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Für das Gute? Interview mit dem ehemaligen Knastarzt Joe Bausch

17. Februar 2023

Deutschlands berühmtester „Knastarzt“ Joe Bausch, der den Gerichtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner „Tatort“ verkörpert, ist in der HERDER-Korrespondenz mit der Redakteurin Hilde Naurath im Gespräch. Das Interview „Gegen das Gute“ geht über Schuld und Reue, Nächsten- und Feindesliebe, Gefängnisseelsorge und die Gewissensfrage. Die Knast-Erfahrungen von Bausch zeigen wie „hoch die Ansprüche des Christentums“ und der Gefängnisseelsorge im 21. Jahrhundert geworden sind.

„Die Zeit von Büßen und Beten ist längst vorbei, aber das Angebot wird wahrgenommen; ein bisschen weniger, seit klar ist, dass es kein ungestörter Platz für Drogengeschäfte ist. Viele Gefangene brauchen die Gefängnisseelsorge zum Beispiel für die dringende Verbindung nach draußen, für die Möglichkeit, mal zusätzlich und länger mit jemandem zu telefonieren, ohne vorher Anträge zu stellen. Die Gefängnisseelsorge verfügt über eine freie Leitung, Verbindungsdaten werden nicht registriert, die Gespräche von niemandem sonst mitgehört. Im Gefängnis hat nur derjenige Bedeutung, der Vorteile verschaffen kann. Religiosität ist dagegen mühevoller“, so Bausch. Das schmerzliche Konfrontiertsein mit dem Glaubensschwund und der fortschreitenden Säkularisierung in der Gesellschaft, sowie im eigenen Lebensumfeld machen auch vor Knastmauern keinen Halt. Als niederländischer Diakon im Bistum Fulda und katholischer Gefängnisseelsorger in den Justizvollzugsanstalten Hünfeld und Fulda, möchte ich mich mit dieser Thematik unter dem Titel „Für das Gute?!“ in Form einer ‚KNAST-Korrespondenz‘ weiter auseinandersetzen. Dabei bedanke ich mich zuerst beim pensionierten Gefängnisarzt und Spiegel-Bestsellerautor Joe Bausch, sowohl für das gegebene HERDER-Interview, als auch für seine scharfe Wahrnehmung und seinen langjährigen Einsatz hinter ‚schwedischen Gardinen.‘

Eingang zur Kammer: Erster Eindruck bei der Gefangenenaufnahme mit historischen Gegenständen der Justizvollzugsanstalt (JVA) Herford.

Sinnfrage – Abgrund versus Glaube

Viele Gefangene haben sich über die Jahre Gefängnisarzt Joe Bausch anvertraut und ihn tief in den Abgrund und das Leid ihrer Seele blicken lassen. Diese Geschichten gehen unter die Haut und damit werden Leserschaft und Zuhörer erreicht. Mit anderen einflussreichen Wissenschaftlern und Denkern im Hintergrund konnte man leider beim Lesen der HERDER-Korrespondenz auch feststellen, dass die Intensität dieses Austausches bei Bausch, wenn es um die Sinnfrage oder die menschliche Reifung und Entwicklung geht, doch zugleich begrenzt ist. Auch besteht die Gefahr, beeinflusst zu werden von überzeichnender Redeform und Knast-Platitüden, wie im Interview deutlich wird. Bei der Suche nach Wahrheit im Gefängnis kommt unausweichlich die Sinnfrage ins Spiel. Mit dem österreichischen Neurologen Viktor E. Frankl (1905-1997) könnte man fragen, ob im menschlichen Leid wirklich Sinn zu finden sei. Und ob das ‚Gute‘ und ‚Wahre‘ Leben nicht eher als Prozess denn als Daseinszustand zu verstehen ist, wie es der US-amerikanische Psychologe Carl Rogers (1902-1987) sieht. Überzeugt, dass ohne Leiden wohl kaum eine menschliche Reifung stattfindet, hat evangelischer Kollege Pfarrer Dr. Andreas Leipold mich freundlich ermutigt, diesen Artikel zu schreiben und der Sache auf den Grund zu gehen.

Büßen und Beten längst vorbei?

Im Hinblick auf das Christentum –„das auf Gewissen und auf Reue setzt“, stellt das HERDER-Interview mit Joe Bausch wichtige Fragen: Ob Verbrecher ein Gewissen haben; Ob denn die Vorstellung einer Gerechtigkeit im Jenseits eine Rolle spiele; Wie die Bilder von einem strafenden oder einem gütigen Gott im Gefängnis wirken; Wie gut Gottesdienste besucht werden? Die Interviewerin Hilde Naurath betont, dass „die Kirchen stolz sind auf ihre Gefängnisseelsorge“ und fragt Joe Bausch nach seinen Erfahrungen. Im Interview spricht Joe Bausch gerade über Seelsorge leider wenig. Man könnte den Eindruck bekommen, dass Seelsorge ihm irgendwie suspekt sei. Er hat für sich ganz klar entschieden, wie er den Gefangenen sieht. Bei der Antwort auf die Frage: „Sind Psychopathen fähig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden?“ kommt sein mechanistisches Menschenbild (der Mensch als eine ‚komplexe Maschine‘) zum Vorschein. Er versucht konzeptmäßig das Verhalten von Menschen („Verbrechen im Kopf“) ohne weitere Introspektion oder Einfühlung zu untersuchen und zu erklären. Er sieht die Menschen statistisch, man könnte sagen, als eine Art ‚Computer‘: so funktioniert er… „Hardware Fehler“… „Absturz der Software.“ Das hat er auch regelrecht so formuliert. Und dann die Frage nach dem Gewissen. Seine Antwort: „Ein funktionierendes Gewissen ist nicht vorgesehen.“ Als SeelsorgerIn könnte man hier ironisch ergänzen: Ja, es ist klar, ein Computer hat kein Gewissen…

Es ist wichtig, die Antworten von Joe Bausch, die ein indirektes Menschenbild transportieren, zu rekonstruieren. Von dort aus wird auch seine Bewertung der Gefängnisseelsorger und der Kirche, sowie sein Bild von den individuellen Gefangenen deutlicher. Ich finde, es ist klar, dass es ihm um Seelsorge oder christliche Bezüge oder etwas Geistiges in Beziehung zu Gott und den Menschen überhaupt nicht geht! So weiß er nichts anderes von Seelsorge als über „die Schweigepflicht und das Beichtgeheimnis“ zu reden und dass der „Seelsorger und der Arzt die einzigen Berufe im Gefängnis sind, die von Amts wegen verschwiegen sein dürfen – oder müssen.“ In Bezug auf das Annehmen der kirchlichen und gottesdienstlichen Angebote sagt er: „Die Zeit von Büßen und Beten ist längst vorbei, aber das Angebot wird wahrgenommen; ein bisschen weniger, seit klar ist, dass es kein ungestörter Platz für Drogengeschäfte ist.“ Der Mediziner meint weiterhin, dass viele Gefangene die Gefängnisseelsorge nur benutzen wollen, für die „Verbindung nach draußen.“ Zum Beispiel für Telefonate, da die Gefängnisseelsorge „über eine freie Leitung verfügt.“ Er ist überzeugt, dass „im Gefängnis nur derjenige Bedeutung hat, der Vorteile [bei der Gefängnisseelsorge: Tabak und ähnliches] verschaffen kann. Religiosität ist dagegen mühevoller.“ Selbst Messdiener gewesen, denkt er allerdings positiv über die Liturgie im Knast: So leitet die Kirche die Inhaftierten „durch das Jahr.“ Die Knast-Wahrnehmungen von Joe Bausch sind, wie schon erwähnt, wertvoll. Er liegt auch nicht völlig falsch, in Nietzsches Perspektive, mit der Rede vom Abgrund, der sich zuweilen auftut, aber an mancher Stelle bleibt er einseitig und vor allem beim Thema „Seelsorge“, liegt er, meiner Meinung nach, völlig daneben. Die Seelsorge ist vielschichtiger und geht tiefer als einfache stereotype Bewertungen von Außenstehenden erahnen lassen. So ist es wichtig u.a. herauszufinden, wie weit die öffentlich geäußerten Knast-Einsichten von Joe Bausch für die Gefängnisseelsorge in Deutschland aber auch in der Schweiz und Österreich eine Bedeutung haben.

Blick in den Abgrund – „Jenseits von Gute und Böse?“

Während der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung das Böse im „Kollektiven Unbewussten“ – in einer Art gemeinschaftlichem Unterbewusstsein – ansiedelt, warnt der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse vor dem Abgrund und dem „gegenwärtigen Augenblick“ des Menschen: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Mit anderen Worten, das Böse ist nicht etwas Abstraktes oder Ungreifbares, das im gesellschaftlichen Unterbewusstsein immer mal wieder auftaucht. Nein, Nietzsche ist überzeugt, dass das „Ungeheuer“ und „die Abgründe“ des menschlichen Daseins viel konkreter und präsenter sind, als wir erahnen. Als Gefängniskollegen in der JVA Hünfeld und JVA Fulda sind wir uns wenigstens einig: Joe Bausch hat hinter Gittern, wo ganz eigene Regeln herrschen, aktiv Erfahrungen mit dem „Ungeheuer“ gemacht, hat sich getraut in die Abgründe hineinzuschauen und das, was ihn dabei anblickte, hat er über die Jahre in Talk-Shows, Interviews und einigen Büchern verarbeitet und weitergegeben.

Nicht zuletzt, auch auf Hinblick von Nietzsches Verständnis, müssen wir den erfahrenen Gefängnisarzt, der von den dunklen Seiten des Lebens erzählt, ernst nehmen. Keine Frage! Er hat in die Abgründe geschaut und nicht weggeschaut, etwas, was die wenigsten von uns sich trauen. Trotzdem kann und darf man solche Abgründe nicht instrumentalisieren, wie er es tut. Bedient Joe Bausch die Medien nicht mit seinem Bildnis vom Abgrund und dem, was diese Konfrontation mit ihm gemacht hat? Wie lange möchte er dann noch darüber reden? Er hätte z.B. wegen der Schweigepflicht, wie viele Ärzte das tun, seine Erfahrungen für sich behalten können. Wäre es dann nicht auch gut gewesen? Könnte man nicht auch feinfühliger, möglicherweise kreativer oder spiritueller mit dem Thema der gescheiterten Existenz umgehen? Die Sicht, die Joe Bausch auf die Seelsorge hat, ist jedenfalls beschränkt, seine Ausführungen sind stellenweise leider nichtssagend. Die HERDER-Korrespondenz hätte gut daran getan, zu diesem Aufgabenbereich einen erfahrenen Gefängnisseelsorger zu befragen. Das hätte den LeserInnen einen tieferen Einblick in die Chancen und Grenzen des seelsorgerischen Bemühens aufgezeigt. So war das aus der Sicht der Seelsorge, auf deutsch gesagt, nicht sonderlich zielführend…

Warum werden Menschen zum Schwerverbrecher? Joe Bausch sagt, „jedes Verbrechen beginnt im Kopf.“ Wirklich? Die biblische Weisheit sagt, nein! „Nicht nur aus dem Kopf“, oder „aus dem Gehirn“, sondern „aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein“ (Mk 7,21-23). Ein ganzheitlicher Blick auf den Menschen zeigt: aus seiner gewordenen Persönlichkeit, seinen positiven oder negativen Erfahrungen, erwächst das, was zu verhängnisvollen Entschlüssen führen kann. Mit anderen Worten, das Verbrechen geschieht nicht allein oder zuerst „im Kopf“, sondern kommt aus den Lebensgeschichten, aus allen möglichen Antrieben, die den Menschen bestimmen.

Insofern ist es sehr einseitig gedacht, dass das Verbrechen zunächst nur aus dem Kopf kommt. Die Gefängnisseelsorge versucht aus ihrer Sicht, soweit das möglich ist in einer JVA, mit einem ganzheitlichen Blick auf den Menschen in ihrer Gefangenschaft einzugehen, um so die unterschiedlichsten Facetten, die das Menschenleben beeinflusst haben, zu beleuchten. Es geht darum, in erster Linie auf die individuellen Personen zu blicken und nicht nur auf die Abgründe und das Kapitalverbrechen. Sollten wir stattdessen, vor allem im Gefängnis, nicht versuchen, die Würde des Menschen zu beachten? Aber wie geht das überhaupt? Was sehe ich? Wo liegt der Fokus?

Joe Bausch sagt im Interview, „wenn du eine Waffe einmal in der Hand hast, weißt du: Du benutzt sie auch.“ Die Fragestellung dahinter: ist es heute anders geworden in Bezug auf Gewalt? Er sagt im Interview, dass „neunzig Prozent der Menschen sich auch einen Mord zutrauen.“ Der US-amerikanischer Psychologe Philip Zimbardo (geb. 1933) hat mit seinem berühmten Stanford-Prison-Experiment (SPE) gezeigt, dass auch psychisch gesunde Menschen böse Dingen tun und sich sadistisch verhalten, wenn sie in einer ‚totalen Situation‘ gefangenen sind, die ideologisch legitimiert und mit Rollen und Regeln ausgestattet ist. Sein Experiment hat gezeigt, dass nur wenige der Atmosphäre in einem Gefängnis widerstehen können: „Die Grenze zwischen Gut und Böse, die man einst für undurchdringlich hielt, hat sich vielmehr als recht durchlässig erwiesen.“ So ähnlich spricht die jüdische politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) über die „Banalität des Bösen.“ Die Banalität besteht darin, dass das Böse von ganz normalen Menschen verübt wird, auch wenn keine Monster oder Teufel am Werk sind, dafür aber mangelnde Denk- und Urteilsfähigkeit. Das macht das Böse so erschreckend, da es wohl in allen angelegt zu sein scheint.

Wie kann man es vermeiden? Woran liegt das? Bei der Frage nach dem Potenzial des Guten in uns üben wir Zurückhaltung, dass trauen wir uns nicht zu, u.a. wegen der Fakten und Ergebnisse von Simulationsstudien aus der Sozialpsychologie und Wissenschaft. Im Interview sagt Joe Bausch, dass er an das Gute im Menschen glaubt, aber das Potential für das Gute im Menschen entfaltet sich seiner Meinung nach einfach schwieriger. Denn das Gutsein bedarf der Ausdauer, ist weniger spektakulär, „ist anstrengend.“ „Ein Mord dagegen geht schnell.“ Und der Fakt, das 90% denken, dass sie einen Mord begehen könnten, widerspiegelt eine große innerliche Verunsicherung in der Gesellschaft, die sich breitgemacht hat. Nach dem Motto, ‚was steckt nicht alles in Dir.‘ Bausch betont: “Wir müssen alles dafür tun, dass Gewalt nicht attraktiv erscheint.“

Nochmals die Gründe aus der Perspektive der Seelsorge. Menschen sind heute offensichtlich sehr stark von der Außenwirkung geprägt. Innere Haltung, das, was man früher Werte nannte, zählt nicht mehr. Wenn der Mensch nach Werten lebte, dann würde er nicht auf die Idee kommen zu sagen: „Ich bin auch einer von den 90%, die sich einen Mord zutrauen.“ Sondern, dann würde sein erster Impuls ein werteorientiertes Abwägen sein: „Nein, ich habe Werte, das geht einfach nicht!“ Wenn man aber sagt: „Ja, wir Menschen sind alle so aggressiv, Wissenschaft und Psychologie haben das doch bewiesen und es kann jedem passieren usw.“ Dann geht es wieder um die Außenwirkung, was Menschen über mich sagen. Das bringt mich zu hinterfragen, da ich keine eigenen Werte und grundlegende Haltung habe. Mutter Teresa zum Beispiel hat lange Zeit gebraucht, bevor sie das verstand und ihre Werte leben konnte. Wir wissen alle, sie hat durchaus ihre Zweifel gehabt mit dem Guten, ob es hilft oder sinnvoll ist etc., all das… aber das ist letztendlich Anstrengung, das Klare zu suchen und Wahre zu tun.

Drei Fragen zum Interview neu beleuchtet

Auf drei konkrete Fragen aus der HERDER-Korrespondenz möchte ich eingehen, um die praktischen Erfahrungs-Unterschiede und Sichtweisen zu definieren. Wir arbeiten mit einer „energetischen Seelsorge“ und „Theologie der Stärkung.“ Mehr Infos hierüber, kann der Leser in unserer 2020 veröffentlichten ‚Knast Trilogie‘ – Bilderbogen & Lesebücher aus dem Gefängnis (zusammen mit Gefangenen gestaltet) finden. Auch ist das internationale Forschungsprojekt mit einer Monografie verfügbar als ein erster Schritt zu einer alternativen Sichtweise: Theology, Empowerment, and Prison Ministry: Karl Rahner and the Contemporary Exploration for Meaning (Brill, 2022). Mit einem anderen Blick auf den Ausdruck und die Entwicklung der Gefängnisseelsorge in unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

Wird die Bibel im Gefängnis gelesen?

Bausch: Ja klar. Die wird schon angeboten, der Koran genauso. Ich habe sie auf Zellen liegen gesehen. Es wäre genug Zeit zum Lesen da. Viele haben aber keine Lust darauf und gucken weiter Fernsehen.

Coetsier: Ja klar und zwar häufiger, als man denkt! Wir teilen pro Jahr, in Zusammenarbeit mit dem Gideon-Bund, im Hünfelder und Fuldaer Gefängnis, hunderte von großen und kleinen Bibeln, in den unterschiedlichsten Sprachen aus. Manche Gefangene schreiben Anliegen und möchten mit dem Seelsorger über biblische Erzählungen und Themen ins Gespräch kommen. Der ein oder andere Inhaftierte fragt selbst nach einer exklusiven Studienbibel, um auf der Zelle einiges für sich vertiefen zu können. Dass viele „keine Lust darauf“ haben sollten und nur „weiter Fernsehen gucken“ möchten, wie Joe Bausch beobachtet hat, stimmt nach unseren Erfahrungen so nicht. Im Gegenteil, es ist unsere Erfahrung in den letzten Jahren, dass Gefangene vom vielen Fernsehen schauen eher gelangweilt sind. Die Sehnsucht zum Beispiel, sich wieder zu spüren, sich auszuprobieren, etwas Neues zu entdecken, via Meditation, Gebet, Musik, Kunst und/oder andere Formen von Spiritualität (mit oder ohne Bibel), ist durchaus präsent. Die Langeweile und Einsamkeit durchbrechen: durch Malen, Sport, Schreiben, Lesen… ja beten?!

Bekannt ist das Buch für Sätze wie: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Wie kommt so eine Forderung im Gefängnis an?

Bausch: Das wird als Folklore gedeutet. Es gibt auch viele, die haben gar keine Selbstliebe, weil sie nicht das Gefühl haben, dass sie liebenswert sind. Und daneben finden die brutalsten Gewalttäter Menschen, die sie lieben, die aber umgekehrt von ihnen in keinster Weise respektiert werden. Das ist oft schwer auszuhalten. Was Verbrechern aber die grosse Angst macht, ist, dass sich Kinder, Familie, Freunde nicht mehr melden, das Gefühl, verlassen zu sein. Das ist die Hölle: alt und krank aus dem Knast herauszukommen, die Familie und Freunde sind nicht mehr da, und dafür, neue zu gewinnen, fehlen Zeit und Kraft.

Coetsier: So eine Forderung kommt auch im Gefängnis an! Wenn wir als Seelsorger die Gefangenen unverbindlich und offen mit den Worten Jesu konfrontieren, sei es im Bibelkreis, im Einzelgespräch oder im Gottesdienst, stößt das bei einigen auf Resonanz. Ein mögliches Interesse und eine Sehnsucht ist geweckt. Es kommt öfters vor, dass Inhaftierte im Herzen – hinter ihrer harten Schale – gerührt sind, vor allem, wenn wir sie mit Bibliodrama, Musik, Kunst, Literatur und Bilder (mit-)arbeiten lassen. Die Botschaft Jesu, die wir als Seelsorger energetisch und stärkend versuchen zu verkündigen, d.h. in Wort und Tat, ist nicht tot. Sie ist weder Geschichte noch „Folklore“, wie Bausch im HERDER-Interview behauptet. Da sind durchaus Inhaftierte, die sich umeinander kümmern. In der JVA Hünfeld sind das zum Beispiel die Männer, die aus Südamerika und Afrika kommen, aber auch die Inhaftierten aus osteuropäischen und arabischen Ländern. Da findet man eine lebendige Mischung aus Solidarität, Religiosität, Selbstliebe sowie Überlebensinstinkt und Kameraderie.

Der christliche Anspruch geht ja noch weiter: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.

Bausch: In erster Linie muss man Feinde unschädlich machen. Das ist auch die Überzeugung jeder staatlichen Gewalt. In erster Linie sitzen im Gefängnis Menschen, die Feinde unseres gesellschaftlichen Systems und unserer geltenden Wertvorstellungen sind.

Coetsier: Eine schwierige Frage über Gerechtigkeit kontra Barmherzigkeit im Gefängnis, über Feindesliebe und Versöhnung: Schon für Seelsorger und überzeugte Christen sehr schwer, erst recht für Gefangene? Als Seelsorger versuchen wir einerseits uns diesem christlichen Anspruch anzunähern, andererseits müssen wir die Sicht des Gesetzgebers berücksichtigen – nämlich die Verhinderung, dass Gesetze übertreten werden und dass es letztendlich zu Sanktionen kommt, wenn das passiert. Alles was Jesus da fordert aber: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“, dass ist für den Gesetzgeber erstmal völlig schnuppe. So muss der Seelsorger die Aufgabe des Staates beachten und gleichseitig nicht die Barmherzigkeit Jesu aus den Augen verlieren. Einfach gesagt, immer wachsam und klug sein, aber parallel auch: Liebt und betet! Was für eine scheinbar unmögliche Aufgabe, die wir als Seelsorger und Pfarrer im Gefängnis haben… Sind wir, ja, ist ein Zeitgenosse, überhaupt noch zu so etwas ‚Verrücktem‘ (aus weltlicher Sicht) fähig? Können wir diese Spannung und diesen Spagat wirklich aushalten? Kann Religiösität, Spiritualität, Kunst und Ethik als kirchliches und seelsorgerisches Angebot, gleichseitig der staatlichen und rechtlichen Macht Entlastung bringen? Ist das Seelenheil der Menschen auch im Gefängnis nicht genau so wichtig, wie das körperlich-medizinische, sozial-gesellschaftliche oder strafrechtrelevante?

Gott ausgraben: Das Suchen, das Tun, die Liebe leben

Es ist legitim zu sagen, dass der Mensch im Grunde „frei geboren“ wird, als eine gute naive und sanfte Kreatur (Gottebenbildlichkeit?! – tzäläm elohim; eikōn tou theou), die theoretisch ohne Anstrengung in Frieden leben könnte. Gleichzeitig liegt er in dieser Welt, wie der Philosoph und Staatstheoretiker Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schon beobachtet hat, „überall in Ketten.“ Freiheit ist untrennbar mit dem Menschsein als imago dei verbunden, was leider nicht verhindert, dass „Gutsein“ und das „Wahre tun“ im Alltag anstrengend ist, besonders im Gefängnis. Hinter den Mauern wird schließlich deutlich, wie die gesellschaftlichen Missstände (Neid, Selbstsucht, Missgunst usw), destruktive Auswirkungen auf das Menschsein zur Folge haben. So hat auch der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) herausgearbeitet, „dass die Existenz von Gegensätzen zwar gottgegeben, die Spaltung in Gut und Böse nur eine Spaltung durch den Menschen sei.“

Könnten wir diese Aussagen als Mensch ‚in allen Freiheiten‘ darum nicht umdrehen und das Licht im Dunkel suchen? Oder anders gesagt: Uns nicht nur vom Abgrund anziehen lassen, sondern darin ein Licht zu suchen? Wie Viktor Frankl (1905-1997), der als KZ-Überlebender schließlich nur noch „von der Vielfalt der Möglichkeiten spricht, das Leben mit Sinn zu erfüllen.“ Kann sich nicht auch im Gefängnis, statt eines totalen Zusammenbruches, ein ‚Sinn-Durchbruch‘ ereignen? Zum Beispiel mit den Werten und Einstellungen der niederländischen Jüdin und Schriftstellerin Etty (Esther) Hillesum (1914-1943) und des deutschen Jesuiten und Theologen Alfred Delp SJ (1907-1945), die beide von den Nazis ermordet wurden. Hillesum zeigt in ihren Tagebüchern, wie ein Durchbruch von Sinn statt eines Zusammenbruchs in Gefangenschaft sich ereignen kann. Sie findet einen Sinn, durch Gott – und dadurch sich selbst – zu helfen. So hat sie sich eine konkrete ‚Sinn-Aufgabe‘ gegeben, um den Sinn in ihrem Leben zu behalten. Sie schreibt:

„Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, daß du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: daß du uns nicht helfen kannst, sondern daß wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst.“ Der ehemalige politische Häftling Delp fügt auf seine Weise hinzu: „Das Klare suchen, das Wahre tun, die Liebe leben: Das wird uns gesund machen.“ „Das gebeugte Knie und die leeren Hände sind die beiden Urgebärden des freien Menschen.“ Mit anderen Worten, wer aus Gottesfurcht und seinem Glauben keine Gewalt anwendet oder eine Waffe in die Hand nimmt, sondern das Wahre tut, hat vielleicht so wenigstens eine Körperverletzung oder einen Mord in dieser Welt verhindert: nämlich, die Straftat, die er/sie selbst fähig ist zu begehen. In den Worten vom Widerstandskämpfer Delp: „Der Mensch ist so viel Mensch und so groß Mensch, als er liebt“, nur weil diese Freiheit schlussendlich „der Atem [ruach, Pneuma = ‚Geist‘] des Lebens ist!“ Und so geben insgesamt die Zehn Gebote und Weisungen der Bibel, unserem Leben doch immer wieder einen tieferen Sinn. Auch wenn Joe Bausch meint, der Verbrecher „hat kein Gewissen“, lebt im Blick der Seelsorger, Gott in ihm. Etty Hillesum erklärt dies in einem schönen Bild. Sie spricht von Gott, der oft in Menschen verschüttet ist und wieder „ausgegraben“ werden muss:

„In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“ Sowie der ‚begrabene Gott‘ in mir, muss auch das Gewissen eines Menschen wieder angesprochen werden. Wer nie gebildet, geformt oder erzogen worden ist, kann sich auch schwieriger in die Gesellschaft integrieren und dann auch funktionieren. Der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow (1908-1970) hat schon recht, dass der Mensch im Prinzip die Aufgabe hat, alles zu sein, was er sein kann, aber nicht jeder hat auch diese Möglichkeit von Anfang an. Gefangene haben oft weniger Chancen im Leben, die sozialen, kulturellen und politischen Kontexte spielen dabei eine essentielle Rolle. Dies korrespondiert mit der Fragestellung, die schon angesprochen wurde: „Woher kommt das Verbrechen?“ Das kommt im ganzheitlichen Sinn aus der Geschichte des Menschen, aus dem, was er erlebt und erfahren hat, aus seinen Antrieben, seinem Willen und sicherlich auch aus seiner Grundhaltung und Grundüberzeugung. Zusammen spielt das alles eine Rolle, auch die Familie.

Virginia Satir (1916-1988) hat diesbezüglich die klare Überzeugung, dass in der Familie ein Mensch „gemacht“, „gebrochen“ bzw. „aufgebaut“ wird: „Wenn du weißt, wie die Familie zu heilen ist, weißt du, wie die Welt zu heilen ist.“ Auch wenn es im Knast in ersten Linie nicht um ‚Familientherapie‘ geht, sind die Gedanken von Satir für den Seelsorger in diesem Fall doch sehr hilfreich, wenn nicht allein als kontextueller Hintergrund. Die Möglichkeit „eines Gewissens“ oder ein „Gott in mir“ ist nicht Teil von jeder Erziehung. Nicht jeder Mensch wächst in einem religiösen oder gebildeten Umfeld auf, oder hat in seiner Kindheit eine gewisse Ethik, Ordnung oder ein Wertesystem erfahren.Trotzdem brauchen Herz und Kopf, auch im Gefängnis, geistige Nahrung, Liebe und Weisheit: Eine dauernde Erinnerung, dass es noch das Gute gibt. Joe Bausch bestätigt dies indirekt, in einem etwas anderen Zusammenhang bei der Fragestellung über die Nächstenliebe. Die Beziehung zur Familie ist seiner Meinung nach der einzige Lebensanker, den es noch gibt, wenn der wegbricht, dann bricht alles zusammen. Seine Aussage gibt wider, dass schlussendlich keiner will, „dass sich Kinder, Familie, Freunde [das Gute im Leben?] nicht mehr melden“ und dadurch das Gefühl des Verlassenseins eintritt. Mit anderen Worten alt und krank zu sein, ohne Zeit und Kraft, und die Familie und Freunde sind nicht mehr da… „Das ist die Hölle“ und zwar für alle! Es wird dann noch schwieriger für manche, Gott zu suchen und das Leben anzunehmen.

Bewusstseinsveränderung im Gefängnis

Kann Seelsorge mit gelebtem Glauben oder Spiritualität auch im Gefängnisalltag, „Gott ausgraben“? Kann Religion diese Art von „Hölle“ verhindern? So manche Straftat abwenden? Wenn nicht, dem Unwiderruflichen – das Schreckliche und Absurde was geschehen kann – vorbeugen? Der französische Philosoph und Religionskritiker Albert Camus (1913-1960) wäre da eher pessimistisch. Er verweist darauf, dass wir als Mensch erst die „Sinnleere“ erkennen und die „Sinnlosigkeit unseres Daseins“ annehmen müssen, nur dann lässt sich das Leben, auch im Gefängnis, einfacher leben. Nach Camus könnten der Gefängnisseelsorger sowie der Gefangene in seiner grässlichen und höllischen Lage sich freier fühlen, wenn sie die Sinnlosigkeit des Gefängnisaufenthalt akzeptieren würde. Mit anderen Worten, die Absurdität des Lebens sowie die Abgründe sind ein Merkmal und Teil unseres menschlichen Bewusstseins. Die Frage ist aber, ob in unserem ‚Kellerloch‘ der Existenz – d.h. in unserem Handeln, Leiden, (Eigen-)Wollen und Fühlen im Gefängnis – überhaupt noch so etwas wie eine Bewusstseinsveränderung möglich ist?

Der heilige Augustinus würde sagen: „Gottes Gnade irrt nicht!“ Das heißt, auch wenn der Mensch schwach ist, kann er sich in seinem Bewusstsein entscheiden, entweder den großen Schritt zu gehen und sich ändern oder wenigstens im Kleinen eine Änderung aus der Sinnlosigkeit zuzulassen, nämlich für das Gute. Alfred Delp schreibt: „Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, dann hat sein Leben einen Sinn gehabt.“ Diese Botschaft unterstreichen wir als Seelsorger sofort. Weil so im Gefängnis vielleicht menschlich gesehen, noch einiges möglich ist: Auch wenn ein kurzer Gefängnisaufenthalt in sich keine Kurzzeittherapie ist, kann man mit Menschen mit strafrechtlich geringeren Vergehen – d.h., die eine kurze Strafe (von 1 bis 5 Jahren) oder eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen –, noch einiges in Bewegung bringen. Je kürzer die Strafe, desto weniger die Chance auf Kapitalverbrechen mit einer geschädigten Persönlichkeit: Nicht alle Gefangenen Deutschlands sind hochkriminelle Psychopathen, unbelehrbare Narzissten und skrupellose Sadisten.

Der US-amerikanische Psychologe Elliot Aronson (geb. 1932) ist überzeugt, dass in bestimmten Situationen auch gesunde Menschen verrückt handeln können. Das Spektrum ist breit gefächert, und wir sollten uns klarmachen, dass Inhaftierte, die verrückte Straftaten begangen haben, nicht unbedingt verrückt sind. Dabei bestimmt unsere Lebensgeschichte auch nicht automatisch unser Schicksal. So hat der Neurotiker, wie der österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler (1870-1937) beobachtet hat, meistens nur das Gefühl, minderwertig zu sein. Menschen können aber trotzdem fähig sein, Widerstandskraft oder Resilienz zu entwickeln, um an furchtbaren Problemen zu wachsen und dabei Selbstvertrauen aufzubauen. Der Mensch im Gefängnis befindet sich zwar im Ungleichgewicht, aber ist im besten Fall bestrebt, wieder einen konsistenten Zustand – ein Gleichgewicht – in seinem Leben zu erreichen. Diese Bewusstseinsveränderung könnte möglicherweise geschehen, wenn der Häftling statt zu ignorieren, verdrängen oder zu vergessen, versuchte die eigenen Einstellungen, Überzeugungen und Werte, wo nötig ist, aufrichtig zu ändern. Die Seelsorge hilft dabei den Blickwinkel zu verschieben, um so neue Lösungswege zu erkennen: Die physische Erregung im Knast wird gedämpft, z.B. durch Gottesdienste, Sport, durch ausgleichende Aktivitäten, durch Ruhe, Vermeidung von Stress, durch Gebet und Meditation, aber auch durch Musik, Kunst und Literatur. Daher bleibt eine Reintegration und Resozialisierung von unterschiedlichsten Personen aus verschiedenen Herkunftsländern einerseits eine schwierige Aufgabe und eine große Herausforderung, wenn nicht unmöglich, aber andererseits ist sie nicht hoffnungslos.

Gut sortiert im Haftraum: Auf dem Schrank in einer Zelle.

Gefängnisseelsorge trägt im Grunde an dieser Resozialisierung bzw. ‚Spiritualisierung‘ – im Sinne einer Bewußtseinsveränderung zum Religiösen mit konkreten Folgen auf die Lebenspraxis – bei: um Sinn und Hoffnung zu finden; um im Rückblick auf das Leben wieder Halt zu entdecken; um im Hinblick auf eine erhoffte Zukunft neuen Lebensmut zu entwickeln; und nicht zuletzt, den verschütteten Gott im Gefängnis wieder auszugraben, freizulegen und ans Licht zu bringen. Der Theologe Alred Delp formuliert es so: „Man kann wohl gottlos werden, aber man kann nicht Gott loswerden.“ Einfach, weil (etwas fromm gesagt) der gläubige Christenmensch weiß, dass Gott der Schöpfer und Vater in allen ist, auch in denen, die kriminell geworden sind. Nach Aussage der mystischen Tradition des Christentums – ich denke an Teresa von Avila, Katharina von Siena, Juliana von Norwich, Johannes vom Kreuz, Ignatius von Loyola usw. – verbirgt Gott sich im Herzen. Der deutsche katholische Theologe Karl Rahner (1904-1984) betont: „Was […] bedacht werden mag, sei in die zwei Sätze zusammengefaßt: In den Gefangenen, die unserer Seelsorge anvertraut sind, finden wir Christus den Herrn; in diesen Gefangenen finden wir uns, indem wir in ihnen unsere eigene verborgene Situation erblicken.“

Was verschüttet ist, zum Vorschein bringen, die verborgene Situation erblicken, Gott finden und Erlösung spüren, darum geht es. Aus evangelischer Sicht dichtet der Theologe und Widerstandskämpfer im Dritten Reich Dietrich Bonhoeffer: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.“

Von Hoch-Erfahrenen vom Knast hören?

Wenn Rahner und Bonhoeffer sowie auch Hillesum und Delp recht haben, dann sind Menschen Gott nahe, auch im Gefängnis, ohne dass sie es genau wissen. Oft ist das Licht für die Häftlinge verdeckt durch den Schatten, den sie selbst werfen. Sollten Delps Aussagen zutreffen, dass „das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände die beiden Urgebärden des freien Menschen sind“ und auch die gefangenen Menschen im Knast „nie allein gehen,“ sondern „Gott alle Wege mitgeht“, dann ist die Frage, auch an Joe Bausch als Anstaltsarzt: Warum reden wir so gerne über Gewalt, Verbrecher und die grausamsten Taten, wenn wir möchten, dass „Gewalt nicht attraktiv erscheint“? Sollte man im Gefängnis als Fachdienst, nicht über etwas anderes reden? Auch interessiert es die Gefängnisseelsorge: Was ist die spezifische Fragestellung für Leser der HERDER-Korrespondenz? Einen „Spezialisten“ oder „Hoch-Erfahrenen“ für den Umgang mit Menschen im Knast zu hören? Nach dem Motto. „Der kennt das, so isses..!?“ Wo es interessant wird, nach inneren Beweggründen für Straftaten, nach der erlebten oder erlittenen Lebensgeschichte zu fragen, da verstummen die Antworten von Joe Bausch zunehmend. Er selbst, wie seine Antworten zeigen, ist eher extrovertiert, vor allem auf große Schlagzeilen aus. Das Religiösspirituelle bzw. Innerlichgeistige bleibt, aus der Sicht der Seelsorger, zum größten Teil unterbelichtet. Die etwas stürmische und enthusiastische Energie, mit der der Autor auftritt und schreibt, geht, was die spirituelle Aufgabe und das Selbstverständnis der Gefängnisseelsorger in Deutschland betrifft, an manchem Feinfühligen vorbei, bleibt an der Oberfläche, im medialen Rampenlicht aber unter dem ‚himmlischen Radar.‘

Tiefengespür für die existenzielle Wahrheit

Joe Bausch scheint stolz darauf, dass er trotz der Erfahrung der gescheiterten menschlichen Existenzen jemand ist, „der ein positives Menschenbild behalten hat.“ Er sagt, dass das „nicht viele von sich sagen können.“ Diese Aussage widerspiegelt einen gesunden Ehrgeiz und Konkurrenzkampf, aber gleichzeitig könnte es den Eindruck erwecken, dass er die tief traurigen Gefühle des Menschseins nicht so stark an sich herankommen lässt: d.h. wenn Du sie wirklich stark an Dich herankommen lässt, dass der Abgrund Dich anschaut und Deine eigene Seele annagt und verletzt, dann wird es schwierig. Aber er kann so stark sein, weil er irgendwann im Grunde genommen zumacht, dass scheint nicht tiefer zu gehen. Und so schützt er sich mit seiner willensstarken Art, womit er zugleich jede Menge Erfolg geerntet hat, besonders, wenn es um neue Buchideen geht. Aber was grundsätzlich religiöse und mehr theologische Ansichten des Menschseins betrifft, da sollten wir uns besser nicht auf seine Sichtweise berufen. Auch eine Begründung für sein abschließendes ‚JA‘ zum Menschen bleibt Bausch den LeserInnen der HERDER-Korrespondenz letzten Endes schuldig. Hiermit meine ich das tiefe Gespür eines Menschen für die existentielle Wahrheit des bisher Erkannten und Gelebten. Und das Vertrauen darauf, dass die lebensstiftenden Suchimpulse tief in unserem Innern uns – trotz der menschlichen Existenz mit unzähligen Abgründen und ja ‚den Verbrechen im Kopf‘ – nicht in die Irre führen. Ich glaube, dass Gott, unser Retter lebt – genau um den von Joe Bausch beschriebenen ‚Abgrund der Schuld‘, zu erlösen! Diese christliche Hoffnung auf Befreiung aus unserer geteilten kollektiven inneren Gefangenschaft durch Schuld und Sünde macht schlussendlich den großen Unterschied.

Joe Bausch nimmt kein Blatt vor den Mund, ist durchaus offen seinen LeserInnen gegenüber, d.h., wenn es um die menschlichen Abgründe und die besondere Welt und die Denkweise Schwerstkrimineller geht. Aber von Seelsorge, Glaube, Religiosität und Spiritualität im Gefängnis hat er weniger wahrgenommen. Dabei geht es genau genommen um den Punkt, dass er auf manche Fragen der Seelsorge, gerade die biblischen (Nächstenliebe, Feindesliebe) nicht eingeht – er bleibt auch hier so manche Antwort schuldig. Was wir als SeelsorgerInnen vom Interview mitnehmen und auch zu schätzen wissen ist, dass die Gefängnisseelsorge in Deutschland aufgefordert ist, ihren eigenen kirchlichen Auftrag und die christliche Botschaft im Knast zu klären, sowie in ihrer philosophisch-theologischen Position und ihrem Gedankengut klarer zu werden: So dienen wir Gott als SeelsorgerIn durch Dienst am Nächsten in einer JVA, in der Welt der Justiz, aber gleichseitig haben wir durch die Sendung der Kirche eine besondere Stellung im System. Wir sind VermittlerIn, ÜbersetzerIn, moralische AkteurInnen und HimmelskommikerInnen mit einem spirituellen Auftrag. Auch muss am eigenen Selbstverständnis, das SeelsorgerInnen dann in der Öffentlichkeit wiederum vertreten und kommunizieren können, gearbeitet werden. Ich glaube, dass hier die ökumenische Zusammenarbeit vor Ort im Gefängnis, aber auch bundesweit und international zwischen den Kirchen, mit Vernetzung zur theologischen Wissenschaft, für die Zukunft von großer Bedeutung und europäischem Interesse ist.

Gott, eine tolle Konstruktion?

Die LeserInnen der HERDER-Korrespondenz müssen sich bewusst machen, dass Joe Bausch seine Erfahrungen als Anstaltsarzt beschreibt, mit einer Rolle als Gerichtsmediziner Dr. Roth im Kölner Tatort im Hinter- (oder sogar im Vorder-) Grund. Aus religionssoziologischem Blickwinkel theologisiert er: „Gott ist eine tolle Konstruktion, um scheinbar zu milde und nachsichtige Urteile aushalten zu können, und eine Instanz, die für Gerechtigkeit sorgt und machen darf, was wir uns nicht trauen.“ Diese Antwort von Joe Bausch ist verständlich. Er fragt lediglich nach der Funktion, die ein gütiger oder strafender Gott als Konstrukt auf die Frage nach einer ausgleichenden Gerechtigkeit hätte. Und weil er (anscheinend) nicht glaubt, bleibt ihm nicht anderes übrig, wenn er die Auswirkung beschreiben will, zu sagen ‚Gott bewirkt da etwas.‘ Aber weil er nicht glaubt, schreibt er, dass ist ein Konstrukt. Viele Leute heutzutage würden ähnlich reden, da sie mit einem gerechtigkeitsschaffenden Gott nichts anfangen können und nicht daran glauben. Aber als Konstrukt kann man ihn gut gebrauchen…

Für TheologInnen, SeelsorgerInnen und PfarrerInnen in Gefängnissen sind Antworten bezüglich einer Gottesfrage wie dieser ziemlich einseitig, und es fehlt an Tiefgang. Wie Joe Bausch wissen wir ebenso, „im Knast ist alles echt“ und auch wir SeelsorgerInnen* werden tagtäglich „konfrontiert mit einer Realität,“ die uns „alles abverlangt.“ (Vgl. Klappentext „Knast“). Aber dienen wir nur einer „Konstruktion“ oder gesichtslosen „Instanz“? Sind wir innerhalb der Justiz nur Systemausgleicher? Gibt es für uns Europäer überhaupt noch so etwas wie eine transzendente Realität, einen lebendigen und ewigen Gott? Wenn ja, auch dann schätzen wir den Menschen Joe Bausch, aber diese ‚Transzendenzlose-Linse‘ bzw. ‚Transzendenz verweigernde Perspektive‘, mit der die Wirklichkeit betrachtet wird, können wir so nicht annehmen. Unser seelsorgerischer Auftrag und theologischer Fokus muss über das rein Weltliche und Nutzbedingte hinausgehen.

Suche nach wesentlich Tieferem

Die österreichisch-britische Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960), wusste schon, dass Trieb und Kampf zwischen Leben und Tod ein Leben lang währt. Aber verläuft die Grenze zwischen Gut und Böse, statt außerhalb von uns, nicht vielmehr in uns? Unsere menschliche Existenz ist unausweichlich von Angst, Schmerz, Verlust und Zerstörung geprägt. Der russische Schriftsteller und Systemkritiker Alexander I. Solschenizyn (1918–2008) beschreibt in „Der Archipel Gulag“ detailliert die Verbrechen des stalinistischen Regimes und die systematische Ermordung von Millionen Menschen im Gulag. Trotz seiner Gefangenschaft, seines persönlichen Leids und der Zerstörung, sagt er: „Sei gesegnet, Gefängnis, dass es Dich in meinem Leben gab!“ (Bless you, prison, for having been in my life!). Er geht selbst noch weiter und spricht von der transzendierenden Kraft der Kunst, bezieht sich dabei auf Dostojewskis Aussage: „Schönheit wird die Welt retten.“ Solschenizyn fragt sich: „Wie könnte das möglich sein?“, Wen hat Schönheit jemals gerettet? Er antwortet, indem er sagt, dass es „eine gewisse Eigentümlichkeit“ im Schönen und in der Kunst gibt: „nämlich die Überzeugungskraft. Ein wahres Kunstwerk ist völlig unwiderlegbar und zwingt sogar ein widerspenstiges Herz sich zu ergeben.“

Was im Grunde im HERDER-Interview fehlt, ist ein tiefer psychologischer und geistig-religiöser Blick von einer „transzendenten Wirklichkeit“, die auch im Gefängnis durchaus für Menschen eine Rolle spielen kann. Die menschlichen Abgründe und dass wir Menschen von Sünde und Schuld beladen sind, ist historisch gesehen nichts Neues. Da ist immerhin nichts, was es nicht gibt und auch nichts Neues unter der Sonne – „Alles ist eitel, alles ist Windhauch“ (Koh 1,2) –, deswegen suchen wir nach etwas wesentlich Tieferem, nach etwas Erlösendem und Heilendem, nach etwas Ewigem oder noch klarer formuliert: nach dem Ewigen! Dem Einen, der Befreiung bringt, und in dem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zum Ausgleich kommen.

Dr. mult. Meins G.S. Coetsier, geb. 1977, gebürtig aus Arnheim, Niederlande, war von 1999 bis 2006 Mitglied des Jesuitenordens. In dieser Zeit studierte er Philosophie, Theologie und Spiritualität und war in den Niederlanden, in England und Irland tätig. Nach den Promotionen, in Philosophie und 2012 in Vergleichenden Kulturwissenschaften an der Universität Gent, Belgien, war er aktiv als Gastwissenschaftler an der Universität Zürich und Referent und Seelsorger der Jesuitenmission in der Schweiz.

Seit 2016 arbeitet er als Gefängnisseelsorger in den Justizvollzugsanstalten Hünfeld und Fulda. Gleichzeitig forscht er in Teilzeit als Wissenschaftler am Loyola Institute am Trinity College in Dublin, wo er 2021 zum Doktor der Theologie promovierte. 2018 wurde er im Dom zu Fulda zum Ständigen Diakon im Hauptberuf geweiht.

Fazit

Vielleicht ist es in diesem Sinne eine Ermutigung, dass die Zahl derer, in und außerhalb der Gefängnisse, gar nicht so klein ist, die unter der Glaubensverdunstung im 21. Jahrhundert leiden und den verschütteten Gott aus ihren Abgründen versuchen auszugraben. Und dass es gilt, auch ohne den Rückhalt der großen Mehrheit seinen Glaubensweg für das Gute und mit dem Guten weiterzugehen. Diese herausfordernde Aufgabe im Gefängnisalltag findet Einklang in den weisen Worten Etty Hillesums: „Ach, wir haben doch immer alles in uns: Gott und Himmel und Hölle und Erde und Leben und Tod und Ewigkeiten, viele Ewigkeiten. Ein wechselndes Dekor und eine Handlung aus äußeren Umständen. Aber wir tragen alles in uns, und die Umstände sind doch nicht das Ausschlaggebende, niemals. Denn es wird jedenfalls immer Umstände geben, gute und schlechte. Und die Tatsache der Umstände, guter und schlechter, muss man annehmen, was nicht hindert, dass man sein Leben dafür gebraucht, die schlechten zu verbessern. Aber man muss wissen, aus welchen Motiven man den Streit führt, und man muss bei sich selbst beginnen, jeden Tag von Neuem bei sich selber“ (3. Juli 1942).

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