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Gefangen als Mann: Als Transfrau im Männerknast

9. Januar 2023

Annemarie House lebt jahrelang als Frau, dann kommt sie in ein Männergefängnis – und kämpft gegen Körperhaare und die Justiz. Seit Annemarie House wieder draußen ist, scheut sie andere Menschen. Wenn sie in ihrer Zelle in den Spiegel schaute, sah sie einen Mann. Die Barthaare kamen zurück, die Brusthaare, das wenige Kopfhaar, das sie noch hatte. Wie gern hätte sie sich rasiert, geschminkt, ihre Perücke aufgesetzt.

Aber Schminke und Perücke bekam sie im Knast nicht, die Einwegrasierer schnitten ihr in die Haut, sie bekam rote Pusteln von der Rasierseife. Am liebsten hätte sie dieses verhasste Rechteck über dem Waschbecken mit einem Handtuch verhängt. Damit der Mann endlich weg war, „der Mann mit den Silikontitten und den roten Fingernägeln“, so erzählt sie es. Aber auch das war verboten. Also schaute sie zu, wie sie sich langsam zurückverwandelte, wie ein Werwolf bei Vollmond. Annemarie House, 53, war fast zwei Jahre in Haft wegen Betrugs. „Strafvollzug muss sein.“ Das betont sie immer wieder. Sie beschwert sich nicht, dass sie eingesperrt war. Sie beschwert sich, dass sie als Mann eingesperrt war. „Mit einem weiblichen Eintrag im Pass und einem Penis in der Hose ist die Justiz überfordert.“

An einem heißen Tag Ende Juni sitzt Annemarie House an ihrem Küchentisch in einem Dorf in der Oberpfalz, eine Transfrau mit roten Lippen und perfekt frisiertem Bob, in der Nase blitzt ein Strasssteinchen. Vor sich breitet sie Briefe, Entlassungsscheine, Arztberichte aus – alles, womit sie beweisen will, dass ihr in den vergangen zwei Jahren Unrecht angetan wurde. Vier Stunden lang wird sie ihre komplizierte Geschichte erzählen, mit ihrer tiefen, wütenden Stimme. Energisch tippt sie mit dem Plastikfingernagel auf ein Blatt Papier. „So hat man mich gehalten.“ Das Schwarz-Weiß-Foto auf dem Entlassungsschein der JVA Aichach zeigt ein trauriges Gesicht mit Bartstoppeln und Glatze. Die Frau ist nicht wiederzuerkennen. „Diese Demütigung richtet Schäden an, die bleiben.“ Depressionen etwa, die sich verschlimmerten, Ängste, Selbstzweifel.

„Schwanzlady“, riefen die anderen Häftlinge beim Hofgang

Sie erinnert sich, wie ihr die anderen Häftlinge beim Hofgang „Tittenschwuchtel“ und „Schwanzlady“ zuriefen. Wie eine Bedienstete fragte, ob sie in Rotlichtbars gehe. Wie sie in Hotpants vor dem Ermittlungsrichter stand, voller Angst, die männlichen Geschlechtsteile könnten herausrutschen, weil die Polizei ihr die Strumpfhose auf der Wache abgenommen hatte. Sie hätte sich ja daran erhängen können. Die deutsche Strafjustiz kennt nur zwei Geschlechter. „Frauen sind getrennt von Männern in besonderen Frauenanstalten unterzubringen“, heißt es im sogenannten Trennungsgrundsatz, Paragraf 140 Strafgesetzbuch. Die Wörter trans, inter und divers tauchen dort nicht auf. Seit Ende 2018 kann man sich zwar „divers“ in den Pass eintragen lassen, wie viele Diverse oder Transgender in Deutschland inhaftiert sind, wird aber nicht erhoben. Für Bayern weiß das Staatsministerium für Justiz immerhin eine Zahl von 2019: sechs. Damals hatte Tessa Ganserer nachgefragt, Grünen-Politikerin und Transfrau. Seither hat keiner mehr nachgezählt.

„Uns gibt es nicht“, sagt Annemarie House. Die Gefängnisse wüssten einfach nicht, wie sie mit Transgendern umgehen sollen. „Man denkt, ich spiele eine Frau.“ Und dann vergleicht sie sich mit einem Blauwal. Wer einen Blauwal einsperren wolle, müsse auch für Wasser sorgen. Ihr Wasser sind Perücken, Rasierer oder Laserepilierer, die gegen ihre Bartstoppeln ankommen, Spezialkosmetik, die ihre Haut glättet, den Bartschatten abdeckt. All die Werkzeuge, die für sie so wichtig sind, um sich weiblich zu fühlen, um als Frau wahrgenommen zu werden, bekam sie in Haft nicht. Vor 53 Jahren wurde Annemarie House in Österreich im Körper eines Jungen geboren. Schon als Kind trug sie gern die Strumpfhosen ihrer Schwester, an Fasching verkleidete sie sich als Mädchen. Das fühlte sich gut an, aber Fasching ist nur einmal im Jahr. Mit 30 fuhr sie in andere Städte, um in Röcken und hohen Schuhen durch die Fußgängerzone zu gehen. „Möchte die Dame noch etwas trinken?“, fragte ein Kellner in einer Pizzeria. Den Tag wird sie nie vergessen. Doch es dauerte noch 15 Jahre, bis sie in Österreich ihren Namen und ihren Geschlechtseintrag änderte. Sie ließ sich die Brüste operieren, zog nach Bayern, ging nur noch als Frau zurechtgemacht vor die Tür. „Es war unmöglich, aus dem Haus zu gehen, ohne dass sie geschminkt war“, sagt ihre ehemalige Partnerin am Telefon. „Sie hatte immer einen Koffer Ersatzperücken dabei, falls ein Vogel draufmacht. Das Aussehen war elementar für sie.“

Sie ist nicht die einzige Transfrau, die sich falsch einsortiert fühlte. Da gibt es noch andere… „Uns gibt es nicht“, sagt Annemarie House. Die Gefängnisse wüssten einfach nicht, wie sie mit Transgendern umgehen sollen. Symbolfoto: Adobe Stock

Der männliche Pass, den sie noch hatte, brachte Annemarie House auf die dumme Idee, die alles ändern wird: Sie könnte sich doch unter ihrem alten Namen selbst anstellen, krankmelden und mehrfach von der Krankenkasse und vom Jobcenter kassieren. Sie wusste, dass sie dafür eingesperrt werden kann. Doch sie ahnte nicht, dass die Strafjustiz sie an ihrer empfindlichsten Stelle treffen wird: ihrer Geschlechtsidentität. Im Juli 2020 wurde Annemarie House festgenommen und kam in ein Männergefängnis, erst in Nürnberg, dann in Weiden. Der Staatsanwaltschaft Weiden lag ihre weibliche Geburtsurkunde vor, die man in Österreich mit der Namensänderung bekommt. Aber auch ihr männlicher deutscher Pass. House sei in eine Männeranstalt gekommen, weil ihre Geschlechtsidentität zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend geklärt werden konnte, schreibt die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage. Sie habe selbst unterschiedliche Angaben gemacht. Annemarie House widerspricht.

Nicht alles lässt sich nachprüfen, was sie erzählt. Konfrontiert man die vier Gefängnisse, in denen sie war, mit all den Vorwürfen, widersprechen sie in manchen Punkten: Die JVA Weiden und die JVA Regensburg geben an, House sei Spezialkosmetik genehmigt worden – zumindest laut Erinnerung Beamter. Die Anstalten in Aichach und Regensburg behaupten, eine Perücke sei bewilligt worden. Andere Fragen bleiben unbeantwortet, der Arbeitsaufwand sei zu hoch, die Akte sei weitergegeben worden, man erinnere sich nicht mehr. Es klingt, als sei bei Annemarie House alles richtig verlaufen. Doch warum kommt ein Mensch, dessen Geschlecht angeblich unklar ist, in den Männervollzug? Wie transgeschlechtliche Gefangene untergebracht werden, werde „gemeinsam mit der betroffenen Person einzelfallbezogen unter Einbindung des ärztlichen, psychologischen und sozialpädagogischen Dienstes“ entschieden, heißt es vom bayerischen Justizministerium. Annemarie House sagt, sie habe keiner gefragt.

„Man denkt, ich spiele eine Frau“

Sie ist nicht die einzige Transfrau, die sich falsch einsortiert fühlte. Da ist Diana O., die 2019 trotz weiblichen Personenstands im Münchner Männergefängnis saß. Da ist Alexia Metge, die berichtet, 2018 in Nordrhein-Westfalen nur ins Frauengefängnis gekommen zu sein, weil sie darauf bestand. Und da ist die Transfrau, die sich im Februar im Hamburger Männergefängnis erhängt hat. Es ist nicht so, dass es eine einfache Lösung gibt. Separate Gefängnisse für trans und nonbinäre Häftlinge würden sich nicht lohnen – und würden diese auch wieder absondern. Und natürlich erfordert es mehr Aufwand, mehr Personal, mehr Wissen, wenn Gefangene separat duschen dürfen, wenn sie Hormone, Logopäden, Operationen brauchen. Die Lösung vieler Gefängnisse: Sie stecken sie in Einzelhaft. Zumindest in Bayern ist das laut Justizministerium die Regel.

Auch Annemarie House war monatelang in Einzelhaft, sagt sie. Im Männergefängnis war ihr das recht. „Ich hatte keine Lust, vergewaltigt zu werden“, sagt sie sarkastisch. Selbst beim Hofgang war sie von den Mitgefangenen getrennt, doch die Männer konnten sie aus ihren Zellen sehen, also verschränkte sie die Arme, damit man ihre Brüste nicht sehen konnte. Und Alleinsein zermürbt. Nach drei Wochen in der JVA Weiden beklagte ihr Verteidiger bei einem Haftprüfungstermin, dass sie sich quasi in 23-stündiger Isolationshaft befinde. Sie fühle sich als Frau, betont er laut Protokoll, ihre Gefühlslage sei schwer beeinträchtigt. Dennoch blieb sie dort weitere sieben Monate. Dann wurde sie in die JVA Regensburg verlegt, Frauenabteilung. Sie habe Druck ausgeübt über das österreichische Konsulat, sagt House. Unterlagen des Konsulats hätten neue Erkenntnisse gebracht, sagt die Staatsanwaltschaft. Auch in Regensburg war Annemarie House in Einzelhaft. Kontakt zu anderen Gefangenen bekam sie nur unter Aufsicht. Denn sie hat ja noch männliche Geschlechtsteile. „Ich wurde nur auf dieses Stück Fleisch reduziert“, sagt sie am Küchentisch und erhebt die Stimme. Draußen hatte sie der Penis nicht gehindert, sich als Frau zu fühlen, zu risikoreich war ihr die Operation. Drinnen machte er sie aus Sicht der Anstalt zur möglichen Gefahr für die anderen Frauen. Dieses Stück Fleisch, das sie nie wollte. Wenn sie duschte, waren da zwei abgeschlossene Türen zwischen ihr und den anderen Frauen, so erzählt sie es.

Zur Hauptverhandlung im Frühjahr 2021 musste Annemarie House ohne Perücke gehen. Ein Zeitungsfoto zeigte sie mit Mütze, weißer Jeans und Turnschuhen. Der Richter sprach sie immer wieder als „Herr“ an. „Ich komm ganz durcheinander vor lauter männlich und weiblich“, zitierte ihn Der Neue Tag. Das Urteil: drei Jahre und drei Monate Haft. Über ihrem Bett in der Oberpfalz hängt das Foto einer blonden Frau in Pumps und Minirock. Es ist vergrößert und auf Leinwand gedruckt. „Kein Photoshop“, betont Annemarie House. Sie hatte sich das Bild in klein in die JVA Aichach schicken lassen, in die sie nach dem Urteil verlegt worden war, zeigte es den anderen Frauen, damit die wissen, wer sie eigentlich war. Denn auch dort habe sie mit Glatze und Bartstoppeln herumlaufen müssen. Sie wehrte sich, ging den Beamtinnen auf die Nerven, schrieb 300 Anträge. Auf Arbeit, auf Auskunft, auf Akteneinsicht, auf Operation. Fast keiner wurde bewilligt, sagt sie. Nach einem halben Jahr in Aichach gab das Gefängnis ein psychologisches Gutachten in Auftrag, um zu prüfen, ob Annemarie House im Frauenvollzug tatsächlich richtig war. „Man wollte mich loswerden“, sagt sie. Doch das Gutachten ergab, dass sie blieb.

Im Garten in der Oberpfalz streckt sie das Gesicht in die Sonne. Kater Kim Jong-un schleicht ihr um die Beine, unter dem Carport steht eine Kawasaki Ninja, ihr ganzer Stolz. Sie trägt jetzt gern eine getönte Brille, als könnte sie sich damit vor den Blicken schützen. „Zwei Jahre lang wurde ich als Mann angeschaut, jetzt ertrage ich keine Menschen mehr.“ Es kommt vor, dass sie bei dm jemand anstarrt, dann legt sie den Kajalstift hin, geht und bleibt den Rest des Tages zu Hause.

Man könne vermuten, dass die Anstalt einen „Problemfall“ loswerden wollte

Das Anwesen liegt am Rande eines Wäldchens, 300 Quadratmeter für sie allein. Bis zur nächsten Bushaltestelle sind es drei Kilometer. Manchmal huschen Füchse und Wildschweine durch den Garten. Sie ist froh, dass in ihrem Dorf nur ein paar Dutzend Menschen leben. Anfang Mai 2022 riss ihr auf dem Knastklo der Darm. Erst nach mehreren Stunden sei sie in ein Krankenhaus gebracht worden, sagt sie, Not-OP. Sie habe monatelang über Verstopfung geklagt, aber nur Flohsamen von der Anstaltsärztin bekommen. Das Gefängnis äußert sich dazu nicht. Ihre Haft wird unterbrochen, auch Ende Juni ist sie nur vorläufig draußen, greift sich immer wieder unter das kurze T-Shirt-Kleid, um den Stoma-Beutel zu richten, der am künstlichen Darmausgang hängt. Täglich nimmt sie ein Opioid gegen die Schmerzen, muss ständig neue Anträge stellen, damit ihre Haftunterbrechung verlängert wird und sie Geld vom Jobcenter bekommt.

Seit Anfang Oktober ist sie frei. Die zweite Hälfte ihrer Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. „Das passiert nur in wirklich seltenen Ausnahmefällen“, sagt ihr Anwalt Thomas Galli. Er hat früher zwei Gefängnisse geleitet und als Strafverteidiger bereits für viele Häftlinge versucht, eine vorzeitige Entlassung durchzusetzen. „Es ist schon sehr auffallend, dass sich bei Frau House auch die Anstalt dafür ausgesprochen hat.“ Daraus könne man zwei Vermutungen ableiten: dass die Anstalt einen „Problemfall“ loswerden wollte – und dass dort möglicherweise einiges falsch gemacht wurde. Annemarie House ist wegen Depressionen in Behandlung. Sie hat sich mehrere Anwälte genommen, klagt unter anderem wegen Körperverletzung im Amt. Am liebsten sitzt sie jetzt allein zu Hause, bei Kim Jong-un und der Kawasaki. Kocht für sich selbst, deckt den Tisch, so richtig mit Deckchen, und hört „You want it darker“ von Leonard Cohen, volle Lautstärke. Manchmal liegen Zettel in ihrem Briefkasten. „Tunte“, steht da, „Tittentranse“, oder „bück dich nicht nach der Seife“, solche Sachen. Es hat sich herumgesprochen, dass sie wieder draußen ist. Irgendjemand hupt jetzt immer, wenn er vorbeifährt, frühmorgens, nachts, egal wann. Neulich hing plötzlich ein BH in den Ästen der Rotbuche in der Einfahrt. „Vielleicht passt er mir ja, sonst schmeiß ich ihn weg“, sagt Annemarie House. Aber wegziehen? „Ich bin Schlimmeres gewohnt.“

Veronika Wulf , Bearbeitung Titelfoto: Jessy Asmus | Lizenziert Süddeutsche Zeitung 26.11.2022

 

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