In einigen Justizvollzugsanstalten gibt es bereits eine Muslimische Seelsorge, in einigen ist diese in Vorbereitung, langfristig wird flächendeckend Muslimische Seelsorge eingeführt werden. In welchem institutionellen Rahmen und in welcher strukturellen Einbindung ist nicht abschließend geklärt. Es ist Aufgabe der Justizministerien und der Anbieter Muslimischer Seelsorge. Muslimische SeelsorgerInnen können in Absprache mit den Ministerien von muslimischen Verbänden beauftragt werden. Diese sind bislang allerdings keine anerkannten Religionsgemeinschaften, wie zuletzt durch das Oberlandesgericht Münster noch einmal bestätigt.
Natürlich können im Prinzip unabhängig davon auch Einzelpersonen beauftragt werden, wobei sich die Frage stellt, wer diesen mit welcher Legitimation einen Auftrag erteilt (Justizministerium bzw. JVA´en, Verbände oder Moschee-Gemeinden o.ä.). Unklar ist auch, inwieweit dies die Christliche Seelsorge in ihrer heutigen Form berührt oder gar verändert, inwieweit Rechte beschnitten oder neu formuliert werden oder Einflussnahme durch staatliche Stellen zu befürchten sind.
Neue Herausforderungen
Dabei gilt zu bedenken, dass nicht nur die Muslimische Gefängnisseelsorge Christliche Seelsorge vor neue Herausforderungen stellt. Denn die zunehmende Säkularisierung Deutschlands führt zu neuen Interessens – und Kräftekonstellationen. Nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz waren 2016 nur noch 28,5% der Bevölkerung katholisch, laut Evangelischer Kirche Deutschlands waren 26,7% der Bevölkerung evangelisch. Das sind zusammen 55,2 %, weniger als zwei Drittel. Zugleich gehen die Zahlen der bekennenden ChristInnen im Bundestag und in den Landesparlamenten und damit eine bisher verlässliche Lobby der Kirchen zurück. Dieser Prozess wird langfristig Konsequenzen haben, und das Staats-Kirchen-Verhältnis wird neu ausbalanciert werden müssen – mit möglicherweise drastischeren Folgen als die der Einführung Muslimischer Gefängnisseelsorge.
Atheistische Verbände werden verstärkt auf Anerkennung als Weltanschauungsgemeinschaften und als Körperschaften öffentlichen Rechts drängen und entsprechende Ansprüche vergleichbar zu den anerkannten Religionsgemeinschaften stellen. Möglicherweise wird das niederländische Modell langfristig auch in Deutschland praktiziert werden: Dort finanziert der Staat neben christlichen Seelsorgern längst solche anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften entsprechend ihres Bevölkerungsanteiles in den Gefängnissen. Vielleicht werden die Muslime in diesem Prozess eher als Verbündete denn als Konkurrenten gebraucht werden.
Seelsorgestellen der Justizvollzugsanstalten
In manchen Bundesländern wird bereits wegen zurückgehender Gefangenenzahlen über eine Neuordnung der staatlich refinanzierten Stellen nachgedacht. Zugleich wächst der Anteil der Muslime in der Gesamtbevölkerung, vor allem auch in der Bevölkerungsgruppe der 25- bis 40-jährigen, die prozentual den höchsten Anteil der Gefangenenpopulation stellt. Das heißt, langfristig wird der Anteil muslimischer Inhaftierter und damit auch (zumindest theoretisch) die Nachfrage nach Muslimischer Seelsorge zunehmen. Laut niedersächsischem Justizministerium gab es im Juni 2017 ca. 750 muslimische Gefangene, das entspricht in etwa 15% aller Gefangenen. Daraus lassen sich ca. 3 Vollzeitstellen errechnen. Das muss man im Blick haben, ob man es will oder nicht. Auf keinen Fall kann die Sorge um einen Stellenerhalt die konstruktive Auseinandersetzung mit der Muslimischen Seelsorge nicht ersetzen.
Im Übrigen muss mit den Kirchenleitungen geklärt werden, welchen Stellenwert Gefängnisseelsorge hat, und was es den Kirchen wert sein müsste, bei rückläufiger oder (in einigen Bundesländern bereits) nicht vorhandener Refinanzierung die Gefängnisseelsorge aufrecht zu erhalten. Denn sollten Stellen tatsächlich gestrichen werden, müssen die SeelsorgerInnen zwangsläufig auch ihren Arbeitsumfang reduzieren. D.h. es müsste überlegt werden, ob Inhaftierten jeweils anderer Bekenntnisse Seelsorge vorenthalten oder diese an SeelsorgerInnen anderer Bekenntnisse verwiesen werden und in akuten Notfällen u.U. Wartezeiten zugemutet werden müsste. Natürlich wären auch Kooperationsmodelle der verschiedenen Bekenntnisse denkbar, wie sie längst zwischen evangelischen und katholischen SeelsorgerInnen erfolgreich existieren. Dies könnte allerdings nur bei gegenseitigem Respekt funktionieren und erfordert Kooperationsbereitschaft und insbesondere auch Verlässlichkeit aller. Man darf gespannt sein, ob und wie hier vor allem kirchenfeindliche und/oder aggressiv atheistische, aber auch muslimische Verbände sich auf eine solche Zusammenarbeit einlassen.
Der Begriff „Seelsorge“
Dies führt unweigerlich zu der Frage, was denn unter „Seelsorge“ zu verstehen ist. Die Beschlussfassung der Bundeskonferenz spricht von „Betreuung“ und gibt damit indirekt zu verstehen, dass es sich bei den Muslimen nicht um Seelsorge handelt. Andere sprechen von „islamisch religiöser Begleitung“. Das ist problematisch, weil damit gewissermaßen ein Seelsorgemonopol beansprucht wird. Vielleicht wäre es besser gewesen, von „Christlicher Seelsorge“ in Abgrenzung zu „Muslimischer Seelsorge“ zu sprechen. Denn der Begriff „Seel-sorge“ ist rechtlich nicht geschützt und zudem eher vage. Wem kommt die Deutungshoheit zu? Den Kirchen oder den Anstaltsleitern oder den Gerichten, die hier schon längst mitreden und mitentscheiden?
Art. 141 GG spricht von „Gottesdienst und Seelsorge“, § 53 StVollzG (Bund) spricht unter der Überschrift „Seelsorge“ von „religiöse(r) Betreuung“. Was ist aber gemeint? Der islamische Theologe Esnaf Begić wies vergangenes Jahr in einem Vortrag darauf hin, dass einige Sprachen der Muslime das Wort „Seelsorge“ gar nicht kennen. Gibt es aber möglicherweise Entsprechungen, andere Begriffe in der bosnischen, türkischen, kurdischen, arabischen oder persischen Sprache? Und was verstehen Christen unter Seelsorge? Gibt es überhaupt ein einheitliches Seelsorgeverständnis? Was heißt „cura animarum“, und was heißt hier „anima“ bzw. „Seele“? Wird der Begriff platonisch dualistisch oder biblisch ganzheitlich verstanden? Und was heißt „cura pastoralis“, Hirtensorge? Sind beide Begriffe, die in der Katholischen Theologie gebräuchlich sind, Synonyme? Heißt Seelsorge „Hirtensorge“? Ist Seelsorge dann Begleitung (Geistliche Begleitung)? Hier stehen notwendige Klärungen an, die keinesfalls Gerichten, Justizministerien oder Politikern überlassen werden dürfen.
Der Osnabrücker islamische Theologe Bülent Ucar schreibt in seinem Vorwort zu dem lesenswerten Buch „Barmherzigkeit: Zur sozialen Verantwortung islamischer Seelsorge“: „Die Seelsorge hat insbesondere in der christlichen religiösen Tradition einen festen Platz und beachtlichen Stellenwert. Sie ist aus dem Gesamtverständnis des Christlichen nicht wegzudenken. Im Bereich des Islams gestaltet sich die Situation, vor allem im Hinblick auf ihre Professionalisierung auf den Gebieten der Forschung, Ausbildung und praktischen Durchführung, bisher grundlegend anders. Vereinfacht gesagt, man kann von einer Seelsorge – selbstverständlich ausgehend von ihrem inhaltlichen Verständnis, ihrer institutionalisierten Organisation und der praktischen
Durchführung – im Islam und insbesondere auf den bundesdeutschen Kontext bezogen kaum sprechen. (…) Selbstverständlich geht es auch im Islam darum, in schweren Lebenssituationen die Lebensgewissheiten von Menschen zu stärken. Wenn es sich bei der Seelsorge um eine religiös fundierte und aus dem Glauben heraus motivierte Hilfeleistung handelt, so kann man festhalten, dass sie schon von Anfang an im Islam existierte. Doch viel mehr, sie ist darüber hinaus von grundlegender Bedeutung für die Religiosität im Islamischen Verständnis und als in der Praxis manifestierte Bestätigung des Glaubens.“
Inzwischen liegen zahlreiche Veröffentlichungen zu islamischer Seelsorge – auch institutionalisierter – vor. Es gibt über unseren kulturellen Horizont hinaus bereits vielfältige Erfahrungen islamischer Seelsorge. Dass dabei das Seelsorgeverständnis eher einem wie wir es im 19. Jahrhundert hierzulande kannten ähnelt, darf nicht dazu führen, dass diese Ansätze nicht ernst genommen werden. Es ist gutes Recht der Muslime, ihr eigenes Verständnis und ihre eigenen Akzentuierungen zu entwickeln und dies an ihre eigenen Erfahrungen in den Anstalten zurück zu koppeln. Die christliche Seelsorge kann freilich auf eine längere Tradition zurückblicken – entsprechend dem Verständnis von Kirche mit den drei Dimensionen Liturgie, Verkündigung und Diakonie. Diese drei Dimensionen durchdringen einander, und sie brauchen einander.
Wenn man genau hinschauen will, wird man diese Dimensionen auch in der islamischen Tradition entdecken – wenn auch möglicherweise mit anderen Akzentuierungen, inhaltlich wie formal. Ebenso wird man sie auch in religionsungebundenen und in gewisser Weise „gottlosen“ Praktiken, bei s.g. modernen Ritualdesignern (oder wie immer man sie benennen mag) finden. Die Schwerpunkte und Akzente werden nicht nur die einzelnen Religionen oder Weltanschauungen, sondern die AnbieterInnen von Seelsorge mit ihren je verschiedenen Persönlichkeiten, Charakteren, Fähigkeiten, Vorlieben usw. setzen und von sich aus schon unterschiedliche Verständnisse von Seelsorge erkennen lassen. Die Dimensionen selbst lassen sich – wie gesagt – nicht voneinander trennen: Liturgie würde zum sinnentleerten Ritual werden, Diakonie zu Sozialarbeit oder Sozialtechnik, Verkündigung zur Ideologie. Seelsorge würde letztlich den konkreten Menschen – sei es in der Gemeinde, im Krankenhaus oder im Gefängnis – aus dem Blick verlieren und ins Leere laufen. Die Frage nach dem, was Seelsorge heißt oder heißen soll, wird zum Teil noch überlagert von der Frage, wer denn die SeelsorgerInnen ausbildet und wer sie beauftragt.
Qualifizierung und Standards
Ein großes Problem stellt die bislang fehlende Qualifizierung dar – auch wenn es erste Ansätze und Ausbildungsangebote auf islamischer Seite gibt. Diskutiert wird derzeit die Frage, ob dies die Aufgabe der universitären islamischen theologischen Institute sei. Hierfür gibt es gute Gründe. Es gibt aber auch gute Gründe für eine „ausgelagerte“ praktische Ausbildung in Verantwortung muslimischer Verbände (wenn sie sich einigen können) – vergleichbar zu der der Kirchen. Das müssen die Muslime selbst entscheiden und sie müssen entsprechende Standards entwickeln, bevor dies die Politik in ihre Hand nimmt – womöglich mit einem einseitigen Interesse, etwa dem an einer Deradikalisierung von Muslimen im Strafvollzug. Solches lässt beispielsweise das „Religionspapier“ von Bündnis90/DIE GRÜNEN erkennen. Seelsorge, zumal verstanden als „Selbstsorge“ (Hermann Steinkamp) kann zwar identitätsbildend und damit deradikalisierend wirken, erschöpft sich darin aber nicht und darf keinesfalls funktionalisiert werden. In jedem Fall wird die Ausbildung eine innere Angelegenheit der Kirchen oder Religionsgemeinschaften bleiben müssen. Die Muslime könnten in ihrer Ausbildung durchaus praktische und konzeptionelle Unterstützung durch erfahrene christliche SeelsorgerInnen erhalten – wie es etwa schon an der Universität Osnabrück bei der Ausbildung künftiger muslimischer ReligionslehrerInnen geschieht.
Beauftragung muslimischer Seelsorger
Schließlich stellt sich wie gesagt auch die Frage nach der Beauftragung. Die christlichen SeelsorgerInnen sind von ihren LandesbischöfenInnen bzw. von ihren (Erz-)Bischöfen beauftragt. Diese wiederum stehen in einem besonderen, durch das Staats-Kirchenrecht geregelten Loyalitätsverhältnis. Durch einen Amtseid wird dies bekräftigt. Dadurch genießen die SeelsorgerInnen seitens der Anstalten einen Vertrauensvorschuss, dadurch ist letztlich auch das Seelsorgegeheimnis und das sich daraus ableitende Zeugnisverweigerungsrecht garantiert. Diesen Vertrauensvorschuss müssen sich die Muslimischen Verbände z.T. noch erarbeiten. Die DiTib beispielsweise muss sich noch zwischen der Türkischen Religionsbehörde und dem deutschen Religions- und Verfassungsrecht positionieren und ihr Verhältnis zu letzterem eindeutig klären. Das wird den Weg zur Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechtes (bisher nur in Hamburg) erleichtern und weiter gehende Fragen wie die nach der Dienst- und Fachaufsicht lassen sich leichter klären. Dann kann in einem weiteren Schritt das Seelsorgegeheimis bzw. die Schweigepflicht für die muslimischen SeelsorgerInnen verbindlich geklärt werden – notfalls müsste hierfür der § 203 StGB entsprechend ausgeweitet werden.
Viele Fragen sind noch offen und bedürfen einer sorgfältigen Prüfung. Muslime haben wie alle anderen das Grundrecht der Religionsausübung und daraus abgeleitet ein Recht auf Seelsorge, Betreuung oder Begleitung. Entscheidend ist schlussendlich nicht, wie das Kind heißt, sondern dass es lebt und leben darf.
Dr. Simeon Reiniger | JVA Meppen
Literatur
Tillmann Bartsch u.a.: Muslime im Justizvollzug – Skizze einer Pilotstudie. Zugleich eine kleine Einführung in die islamische (Gefängnis-)Seelsorge. In: Forum Strafvollzug 3/2016, 192-197.
Esnaf Begic, Helmut Weiß, Georg Wenz (Hg.): Barmherzigkeit. Zur sozialen Verantwortung islamischer Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2014.
Ralf Bothge: Nicht nur das Freitagsgebet: Muslimische Gefangenenseelsorge. In: Forum Strafvollzug Nr. 5 (2015), 312-314.
Abdullah Takim: „Und meine Barmherzigkeit umfaßt alle Dinge“ (Koran 7,156): Das islamische Menschenbild und die Seelsorge im Islam. Vortrag bei der Deutschen Islam Konferenz. Konstituierende Sitzung des Arbeitsausschusses zum Thema Seelsorge am 18. Februar 2016 (Manuskript).
Bülent Ucar, Martina Blasberg-Kuhnke (Hg.): Islamische Seelsorge zwischen Herkunft und Zukunft. Von der theologischen Grundlegung zur Praxis in Deutschland. (Reihe für Osnabrücker Islamstudien; 12) Frankfurt a.M. 2013, 141-150.
Georg Wenz, Talat Kamran (Hg.): Seelsorge und Islam in Deutschland. Herausforderungen, Entwicklungen und Chancen. Speyer 2012, 64-85.
Vigor Fröhmcke: Muslime im Strafvollzug: Die Rechtsstellung von Strafgefangenen muslimischer Religionszugehörigkeit in Deutschland.