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Das Flehen des Aussätzigen weit „draußen“

6. April 2020

Es fällt uns schwer, überhaupt noch nachzufühlen, was Aussatz in früheren Zeiten bedeutete. Aussatz war eine hässliche und ruinöse Krankheit. Zwar versichern uns die Experten, bei dem Aussatz in der Bibel habe es sich nicht um den Formenkreis der bakteriellen Lepra gehandelt, bei der Nerven absterben, Blutgefäße sich verschließen und ganze Gliedmaßen verkommen. Vielmehr sei mit dem Aussatz in der Bibel eine Gruppe von Haut-Anomalien gemeint, zum Beispiel Weißfärbung der Haut (Vitiligo) oder auch Schuppenflechte (Psoriasis) und ähnliches.

Das Gefühl des Abgeschnitten-Seins gibt es auch bei uns. Jeder, der von einer malignen Krankheit gepackt wurde, hat es schon erfahren. An dem Schrecken, den „Aussatz“ damals auslöste, ändert das aber nichts. Denn entscheidend war die soziale Isolation, die mit solchen Haut-Anomalien verbunden war. Die Aussätzigen mussten weit entfernt von den Dörfern und Städten leben. Und wenn doch einmal ein Gesunder in ihre Nähe kam, hatten sie ihm als Warnung zuzuschreien: „Aussatz! Aussatz!“ (Lev 13,45-46). Sie waren wirklich „draußen“. Sie waren sozial tot.

Zu einer heileren Welt gehört, dass Gemeinschaft wiederhergestellt wird. Ist das in Isolation des Gefängnisses möglich? Foto: Achim Pohl

Unberührbar

Überlegen wir ein wenig, was derartige soziale Isolation konkret bedeutete! Die Aussätzigen durften keinen Gesunden berühren, und sie selbst waren „Unberührbare“. Die Angst vor Ansteckung saß tief und beherrschte selbst die Angehörigen. Niemand näherte sich einem Aussätzigen. Man winkte höchstens von ferne. Damit aber wurde der Kranke zum Abgeschnittenen; zu einem, der fern vom Leben war; zu einem, der sich als Versager und Verlierer fühlen musste. Bis zu einem gewissen Grad können wir das Lebensgefühl der Aussätzigen zur Zeit Jesu freilich noch nachvollziehen. Denn das Gefühl des Abgeschnitten-Seins gibt es auch bei uns. Jeder, der von einer malignen Krankheit gepackt wurde, hat es schon erfahren.

Denken wir etwa an einen Menschen, dem der Arzt gerade mitteilt, dass leider Krebs diagnostiziert wurde. Ein elementarer Schrecken durchfährt ihn: „Wie kann das sein? Warum das? Jetzt hat es also mich getroffen. Die anderen nicht. Warum gerade mich?“ Der Betroffene fühlt sich isoliert von denen, die gesund sind. Er ist plötzlich allein. Aber auch die Gesunden sind dann oft betroffen. Sie wissen nicht, wie sie mit dem Kranken umgehen sollen. Sie fühlen sich verlegen und hilflos. Sie sprechen vielleicht guten Mut zu. Sie sagen: „Das wird schon wieder! Das kriegst du wieder weg! Die Krebsbehandlung hat sich doch enorm verbessert.“ Aber in der Tiefe fühlen sie anders. Plötzlich ist da etwas Trennendes, nur schwer Überbrückbares.

Sie fühlten sich von Gott geschlagen und bestraft. Sie waren überzeugt, ihre Krankheit habe mit schwerer Schuld zu tun. Ich erinnere mich, wie seltsam ich mich bei einem Besuch in einem afrikanischen Lepra-Dorf verhalten habe. Die Einrichtung wurde von einem christlichen Orden vorbildlich betreut. Die Kranken waren gut untergebracht und bekamen wirksame Medikamente. Bei den meisten von ihnen war die Krankheit schon gestoppt. Sie freuten sich geradezu auf Besucher. Sie schauten mich erwartungsvoll an. Ich aber war seltsam gehemmt. Da war eine geheime Angst, den Kranken die Hand zu geben. Was habe ich mich nachher geschämt!

Bei den Aussätzigen damals in Israel kam zu aller sozialen Isolation aber noch etwas anderes hinzu, das wir nicht übersehen dürfen: Sie fühlten sich von Gott geschlagen und bestraft. Sie waren überzeugt, ihre Krankheit habe mit schwerer Schuld zu tun: mit der Schuld ihrer Eltern oder mit eigener Schuld. Die Verfehlungen ihrer Familie oder die eigenen Verfehlungen hätten sich nun – glaubten sie – sichtbar und für jeden erkennbar am eigenen Leib niedergeschlagen. Sie seien von Gott Geschlagene.

Und es kommt zu Jesus ein Aussätziger, fleht ihn kniefällig an und sagt zu ihm: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“ Und erregt streckt Jesus seine Hand aus, rührt ihn an und sagt zu ihm: „Ich will: Werde rein!“ Und sofort wich von ihm der Aussatz, und er wurde rein. (Mk 1,40-42)

Berührbar

Vor diesem gesamten Hintergrund müssen wir die Heilungen von Aussätzigen in den Evangelien noch einmal mit neuen Augen sehen. Diese Menschen waren nicht nur ohne Hoffnung, gesund zu werden. Sie waren nicht nur ohne Hoffnung, je aus ihrer sozialen Isolation herauszukommen. Sie lebten wohl auch vor Gott tief verunsichert. Viele von ihnen mussten sich von Gott verlassen fühlen. In diese ihre Situation bricht Jesus herein. Und er durchbricht sofort alle Regeln des Umgangs mit ihnen. Markus erzählt dies gleich im 1. Kapitel seines Evangeliums.

Jesus hat den Aussätzigen also nicht nur aus geziemender Entfernung geheilt. Nein, er hat ihn berührt. Er hat ihn angefasst. Und damit hat er eine Schranke durchbrochen. Das „er streckt die Hand aus und rührt ihn an“ ist nicht ein Ornament, nicht eine Verzierung der Erzählung. Es ist ein elementarer Vorgang – gegen die Hygiene, gegen den Anstand, gegen die Regel, gegen die Tora. Warum rührt Jesus den Aussätzigen an? Es hat mit seiner Proklamation der Gottesherrschaft zu tun. Mit dem Auftreten Jesu wird in Israel und über Israel in der ganzen Welt die Schöpfung neu. Sie wird so, wie sie gedacht war und wie sein sollte: unverdorben, morgenfrisch, schön, geheilt, befreit von dem Aussatz der Erde. Deshalb muss Jesus Kranke heilen, Besessene befreien, Aussätzige rein machen, Dämonen austreiben. Und deshalb muss er die Kranken berühren. Denn zu einer befreiten und geheilten Welt gehört auch, dass die Gemeinschaft wiederhergestellt wird, dass alle soziale Isolation handgreiflich beendet wird.

Das Flehen des Aussätzigen

Aber nicht nur was Jesus tut, ist hier von Bedeutung. Genauso wichtig wäre, dass wir sehen, was der Aussätzige tut, bevor Jesus ihn berührt: Er bleibt nicht auf Distanz. Er tritt an Jesus heran. Er fleht um Hilfe. Er fällt vor Jesus auf die Knie. Er sagt: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“ Auffällig ist in seiner Rede dieses „Wenn du willst“. Die Heilung hängt also allein an Jesu Willen. Das ist unheimlich. Jeder Jude, der die Schrift kannte, musste bei diesem Geschehen oder bei der Erzählung dieses Geschehens an eine Begebenheit im 2. Buch der Könige denken:

Naaman, der hochgeachtete Feldherr des Königs von Aram, war an Aussatz erkrankt und wurde von seinem Herrn mit einem Brief zu dem König von Israel geschickt, dass der ihn heile. (In Wirklichkeit wollte sein Herr, dass ihn der Prophet Elischa heilte, der im Machtbereich des Königs von Israel wirkte. Aber der Aramäerkönig musste sich diplomatisch ausdrücken). Der König von Israel missversteht die diplomatische Sprache, wird zornig und ruft aus: „Bin ich denn ein Gott, der töten und zum Leben erwecken kann? Er schickt einen Mann zu mir, damit ich ihn von seinem Aussatz heile! Merkt doch und seht, dass er nur Streit mit mir sucht!“ (2 Kön 5,7)

Diese Begebenheit ist deshalb so aufschlussreich, weil sie zeigt: Aussatz war eine Sache von Leben und Tod. Wer aussätzig wurde, geriet aus dem Bereich des Lebens in die Sphäre des Todes. Soziale Isolation war dem Leben im Tod gleich. Aber die Begebenheit zeigt noch viel mehr. Nur Gott kann aus dem Tod herausführen („Bin ich denn ein Gott?“). Nur Gott selbst kann Aussatz heilen. Wenn also der Aussätzige zu Jesus sagt: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen“, so schreibt er Jesus göttliche Macht zu. Er ist erfüllt von einem letzten Vertrauen. Er glaubt, dass in Jesus Gott selbst handelt. Er vertraut sich Jesus an. Er erwartet von ihm alles.

Und wir?

Würden wir genauso bitten wie der Aussätzige? Würden wir mit demselben Vertrauen flehen? Flehen wir Jesus an, wenn wir in Not sind? Fallen wir vor ihm auf die Knie? Erzählen wir ihm die ganze Not unseres Lebens? Rechnen wir in grenzenlosem Vertrauen, dass er uns hilft und uns aus unserer Not herausholt? Vielleicht tun wir es. Vielleicht tun wir es auch nicht. Und wenn wir es nicht tun, kann es viele Gründe haben. Ein Grund, der gerade bei gläubigen Menschen nicht selten eine Rolle spielt, kann der folgende sein:

Wir wagen es nicht, Gott in eigener Sache um Hilfe zu bitten. Dürfen wir denn Gott mit unseren persönlichen Nöten, mit unseren Krankheiten, mit unseren Unfällen, mit unseren Problemen, mit unseren Angelegenheiten und Vertracktheiten um Hilfe anflehen? Muss es bei unserem Beten nicht um das Große und Ganze gehen, um die Not der Welt, um das Elend der Gesellschaft, um die Sache der Kirche – eben um das Reich Gottes? So könnte gerade ein frommer und gläubiger Mensch denken, und dann wagt er es nicht mehr, Jesus in seiner persönlichen Not anzuflehen.

Hat er recht? Ich meine nicht. Er hätte nur dann recht, wenn seine persönliche Not und wenn seine persönlichen Lasten gar nichts mit dem Reich Gottes zu tun hätten. Und das wäre tatsächlich der Fall, wenn er nur für sich selbst leben würde, nur sich selbst im Blick hätte, nur an sein eigenes Glück und Wohlbefinden denken würde. Lebt er hingegen im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe – ist sein Leben grundsätzlich ausgerichtet auf Gott und den Willen Gottes – dann darf er alles erbitten, dann darf er Großes für sich erbitten und selbst um die Überwindung der kleinen Nöte seines Lebens Jesus anflehen. Denn er sucht zuerst das Reich Gottes. Er darf erwarten, dass ihm „alles andere dazugegeben wird“ (Mt 6,33). PDF-Version

Mit freundlicher Genehmigung: © Gerhard Lohfink 

 

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