macht-)Symbolen. Oder wird mit diesem Event unterschwellig versucht zum (katholischen) Christentum zu missionieren? Die Kommunion bei der Eucharistiefeier haben zumindest nicht nur fromme Katholiken empfangen. „Die Welt der Katholiken ist nicht normal“, sagt einer und spielt auf die vielen Gegebenheiten wie die Gleichstellung von Frauen oder die Sexualmoral an. Manche finden das toll.
Immerhin haben die Gefangenen einen schönen Tag erlebt. Was sie daraus wohl mitnehmen? Eine schöne Postkarte mit einem netten Spruch? Den persönlichen Segen am Ende des Gottesdienstes haben manche zumindest als Zuwendung oder gar einer Stärkung erfahren. Doch manche rennen dem Segen der Katholischen Kirche nicht hinterher.