„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ heißt es im Matthäusevangelium der Bibel (Mt 20, 20). Wo Christen sich im Namen Jesu Christi versammeln, um das Wort Gottes zu lesen oder zu hören, ihren Glauben und ihr Leben zu feiern, ihre Fragen, Sorgen und Probleme im Gebet vor Gott tragen und einander respektieren und unterstützen, dort ist christliche Gemeinde. Dies geschieht überall, ist an keinen Ort gebunden, bedarf auch nicht der Anwesenheit eines Priesters, Diakons, Pastoral- oder Gemeindereferenten.
SeelsorgerInnen verstehen sich als mehr denn als GottesdienstleiterInnen, BibelerzählerInnen oder – wenn es Priester sind – als Beichtväter. Heutige GefängnisseelsorgerInnen verstehen sich mehr als TabakverteilerInnen. Sie stehen den Inhaftierten nicht nur für Einzelgespräche zur Verfügung, wozu sich die Inhaftierten per Antrag melden müssen. Heutige GefängnisseelsorgerInnen laden die Inhaftierten zu Gesprächs- und Gottesdienstvorbereitungs-Gruppen ein, sie holen Projekte in die Anstalt, wo die Inhaftierten Theater spielen, Musik machen oder an Selbsterfahrungsseminaren teilnehmen.
In den Gefängnissen finden sich vier Grundvollzüge christlicher Gemeinden: Martyria (Verkündigung des Glaubens in Gottesdienst und Gruppengesprächen), Liturgie (Gottesdienste, wo das Leben und die Nöte der Inhaftierten zur Sprache kommen), Diakonia (Seelsorgegelder für bedürftige Gefangene, Selbsthilfegruppen) und Koinonia (Gruppen und gemeinsame Feste) – alles im Rahmen der Möglichkeiten, die der Vollzug gibt. In diesem Sinne ist das Gefängnis eine richtige Gemeinde. Ein anderes Wort für Gemeinde, das im Rahmen der Überlegungen zur Zukunft der Pastoral im Erzbistum Köln die Runde macht, ist der „Kirchort“.
Überlegungen zur Zukunft der Pastoral werden auf dem sogenannten „Pastoralen Zukunftsweg“ angestellt. Beteiligt sind nicht nur einige Fachleute oder die Beratungsgremien des Erzbischofs oder die kirchlichen Verbände. Beteiligt sind viele Ehrenamtliche und Hauptamtliche aus den Gemeinden und den Bereichen der Sonderseelsorge (Krankenhaus-, Gefängnis-, Psychiatrie-, Schul-, Feuerwehr- und Notfallseelsorge). Vor vier Jahren hat der damals neue Kölner Erzbischof zu einem geistlichen Prozess der Erneuerung von Kirche und Pastoral aufgerufen und den Pastoralen Zukunftsweg ausgerufen.
Begleitet wird dieser als geistlicher Weg gewünschte Zukunftsweg von den Fastenhirtenbriefen des Erzbischofs. Kardinal Woelki hat keine klar umrissene Vision, auf welche die Christen im Erzbistum hinsteuern sollen, er gibt kein pastorales Rahmenkonzept vor, welches die Teilnehmenden auf dem Zukunftsweg mit konkreten Konzepten füllen sollen. Ausgehend von der Lektüre der Heiligen Schrift sollen alle oder möglichst viele Getaufte und Gefirmte selbst überlegen, wie in der Gegenwart und in der Zukunft den Menschen die Frohe Botschaft verkündet werden kann und wo sie den Glauben feiern.
So weit so gut. Der Erzbischof und die ihn beratenden Mitglieder der Bistumsleitung haben offensichtlich aber nur die Territorialseelsorge, also die Gemeinden und Pfarreien, im Blick. Die kategorialen Aufgabenfelder der Pastoral kommen in seinen Papieren und Verlautbarungen kaum oder gar nicht vor. In den Pfarreien, in denen Einrichtungen wie etwa ein Krankenhaus, ein Gefängnis oder die erzbischöfliche Schule liegen, soll die Seelsorge in diesen Einrichtungen nach Möglichkeit von den Gemeindeseelsorgern mit übernommen werden. Hier stellen sich mir viele Fragen.
Zweifelsohne gibt es richtige und wichtige Ansätze in den Überlegungen des Pastoralen Zukunftsweges. Etwa der Begriff des Kirchortes. In den territorial immer größer werdenden Pfarreien gibt es zahlreiche Kirchen, Kapellen, kirchliche Einrichtungen mit und ohne eigene Kapelle und kirchliche Verbände. An vielen dieser Orte wird der Glauben verkündet und gefeiert, wird der notleidende Nächste unterstützt. In diesem Sinne ist etwa eine katholische Kindertagesstätte, ein katholisches Seniorenheim oder eine von der Kirchengemeinde getragene Offene Jugendeinrichtung ein Kirchort.
In demselben Sinne ist auch ein Krankenhaus, ein Gefängnis, eine psychiatrische Klinik oder eine Begegnungsstätte für psychisch kranke Menschen ein Kirchort. Problem dabei ist: Viele der Leitenden Pfarrer vor Ort haben diese besonderen Kirchorte nicht im Blick. Sie fühlen sich nur für die Menschen in den ehemals selbständigen Pfarreien zuständig. Oft haben sie nicht einmal selber Kontakt in diese besonderen Einrichtungen und zu denen dort arbeitenden hauptberuflichen Seelsorgern, wenn es diese noch gibt. In diesen Einrichtungen müssen die SeelsorgerInnen fest verankert, Teil des Systems sein, wenn sie nicht nur zur Krankensalbung oder zur Feier der Eucharistie anreisen. Dazu bedarf es einer qualifizierten Ausbildung, um dort professionell wirken und von den anderen Fachdiensten ernstgenommen zu werden.
Wenn im Gefängnis eine Gemeinde, ein Kirchort entstehen, wachsen und leben soll, bedarf es besonders qualifizierter SeelsorgerInnen, die drinnen mit ihrem Schlüssel die Gefangenen zur Gesprächs-, Gottesdienst- oder Projektgruppe abholen und wieder in die Hafträume zurückbringen können. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit, die eine Gefängnisgemeinde von einer Gemeinde draußen unterscheidet: Die Gefängnisseelsorge richtet sich an alle Inhaftierten. Insofern spielen Taufe und Firmung im Gefängnis nicht die Rolle, die sie in den Überlegungen zum Pastoralen Zukunftsweg spielen.
Wenn Kirche in der Welt von heute eine Zukunft haben will, darf sie sich nicht auf die Feier der Eucharistie, auf die Kontakte zu der sogenannten Kerngemeinde und auf die Sakramentenspendung an den Lebenswenden beschränken. Wenn Kirche in der Welt von heute eine Zukunft haben will, muss ihre Verkündigung und ihr diakonisches Handeln sich an alle Menschen eines Dorfes, eines Stadtteils, einer Stadt richten. Hier kann die Gefängnisseelsorge ein Vorbild sein. Zu einer solchen Gemeinde der Zukunft zählen nicht nur Getaufte und Gefirmte.
Robert Eiteneuer