Die Anstaltskirche der Justizvollzugsanstalt Herford erzählt Geschichten aus vergangener Zeit, die bis heute nachwirken.
Es sind authentische Erzählungen des Schauspielers Edgar Selge aus seinem Leben: Der Zwölfjährige erzählt die Geschichten aus seiner Sicht. Eine Kindheit um 1960 in Ostwestfalen. Ein bürgerlicher Haushalt in der Direktorenvilla vor den Mauern der JVA Herford. Sein Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen. Der Junge spürt Risse in dieser geordneten Welt. Am Weihnachtsfest in der Anstaltskirche scheint dies zu verschmelzen.
Gottes Idee, sich in Gestalt seines Sohnes in eine Krippe zu legen, in totaler Armut, überwölbt von einer wunderschönen Mutter und unter den Augen eines erstaunlich sanftmütigen Ersatzvaters, der sprachlos danebensteht, löst bei mir einen Rausch aus. Geschenke alleine schaffen das nicht. Weder Kasperpuppen noch Teile einer Modelleisenbahn. Und auch nicht das Weihnachtsgebäck. Die ganze Vielfalt der Lebkuchen, die Haselnussstängchen, die Prager Kuchen, das mit Zitronat versetzte Schokoladenkonfekt, sind erst durch ihren Zusammenhang mit der Weihnachtsgeschichte mehr als eine normale, klebrige Süßigkeit. Der Biss in die Plätzchen mit ihrer speziellen Gewürzmischung schmeckt nur so gut, weil die Frage, wie Gottvater und Sohn dieselbe Person sein können, immer mitgekaut wird.
Lieblingslied: Ich stehe an Deiner Krippe hier
Den entscheidenden Schub geben mir die am Abend mehrstimmig gesungenen Weihnachtslieder, meistens begleitet von Klavier, Geige oder Flöten. Ich singe keinen Alt, keine zweite Stimme, sondern nur Sopran, also Melodie. Bei meinem Lieblingslied “Ich steh an deiner Krippen hier” komme ich mühelos in die Höhe, genieße den Diskant und schneide messerscharf die Töne heraus. Tief unter mir mäandern die Harmoniefolgen am Klavier und der Bass meines Vaters, manchmal unterstützt von meinen Brüdern, dazwischen etwas unsicher die Geige meiner Mutter. Solange ich so singen kann, reicht das Weltall von den Sternen bis in jede Zelle meines Körpers hinein.
Gesang hat eine Gewalt
Noch vor meiner Schulzeit hat man mich einmal in eine Narkose versetzt, ich glaube, mit Äther, den man mir durch ein Sieb ins Gesicht gespritzt hat. Wucherungen aus Nebenhöhlen und Rachen mussten entfernt werden. In diesem Tiefschlaf hielt mich ein einziges Bild gefangen. Ich lag auf Wüstensand und schaute in den nachtblauen, von Sternen übersäten Himmel. Sonst war nichts. Aber der Weltraum war erfüllt: von Glück. In dieser Stimmung gleite ich durch die Adventszeit auf den Weihnachtsgottesdienst zu, am 24. Dezember um 16 Uhr in der Gefängniskirche. Das ist das Ziel. Die Gefangenen haben brennende Kerzen vor sich auf der Kirchenbank. Mein Bruder Martin sitzt uns im Rücken und lässt die Orgel rauschen. Er zieht alle Register, die das Instrument hergibt. Vor uns am Altar strahlen zwei deckenhohe Weihnachtsbäume, und wenn dann die vierhundert Jungs in “O du fröhliche” einfallen, dann ist Weihnachten bei mir angekommen. Der Gesang hat eine solche Gewalt, dass wir uns alle mit glänzenden Augen ansehen. Wo man hinschaut, schimmern Tränen.
Dann liefert unser Vater seine Weihnachtsansprache ab, über die er sich die Woche zuvor das Hirn zermartert hat. Er fängt an wie immer: “Liebe Jungs!”, und sein leitender Gedanke ist trostreich, im Sinne von “Das wird schon wieder”. Gott reicht seinen Gefangenen die Hand, sie sollen gewiss sein, dass er sie nicht im Stich lässt, und wenn sie gleich in ihre Zellen zurückgehen und ihre kleinen Pakete aufmachen, sollen sie spüren, wie die Liebe ihrer Angehörigen sie auch in der größten Einsamkeit begleitet. Sie sollen gewiss sein, dass sie mit Gott einen neuen Anfang machen können. Dass man sein Leben ändern kann. Dass Gott an sie glaubt und deshalb seinen Sohn in der Krippe geschickt hat. Und dass auch er, mein Vater, an sie glaubt, ebenso wie alle seine Mitarbeiter, und dass sie gemeinsam jedem von ihnen helfen werden, wieder Fuß zu fassen in diesem Leben, das auch andere, schönere Seiten für sie bereithält.
Göttliche Strahlen und Einflüsse
Wenn mein Vater fertig ist und seine Rührung bis zum Schluss zurückgehalten hat, singen alle “Stille Nacht, heilige Nacht”. Das ist noch mal eine Steigerung. Sobald die vierhundert Stimmen raufrutschen müssen, um “Alles schläft, einsam wacht” zu singen, entlädt sich ein solcher Massenseufzer hin zur Gnade Gottes, dass ich gleichzeitig heulen und lachen könnte. Dann beginnt ein endloses Händeschütteln mit den Mitarbeitern unseres Vaters, während Martin die Orgel noch mal brausen lässt und die Strafgefangenen Bank für Bank abrücken in ihre Zellenflure.
Ich bin so erfüllt von Gottesgegenwart, dass ich nicht verstehen kann, warum es nicht allen anderen genauso geht. Wenn der Anstaltspsychologe mit seinen dicken Brillengläsern auf uns zuwatschelt und uns verschmitzt zuruft: Na? Auch bekehrt?, frage ich mich, warum er nicht spürt, dass diese Nacht eine ganz andere ist, dass Gottes unendlicher Atem in diesem kalten Dezemberwind weht und uns hält, tröstet, Hoffnung macht und uns die Todesfurcht nimmt, dass die Geborgenheit, die er uns anbietet, unfassbar, ja schwindelerregend ist. Vielleicht bin ich zu euphorisch. Wahrscheinlich ist meine Fontanelle noch nicht ganz zugewachsen. Meine Hirngrütze, die ich da oben in meiner Suppenschüssel balanciere, ist sehr empfänglich für alle vorstellbaren göttlichen Strahlen und Einflüsse.
Lizenziert aus: Edgar Selge, Hast Du uns endlich gefunden | Rowohlt Verlag 2021, S. 81-83
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Damals kannten die Gefangenen noch die gottesdienstlichen Abläufe. Heutzutage kennt niemand mehr die Kirchenlieder. Das ist aber kein Defizit. Trotzdem ist es die selbe Sehnsucht und die Tiefe, dass da noch etwas anderes ist. Es spricht schon lange kein Anstaltsleiter mehr eine Rede in der Christmette. Gott sei Dank! Staat und Kirche müssen getrennt bleiben. Das, was dort erfahren wurde, passiert heute immer wieder. Das Einssein mit dem Erlebten, die Erkenntnis einer Situation und das Aufgehoben-sein in jeglicher Lebensphase. Danke Edgar Selge für seine Beschreibung, die die so nahe ist, als wäre es heute gewesen. Nichtsdestotrotz, gibt es noch andere Erfahrungen, die Selge in seinem Buch beschreibt. Aber so ist das Leben: widersprüchlich und herausfordernd.