Das jüdisch-christliche Menschenbild speist sich aus dem Grundsatz, dass der Mensch als Ganzes und damit jeder einzelne Mensch Geschöpf Gottes und damit zugleich Abbild Gottes und Gott ähnlich ist. Diversität anzuerkennen und fruchtbar zu machen bedeutet, die Gottes Schöpfung und die darin zu findende Vielfalt anzuerkennen und zu preisen. Prof. Dr. Thomas Hieke von der Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz erläutert bei der Studientagung “Diversität im Justizvollzug” in einer biblisch-theologischen Vergewisserung seine Sicht. [1]
Zum Begriff “Diversität”
Lee Gardenswartz und Anita Rowe haben in den 1990er Jahren den Versuch unternommen, Diversität zu klassifizieren und zu kategorisieren. Sie unterscheiden in ihrem Modell four layers, also vier Schichten: die Persönlichkeit des Individuums steht in der Mitte. Darum herum legen sich die internen und externen Dimensionen und zuäußerst liegen die organisatorischen Dimensionen. Die internen Dimensionen, welche die individuelle Persönlichkeit direkt umschließen, sind nahezu unveränderbare Eigenschaften, die jedoch häufig zu Ausgrenzungen und Diskriminierungen führen: Alter; Geschlecht [2] (soziales Geschlecht bzw. geschlechtliche Identität im Sinne von gender; biologisches Geschlecht im Sinne von sex); sexuelle Orientierung [3]; körperliche Integrität bzw. Behinderung; Ethnische Herkunft und race im Sinne von Zuschreibungen, die über Hautfarbe, Sprache, kulturelle Praktiken usw. erfolgen.
Eine Anpassung dieses Modells für den deutschsprachigen Bereich wurde durch die „Charta der Vielfalt“ unternommen [4]. Dabei wurde die heute als problematisch geltende Dimension race weggelassen und durch zwei andere Kerndimensionen ersetzt: Soziale Herkunft einerseits und Religion und Weltanschauung andererseits. Man kann an seinem Alter nichts ändern; viele Menschen versuchen das zwar, aber es gelingt letztlich nicht. Ebenso versuchen viele Menschen – mitunter aus gewichtigen Gründen – ihre soziale Herkunft oder ihre ethnische und nationale Herkunft zu verschleiern, aber auch das funktioniert nicht, denn die eigene Herkunft prägt die Menschen. Ein inzwischen gesellschaftlich viel diskutiertes Thema ist die (Un)Abänderlichkeit der sexuellen Identität sowie der geschlechtlichen Identität. Auch die körperlichen und geistigen Fähigkeiten sind Dinge, die man nicht ändern kann.
Lediglich bei Religion und Weltanschauung, die auch als Kerndimension definiert sind, könnte eine Veränderung auftreten, aber selbst das ist nicht ganz leicht, denn die Religion bzw. Weltanschauung, aus der man kommt, hinterlässt ganz eigene Prägungen, ähnlich wie die soziale Herkunft. Keine Weltanschauung zu haben, ist auch eine Weltanschauung. Deshalb wird der allgemeinere Begriff Weltanschauung anstelle von Religion oder Spiritualität verwendet. Auch ein dezidierter Atheismus gehört hier dazu. Wenn man in einer atheistischen Familie aufgewachsen ist, dann ist man dadurch geprägt. Niemand ist nicht sozialisiert, denn da müsste er ja als Robinson Crusoe aufwachsen. Das geht nicht, weil der Mensch von Geburt an auf irgendeine Form von Hilfe angewiesen ist. Das ist eine Form von Sozialisierung. Jede Person ist in irgendeiner Weise sozialisiert. Wie, das ist die Frage. Und das gilt es auch zu reflektieren. Zur Ebene der äußeren Dimensionen gehören beispielsweise Gewohnheiten; Elternschaft/Familienstand; Ausbildung; Auftreten und Freizeitverhalten. Auf der äußersten, organisationalen Ebene liegen Aspekte wie Arbeitsfeld; Zugehörigkeit zu Vereinen, Gewerkschaften etc.; Arbeitsort; Funktion/Einstufung usw. Dies sind, im Gegensatz zu den internen Kerndimensionen, Dinge, die man mehr oder weniger verändern kann, wo eine Anpassung und Adaption gemäß der eigenen Persönlichkeit möglich ist.
2. Problemstellung Diskriminierung
Diskriminierung heißt, dass Menschen anders behandelt und abgewertet werden aufgrund einer oder mehrerer dieser internen Kerndimensionen, an denen man nichts ändern kann. Aus dieser Problematik entstehen Fragen, über die jede:r immer zum Nachdenken aufgefordert ist. Als erstes stellt sich die – eher theoretisch gelagerte – Frage, ob die genannten Kerndimensionen wirklich unveränderbar sind. Ich würde das bejahen. Daneben steht die praktische Frage, warum überhaupt Diskriminierung und Ausgrenzung stattfinden. Es bleibt zu ergründen, warum manche Menschen Anstoß an der Andersartigkeit ihrer Mitmenschen nehmen. Und zuletzt ist nach den Folgen von Diskriminierung zu fragen, für das ausgegrenzte Individuum, aber auch für die Gesellschaft.
3. Bibeltheologische Grundlagen und anthropologische Grundsätze
Gen 1,26: Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich!
Gen 3,20: Der Mensch gab seiner Frau den Namen Eva, Leben, denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen.
Gen 5,1–3: 1 Dies ist das Buch der Geschlechterfolge Adams: Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. 2 Männlich und weiblich erschuf er sie, er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden. 3 Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn, der ihm ähnlich war, wie sein Bild, und gab ihm den Namen Set.
Gen 5,1–3 greift Gen 1,26 und 3,20 auf. In Gen 1,26 geht es um die Erschaffung des Menschen als männlich und weiblich, als gottähnlich, als Abbild Gottes. Das zweite, Gen 3,20, gehört zum zweiten Schöpfungstext, der auch davon spricht, wie das Leben weitergegeben wird. An diesen drei Texten, vor allem an Gen 1,26 und Gen 5,1–3, kann eine Grundlage der jüdisch-christlichen Anthropologie abgelesen werden, denn an ihnen wird die biblische Idee von der Abstammung von einem Urmenschenpaar sichtbar. Auf biologischer Ebene macht die Vorstellung von der Abstammung von einem Urmenschenpaar logischerweise keinen Sinn. Die Bibel will keinen Biologieunterricht erteilen, sondern sie möchte eine grundsätzliche Idee des Menschen aufzeigen: Die Abstammung von einem Urmenschenpaar bedeutet die grundsätzliche Gleichheit (und Gleichberechtigung) aller Menschen unabhängig von den genannten Kerndimensionen [5]. Das heißt, die Bibel konstruiert aus den Unterscheidungen, die bei der Charta der Vielfalt auftreten, keine Unterschiede hinsichtlich des Wertes eines Menschen. Vor diese Kerndimensionen wird biblisch die Idee der Abstammung von einem Urmenschenpaar gesetzt und damit die Gleichheit aller Menschen, unabhängig von der geschlechtlichen Identität. Diese Genesis-Texte lassen die Geschlechter gleichberechtigt sein und stellen keine Unterordnung der Frau heraus.
Gleichwohl wurde das in der Rezeptionsgeschichte dieser Texte gemacht, auch innerhalb der biblischen Schriften. Im Buch Jesus Sirach etwa und im Neuen Testament gibt es verschiedene Stellen, die daraus eine Unterordnung der Frau ableiten wollen. In Anspielung an Eva behauptet das Buch Jesus Sirach: „Von einer Frau kommt der Anfang der Sünde, und durch sie sterben wir alle“ (Sir 25,24). Das ist schon sehr gewagt, der Frau am Anfang die Sünde und den Tod aller Menschen anzulasten. Diese frauenfeindliche Auslegung von Gen 3,6 ist tendenziös und letztlich unzutreffend, denn auch der Mann entscheidet sich frei dazu, vom Baum zu essen – und dieses Essen hat gerade nicht den sofortigen Tod zur Folge. Die Lehren des Jesus Sirach sind ebenso wie die einschlägigen Stellen im Neuen Testament (Eph 5,33; Kol 3,18; 1 Tim 2,11–14) Ausdruck der patriarchalen und männerzentrierten Gesellschaftsstruktur. In Anpassung an die Standards ihrer Zeit haben die biblischen Autoren ihre engführende Auslegung der Genesis-Texte vorgelegt. Wenn wir das konsequent weiterdenken, müssen wir auch heute die Auslegung an die heutigen Standards anpassen. Wenn wir aber heute aus guten Gründen die patriarchale und männerdominierte Gesellschaftsstruktur aufgegeben haben (oder aufgeben wollen), dann lesen wir den biblischen Text mit Recht als Ausdruck der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen, gleich welchen Geschlechts.
Ein frühes Beispiel für die Auffassung von der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen findet sich in einer jüdischen Auslegung aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Sie deutet die Abstammung von einem Urmenschenpaar so, dass keiner sagen kann: „Mein Vater war etwas Besseres als deiner“ (Mischna, Sanhedrin 4,5). Hier wird die Kerndimension der ethnischen oder sozialen Herkunft als Wertungskriterium abgelehnt. Niemand kann sagen, mein Vater war etwas Besseres als deiner, woraus man folgern würde: Ich bin etwas Besseres als Du. So zu reden ist nicht zulässig. Wenn es dennoch gemacht wird, muss man sich dagegen wehren. Man achte etwa auf die politische Diskussion, auf die Programme mancher Parteien, auf manche Aussagen in Politikerreden, ob darin nicht gerade heute wieder ein latenter Chauvinismus steckt, also eine verborgene Ansicht, dass wir als Gruppe etwas Besseres sind als die anderen. Auch wir als Christen sind davon nicht frei; lange haben wir uns als etwas Besseres gehalten als diejenigen, die nicht glauben. Provokanter noch ist die These, die Weißen sind etwas Besseres als die Schwarzen. Oder auch in der Kolonialzeit: Man wundert sich heute beim Lesen der alten Berichte über das Deutsche Reich und seine Kolonien in Ostafrika, wie man damals völlig nonchalant gesagt hat, wir müssen denen unsere Zivilisation bringen, wir sind die Besseren. Und dieser Chauvinismus ist latent, weil vielen dieses Denken gar nicht bewusst ist.
Damit stellt sich also die Frage, was ist ein Mensch und wie kommt man in diesen Status Mensch? Das ist auch an den genannten biblischen Texten ablesbar, allen voran an Gen 5,1–3: Die Gottähnlichkeit macht den Menschen aus und die Aufgabe als Abbild Gottes Repräsentant zu sein. Der Mensch ist Gottes Stellvertreter auf Erden. Nachdem diese Funktion und Aufgabe für das erste Menschenpaar vorgesehen sind, klärt Gen 5,3, wie die Gottesbildlichkeit auch auf die nachfolgenden Generationen, also alle Menschen, übergeht: allein durch Zeugung und Geburt, also gerade nicht durch externe Zuschreibungen durch andere Menschen, Institutionen, Religionen etc. Das klingt harmlos, ist aber wichtig, denn, wenn ich etwas durch Zeugung und Geburt bekomme, dann kann mir dass auch niemand wegnehmen, kein anderer Mensch und auch keine Institution. Der Text macht das deutlich: Adam ist Gott ähnlich (5,1) und der Sohn Adams ist das Bild seines Vaters (5,3). Was hier patriarchal formuliert ist, gilt natürlich auch für andere Geschlechter.
Wenn keine Institution und kein anderer Mensch etwas am Status als Mensch ändern können, stellt sich folgend die Frage, ob Unterschiede in den genannten Kerndimensionen daran etwas ändern können. Wenn jemand eine bestimmte sexuelle Identität oder eine bestimmte ethnische Herkunft hat, kann das an dieser Abbildhaftigkeit oder der Repräsentanz Gottes, Gottähnlichkeit irgendetwas ändern? Ich würde sagen nein. Und auch medizinische Hilfen bei der Zeugung, etwa In-Vitro-Fertilisation, werden an diesem Status nichts ändern.
4. Geschlechtliche Identität
Gen 1,27: Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.
Diese Bibelstelle entstammt dem ersten Schöpfungstext (Gen 1,1–2,3) und erzählt die Erschaffung des Menschen. Charakteristisch ist der Merismus „männlich – weiblich“. Ein Merismus ist „eine rhetorische Figur der Lyrik, mit dem die Gesamtheit durch zwei, meist gegensätzliche Begriffe ausgedrückt wird“ [6]. In diesem Falle steht das Gegensatzpaar männlich – weiblich stellvertretend für die gesamte Menschheit. Weitere, vielleicht anschaulichere Beispiele für Merismen sind „Haus und Hof“ (da gehört mehr dazu als Wohnhaus und Vorhof); „Licht und Finsternis“ (beinhaltet auch die Dämmerung) sowie „Land und Meer“ (dazu gehören auch Strand und Wattenmeer).
Die Beispiele zeigen eine wichtige Sache, die auch für den Menschen in der Schöpfungserzählung relevant wird. Für den Merismus männlich – weiblich in Gen 1,27 ist festzuhalten, dass dieses beispielhafte Gegensatzpaar nicht binär zu verstehen ist. Es erschöpft sich nicht in den Polen „Mann“ und „Frau“, sondern bezieht auch alles ein, was dazwischenliegt. Neben dieser doch sehr eindeutigen Konstruktion gibt es noch eine zweite, die sich im zweiten Schöpfungstext in Gen 2 findet: Der Text spricht präzise zunächst nur vom Menschen (ha-adam); erst nach der Veränderung durch Entnahme des Bauteils („Rippe“) und in der Gegenüberstellung in Gen 2,23 definiert sich dieses Wesen als Mann und das Gegenüber als wesensgleiche Frau. Daraus folgt meine These, Gen 1 und Gen 2–3 sprechen vom Üblichen, ohne das Unübliche auszuschließen oder zu verurteilen. Diese These bringt einigen Diskussionsbedarf mit sich. Denn unter dieser Voraussetzung steht die jüdisch-christliche Anthropologie, die ja maßgeblich auf Gen 1 und Gen 2–3 beruht, allen Menschen offen gegenüber, gleich ihrer geschlechtlichen Identität. Dies aber entspricht definitiv nicht der gelebten Praxis, die ja erst gerade anfängt, sich auch den Menschen mit einer nicht-binären geschlechtlichen Identität zuzuwenden.
5. Sexuelle Identität
Gen 1,28: Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch…
Dieser Text ist eine Segenszusage Gottes an die Menschen, eine zugesprochene Kraft. Entscheidend ist hier: Ist es „nur“ eine Segenszusage oder auch eine Aufforderung? Und ist der Segen Gottes von der Erfüllung dieser Aufforderung abhängig? An dieser Stelle kann berechtigt der Einwand gebracht werden, was denn mit von Natur aus unfruchtbaren Menschen ist, ob sie vom Segen Gottes ausgeschlossen sind; oder mit Menschen, die keine Kinder bekommen wollen oder die keine:n (geeignete:n) Partner:in finden, um Kinder zu bekommen; etc. Und letztlich: unter der biologischen Voraussetzung, dass Kinder nur durch Frau und Mann gezeugt werden können, gilt nach dem Segensspruch Heterosexualität als die zu haltende Norm? Sodass daraus folgen würde, dass jede andere Form der sexuellen Identität [7] eine abnormale Abweichung darstellt? Ich vertrete hierzu die These, dass die in diesem kurzen Vers angedeutete und auch sonst in Gen 1–2 als üblich beschriebene Fortpflanzung des Menschen ein Segen ist – es heißt ja schließlich Gott segnete sie – aber keine Verhaltensnorm. Eine Norm bräuchte eine Sanktionierung, welche die negativen Folgen der bewussten Übertretung klarmacht, aber das fehlt hier. Fortpflanzung und Nachkommenschaft sind ein Segen, aber sie sind erstens keine Verhaltensnorm und zweitens erschöpft sich der göttliche Segen nicht darin. Auch Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, keine Nachkommen zeugen (können) stehen unter dem Segen Gottes. Eine weitere Bibelstelle, die oft zur Abwertung und dem Verbot von Homosexualität herangezogen wurde und wird, findet sich im 3. Buch Mose, Levitikus:
Lev 18,22: Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.
Hier ist eine Kontextualisierung wichtig. Dieses Gebot bzw. Verbot steht im Zusammenhang von mehreren Verboten im Bereich der Sexualität. Es steht zusammen mit den Verboten des Sexualverkehrs bzw. der Ehe mit einer menstruierenden Frau (Lev 18,19), mit einer verheirateten Frau (Lev 18,20) und mit einem Tier (Lev 18,23). Gemeinsam ist diesen vier Verboten, dass aus den genannten Verbindungen keine Nachkommen, bzw. beim Verbot des Sexualverkehrs mit einer verheirateten Frau keine legitimen Nachkommen, hervorgehen. Um diesen größeren Zusammenhang zu verstehen, ist der soziale Kontext von Bedeutung. Zu der Zeit, in der diese Verbote entstanden sind, ist das Volk Israel eine kleine Gemeinschaft unter erheblichem Druck von außen durch die umgebenden politischen Großmächte (Assur, Babylon, Ägypten). Außerdem gibt es eine hohe Kindersterblichkeit. Um das Überleben des Volkes zu sichern, braucht es also Nachkommen, und zwar solche, die nach den gültigen Rechtsnormen legitime Nachkommen sind. Somit erklärt sich das geschriebene Verbot von gleichgeschlechtlichem Verkehr unter Männern als Verbot einer Form der Sexualität, die nicht auf Nachkommenschaft hinzielt.
Als Ertrag kann festgehalten werden, dass in der Bibel nur gleichgeschlechtliche Sexualakte unter Männern in einer bestimmten Situation abgelehnt werden. Das Verbot kann in seinem spezifischen Entstehungskontext gut verstanden werden (die kleine nachexilische Gemeinde in und um Jerusalem). Der kontextgebundene Grund des Verbots ist die Sorge um Nachkommenschaft zur Weiterexistenz des Volkes, sodass Sexualakte, die nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet sind, abzulehnen sind. Dies gilt auch für die Verbote von homosexuellem Verkehr, die sich im Neuen Testament finden (Röm 1,24–27; 1 Kor 6,9; 1 Tim 1,10). Auch hier geht es um die Verhinderung von Nachkommenschaft.
Dtn 22,5: Eine Frau soll nicht die Ausrüstung eines Mannes tragen und ein Mann soll kein Frauenkleid anziehen; denn jeder, der das tut, ist JHWH, deinem Gott, ein Gräuel. [8]
In diesem Vers geht es um das Wahren der Geschlechteridentifizierung zur Aufrechterhaltung der Ordnung der Gesellschaft. Das Verbot kann viele Gründe haben: Der Begriff „Ausrüstung“ verweist auf die Kriegssituation, und in der sollen Frauen nicht zu Kämpferinnen werden, ebenso wie sich Männer nicht in Frauenkleidern davonstehlen sollen. Ferner sollen Männer nicht durch Frauenkleider unbefugten Zutritt zu Frauenbereichen haben (und damit z.B. Ehebruch begehen können). Schlussendlich ist zu sagen, dass homoerotische Veranlagungen nicht explizit Thema von biblischen Texten sind. Auch andere sexuelle Identitäten sind nicht im thematischen Blickfeld der Bibel. Damit sei nicht negiert, dass es auch zur damaligen Zeit schon eine Diversität an sexuellen Identitäten gab. Es war für die Schreiber, die sich um die Abfassung der Texte bemühten, schlichtweg nicht von Relevanz [9].
6. Ethnische Herkunft/Nationalität
Gen 11,6–9: 6 Und JHWH sprach: Siehe, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, wenn sie es sich zu tun vornehmen. 7 Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. 8 JHWH zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. 9 Darum gab man der Stadt den Namen Babel, Wirrsal, denn dort hat JHWH die Sprache der ganzen Erde verwirrt und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.
Diskussionsfragen: Ist die „Sprachverwirrung“ eine Strafe? Wenn ja, wofür?
Die „klassische“ Deutung der Turmbaugeschichte sieht in der Sprachverwirrung und der Zerstreuung über die ganze Erde meist eine göttliche Strafe für den Hochmut der Menschen, den Himmel stürmen zu wollen. Diese Sicht der Geschichte ist sehr einseitig und wird dem Text nicht gerecht. Auch wird so das Gottesbild verunklart: Was wäre das für ein Gott, der Angst haben müsste, dass seine Geschöpfe seinen Himmel stürmen würden? Das wäre doch ein eher „kleiner“ Gott … Die Größe Gottes wird vielmehr im Text in V 5 deutlich: „Da stieg JHWH herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten.“ Gott muss also erst herabsteigen, um das Sandkastenspiel der Menschenkinder überhaupt sehen zu können – keine Rede davon, dass ein „Himmelsstürmen“ je von Erfolg hätte sein können.
Vielmehr ist die Sprachverwirrung Gottes Trick, dass die Menschen seinen Schöpfungsplan („bevölkert die Erde“) doch durchführen und sich nicht an einer Stelle ballen (und alles „uni-form“ haben). Ein Volk, eine Sprache – da fehlt nicht mehr viel, und es heißt „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass sich die Turmbaugeschichte als Gegengeschichte zu Totalitarismen aller Art lesen lässt. Gottes Wille ist vielmehr die Vielfalt der Sprachen – und auch der Völker, denn im Kapitel zuvor (Gen 10) wird in der Völkertafel die Verschiedenheit der Sprachen, Länder, Völker, Sippenverbände usw. problemlos anerkannt. Dabei wird aber die grundsätzliche „Verwandtschaft“ als „Menschheitsfamilie“, die von Noach abstammt, betont.
Lev 19,33–34: 33 Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. 34 Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst/er ist wie du; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin JHWH, euer Gott.
Das Gebot der Liebe zum Fremden wird mit dem gleichen Wortlaut formuliert wie das berühmte Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). Die hebräische Wendung kāmôkā kann dabei in zweierlei Weise wiedergegeben werden – die Übersetzung „wie du“ betont die schöpfungstheologische Sicht der Gleichheit aller Menschen. Insofern überschreitet das biblische Liebesgebot alle Grenzen und bezieht sich auf alle Menschen. „Liebe“ widerstreitet dabei der instinktiven Neigung zur Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit). Die Liebe zum Fremden geht (möglicherweise) gegen die instinktive Neigung zur Xenophobie; sie gründet auf dem Anderssein, auf der „Heiligkeit“ des Gottes des Exodus. Die Liebe zum Nächsten und zum Fremden mit Gastrecht wird als Weg der Nachahmung von Gottes Heiligkeit verstanden; zugleich werden die Fremden in bestimmte Punkte der Ritual- und Moralgesetzgebung einbezogen. Der „integrierte Fremde“ ist ein notwendiges Kennzeichen Israels, und dieses inklusive Israelkonzept, konstituiert in der Einheit der Gottesverehrung, unterscheidet sich von einem „genetischen“ oder „urzeitlichen“ Identitätskonzept. Bei näherer Betrachtung wird so die Geschichte Israels zur Menschheitsgeschichte – auf diese Weise öffnen sich Türen für die „Gültigkeit“ oder Anwendbarkeit der göttlichen Weisungen über Zeit und Raum des antiken Israel hinaus. [10]
Galater 3,27–29: 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. 29 Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Abrahams Nachkommen, Erben gemäß der Verheißung.
Dies ist eine wichtige und viel zitierte Stelle aus dem Galaterbrief des Paulus – hier werden (mindestens theoretisch) für die Menschen christlichen Glaubens gleich mehrere Kern-Dimensionen von „Verschiedenheit“ als Grund für Diskriminierung aufgehoben.
Diskussionsfragen: Kann aus dieser Verheißung eine Norm generiert werden? Welche Impulse gibt diese Stelle für heute?
Für Menschen christlichen Glaubens, so Paulus, gibt es „in Christus“ also keine Unterschiede mehr hinsichtlich der ethnischen Herkunft (Juden vs. Griechen), der sozialen Herkunft (Sklaven vs. Freie) und der geschlechtlichen Identität (männlich vs. weiblich) – auch hier handelt es sich (wie in Gen 1) nicht um bipolare Gruppierungen, sondern um Merismen, die letztlich auf eine Gesamtheit zielen. Hier will Paulus die von ihm wahrgenommene „Diversität“ als Unterscheidungs- bzw. Diskriminierungsgrundlage aufheben. Leider wurden und werden die daraus eigentlich zwingend abzuleitenden Schlussfolgerungen für eine wirklich „christlich“ gestaltete Gesellschaft und Kirche nicht gezogen. Wie lange dauerte die offizielle Aufhebung der Sklaverei, und wie viele sklavenartige Ausbeutung gibt es bis heute! Das Problem ist: Paulus macht von der Textsorte her eine Feststellung, die eher in die Zukunft geht. Er formuliert gleichsam eine Verheißung. Können wir aus dieser Verheißung eine Norm generieren? Vielleicht mindestens den ethischen Impuls, Diskriminierung aufgrund von Diversität zu beseitigen…
Zusammenfassung: Die Turmbaugeschichte wehrt sich gegen Uniformität und den totalitären Zwang zur Einheitlichkeit. Verschiedene Sprachen (und Völker etc.) sind Gottes Wille. Die Tora betont mehrfach die notwendige und gottgewollte Integration des „Fremden“. Das „Nächstenliebegebot“ bezieht sich auf alle Menschen. Das Pauluswort in Gal 3,28 lässt sich heute so interpretieren, dass damit bestimmte Kern-Dimensionen von Diversität (ethnische bzw. soziale Herkunft, geschlechtliche Identität) nicht zur Diskriminierung unter Menschen christlichen Glaubens herangezogen werden dürfen.
7. Körperliche und geistige Fähigkeiten
Lev 21,16–23: 16 JHWH sprach zu Mose: 17 Sag zu Aaron: Keiner deiner Nachkommen, auch in den kommenden Generationen, der ein Gebrechen hat, darf herantreten, um die Speise seines Gottes darzubringen. 18 Denn keiner mit einem Gebrechen darf herantreten: kein Blinder oder Lahmer, kein im Gesicht oder am Körper Entstellter, 19 kein Mann, der einen gebrochenen Fuß oder eine gebrochene Hand hat, 20 keiner mit Buckel, kein Kleinwüchsiger, keiner mit Augenstar, Ausschlag, Flechte oder Hodenquetschung. 21 Keiner der Nachkommen Aarons, des Priesters, der ein Gebrechen hat, darf herantreten, um die Feueropfer JHWHs darzubringen. Er hat ein Gebrechen, er darf nicht herantreten, um die Speise seines Gottes darzubringen. 22 Doch darf er von der Speise seines Gottes, von den hochheiligen und heiligen Dingen, essen. 23 Aber er darf nicht zum Vorhang kommen und sich nicht dem Altar nähern; denn er hat ein Gebrechen und darf meine heiligen Gegenstände nicht entweihen; denn ich bin JHWH, der sie geheiligt hat.
Hier werden körperbehinderte Angehöriger der Priesterfamilien vom priesterlichen Dienst am Heiligtum ausgeschlossen. Aber gleichzeitig wird festgelegt, dass diese Männer aus den ausschließlich den Priestern zustehenden Opfergaben versorgt werden. Diese Männer sind also nicht „unrein“ und nicht vom Kult ausgeschlossen. Die Vorschrift könnte folgende Funktionen gehabt haben: Schutz der männlichen Angehörigen von Priesterfamilien mit Handicap; Schutz des Kultbetriebs davor, dass nur die Menschen, die „nicht richtig arbeiten“ können, ihn wahrnehmen (analog zu Tieren mit körperlichen Fehlern), die anderen aber „wertvollere“ oder „gewinnbringendere“ Tätigkeiten wahrnehmen.
Jes 35,4–6: 4 Sagt den Verzagten: Seid stark, fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott! Die Vergeltung kommt, die Wohltat Gottes! Er selbst kommt und wird euch retten. 5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben werden geöffnet. 6 Dann springt der Lahme wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen frohlockt, denn in der Wüste sind Wasser hervorgebrochen und Flüsse in der Steppe.
Dieser Abschnitt ist eine euphorische Ankündigung der von Gott gewirkten Heilszeit. In dieser Endzeit erfolgt die eschatologische Aufhebung körperlicher Defizite. Hier wäre zu diskutieren: Wie lesen Menschen mit Handicap diese Stellen? Empfinden sie ihre Lage als „defizitär“? Wie lesen sie die „Heilungsgeschichten“ der Bibel: die eschatologischen Verheißungen in Jesaja, die Heilungen, die von Jesus erzählt werden? Und, anders gewendet: Traut sich christliche Verkündigung noch, derartige Verheißungen zu thematisieren, dass also von Gott noch etwas zu erwarten ist?
Joh 9,1–3: 1 Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. 2 Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde? 3 Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.
Die Stelle im Johannesevangelium hält unmissverständlich fest: Krankheit/Behinderung/Handicap sind kein Zeichen von Sünde (seitens der Person selbst oder der Eltern). Alttestamentlich wäre dazu auch das Buch Ijob heranzuziehen. Wenn Jesus nach dieser Stelle den Blindgeborenen heilt, ist das als „Zeichen“ zu verstehen, wird aber von der unmittelbaren Umgebung Jesu (Pharisäer) nicht verstanden. Der Schluss (Joh 9,39–41) metaphorisiert das Thema „Blindheit“. Grundsätzlich ergeben sich hier folgende Fragen: Wie kann das Thema „Krankheit, körperliches bzw. geistiges Handicap“ in den (christlichen) Glauben integriert werden? Wie sind die Heilungen Jesu (heute angemessen) zu verstehen? Sind Spiritualisierungen bzw. Metaphorisierungen ein angemessener Weg? In Antike und Moderne ist ein je unterschiedlicher Umgang mit Krankheit festzustellen: In der Antike galten Kranke als von Gott verlassene, gestrafte oder von Dämonen besessene, von denen man sich tunlichst fernhält. In der Moderne wird nach Therapien gesucht bzw. werden die Ursachen in Naturvorgängen erkannt. Führt das dazu, dass kranke/behinderte Menschen nicht mehr diskriminiert werden?
8. Religion/Weltanschauung
Dtn 5,6-7: 6 Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. 7 Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
Die Bibel vertritt nicht gerade einen religiösen Pluralismus. Sie optiert – gerade in ihrer Endfassung – für einen strengen Monotheismus. Diesen Glauben an den einen und einzigen Gott übernehmen die Religionen Judentum, Christentum und Islam. Über weite Strecken lehnt die Tora die Verehrung von anderen Göttern ab, formuliert das Verbot sehr detailliert und geht in den später entstandenen Passagen dazu über, die Existenz anderer Götter überhaupt in Frage zu stellen. Um diese Position zu festigen, wird das Verbot dahingehend erweitert, mit den Menschen anderer Kulturen und religiösen Kulten gar keinen Umgang zu pflegen:
Dtn 7,1–8: 1 Wenn JHWH, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt – Hetiter, Girgaschiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die zahlreicher und mächtiger sind als du –, 2 wenn JHWH, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du an ihnen den Bann vollziehen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen 3 und dich nicht mit ihnen verschwägern. Deine Tochter gib nicht seinem Sohn und nimm seine Tochter nicht für deinen Sohn! 4 Wenn er dein Kind verleitet, mir nicht mehr nachzufolgen, und sie dann anderen Göttern dienen, wird der Zorn JHWHs gegen euch entbrennen und wird dich unverzüglich vernichten. 5 So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen. 6 Denn du bist ein Volk, das JHWH, deinem Gott, heilig ist. Dich hat JHWH, dein Gott, ausgewählt, damit du unter allen Völkern, die auf der Erde leben, das Volk wirst, das ihm persönlich gehört. 7 Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch JHWH ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern. 8 Weil JHWH euch liebt und weil er auf den Schwur achtet, den er euren Vätern geleistet hat, deshalb hat JHWH euch mit starker Hand herausgeführt und dich aus dem Sklavenhaus freigekauft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.
Um diese aus heutiger Sicht kompromisslos und hart klingenden Worte einzuordnen, bedarf es hermeneutischer Brücken. Dazu ist auf den Entstehungskontext zu achten. Die auf den Monotheismus zielenden Gebote und Verbote entstehen im und nach dem Babylonischen Exil des 6. Jh. v. Chr. – eine Zeit, in der das antike Volk Israel schwer unter Druck steht. Die Versuchung ist groß, sich an die siegreichen Babylonier und ihren Kult der Verehrung vieler Götter, verkörpert v.a. durch die Gestirne, anzuschließen und den Glauben an JHWH, den Gott Israels, aufzugeben. Die biblisch gewordenen Texte gehen einen anderen Weg: Sie stellen JHWH als den einen und einzigen Gott dar, der unumschränkte Macht hat und neben dem es keine anderen Götter gibt. Die entsprechende Ermahnung, keinen fremden Göttern zu dienen, ist dann primär eine Botschaft nach innen, also eine Ermahnung hin zum eigenen Volk und keine Drohung an die fremden Völker. Sie dient der eigenen religiösen Identität und vor allem ihrer Sicherung angesichts des gesellschaftlichen Drucks gegen das Volk. Dahinter steht die Idee, dass das Volk Israel sich selbst schützen muss, daher steht explizit das Verbot, keinen fremden Göttern zu diesen oder die religiösen Orte und Einrichtungen der anderen Völker zu übernehmen. Die Formulierungen sind dabei sehr rigoros gestaltet: Das Volk als Ganzes soll und darf nicht vom Glauben an den einen Gott JHWH abweichen – die Königebücher erzählen davon, in welches Unheil es führt, wenn das Volk es trotzdem tut. Auch jede:r einzelne:r Israelit:in darf nicht von der alleinigen Verehrung JHWHs abweichen, weder aus Opportunismus, aus Angst oder in der Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile.
Aber es geht auch anders. Die Bibel überliefert Erzählungen, die keineswegs unbedeutend sind, in denen das Miteinander der Völker über kulturelle Grenzen hinweg möglich ist. So zeigen die Erzählungen der Erzeltern in Gen 12–36 eine friedliche Koexistenz mit den Nachbarn anderer Religion(en). Und auch die Geschichte von Josef in Ägypten (Gen 37–50) ermutigt in positiver Weise geradezu, der eigenen Überzeugung auch in fremder (religiöser) Umgebung treu zu bleiben, ohne die fremde Kultur zu verurteilen. Die Einhaltung der Gebote Gottes, und dann insbesondere des Gebots der Alleinverehrung JHWHs, wird nicht einfach so eingefordert, sondern mit einer Verheißung versehen. JHWH lässt Israel über Mose mitteilen:
Lev 18,5: Ihr sollt meine Satzungen und meine Rechtsentscheide bewahren. Wer sie einhält, wird durch sie leben. Ich bin JHWH.
Die Verheißung besteht darin, dass die Befolgung der Weisung Gottes zum Leben führt, zum wahren, umfassenden, gelingenden Leben. Daraus folgt der Umkehrschluss, dass die Weisung Gottes in einer Weise ausgelegt werden muss, dass ihre Befolgung zum „Leben“ führt. Das Ziel „Leben“ ist die Richtschnur für die Interpretation. Wichtig ist, dass die Interpretation der göttlichen Weisung die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten nicht einschränkt. Es ist möglich, diesen Grundgedanken zu verallgemeinern: Eine Religion, die mit ihren Vorschriften menschliche Entfaltung einschränkt, die Angst macht, einengt und positive Lebensmöglichkeiten verhindert, ist falsch. Eine Entsprechung dieses Grundgedankens des Alten Testaments findet sich auch in den vier Evangelien im Neuen Testament, wo an vielen Stellen eben dieses Thema aufkommt. Jesus streitet mit den Schriftgelehrten, weil er eine Interpretation der göttlichen Gebote predigt, die den Menschen guttun soll. Ein gutes Beispiel dafür ist die Frage nach dem Sabbatgebot. Jesus heilt einem Mann die verdorrte Hand am Sabbat (Mk 3,1–6), und als die Gelehrten ihn auf das Ruhegebot am Sabbat aufmerksam machen, fragt er sie, was am Sabbat erlaubt sei, Gutes zu tun (Leben zu heilen) oder Böses (Leben zu vernichten). Dass die Einhaltung der göttlichen Gebote zu einer Entfaltung des menschlichen Lebens führen soll, zeigt sich prägnant bei einer weiteren Streitfrage Jesu mit den Pharisäern über den Sabbat. Sie gipfelt in dem berühmten Spruch: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27).
9. Ein Universalschlüssel
Gen 1,27: Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn.
Lev 19,18: Du sollst deinen Nächsten lieben – er ist wie du. Ich bin JHWH.
Lev 19,34: Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben – er ist wie du; denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin JHWH, euer Gott.
Ein Universalschlüssel könnte folgende Überlegung auf Basis wichtiger biblischer Verse sein. Der Mensch, so sagt es das Schöpfungsgedicht am Beginn des Buches Genesis, ist Geschöpf Gottes, und zwar als Abbild Gottes und Gott ähnlich. Dies ist die Grundlage des jüdisch-christlichen Menschenbildes, und das gilt für jeden Menschen. Diskriminierungen bestimmter Menschen lassen sich früher oder später darauf zurückführen, dass dieser Grundsatz nicht anerkannt wird und damit den diskriminierten Personen letztlich das Mensch-Sein mehr oder weniger subtil aberkannt wird.
Der utopische Gegenentwurf dazu ist die Nächstenliebe, wie sie das Buch Levitikus formuliert (Lev 19,18) und wie sie von Jesus gefordert wird (Mk 12,31). Das Gebot der Nächstenliebe hat, wenn man der weniger bekannten Möglichkeit der Übersetzung aus dem Hebräischen folgt, seine Wurzel in der Schöpfungstheologie bzw. Schöpfungsanthropologie: Der Nächste ist zu lieben, denn er ist „wie du“ – also ein Mensch, von Gott geschaffen und geliebt, ein Mensch mit den gleichen Bedürfnissen nach Leben, Licht, Nahrung, Wasser, Liebe und Respekt, wie ich sie habe. Wer dies für sich und alle Menschen anerkennt, wird weder ausländerfeindlich sein noch einen Krieg willkommen heißen. Nur wenige Verse nach dem Gebot der Nächstenliebe folgt mit gleicher Formulierung das Gebot, den Fremden zu lieben und ihn wie einen Einheimischen zu behandeln (Lev 19,33–34). Synonym zu „Nächster“ (und Fremder) stehen im Kontext die Begriffe Bruder, Mitbürger, Kind deines Volkes. Auch beim Fremden greift das Gebot auf die Erschaffung des Menschen zurück: Der Fremde ist geschaffen und bedürftig „wie du“. Zusätzlich bezieht sich das Gebot auf die eigene Erfahrung des Volkes Israel in Ägypten, wo Israel selbst in der Fremde war. Letztlich, und damit wird dieser Vers zum universalen Schlüssel, steckt hierin die Ausweitung des Gebots zur Nächstenliebe auf alle Menschen als gleichwertige Geschöpfe Gottes. Das Grundproblem ist somit die Anerkennung (oder eben Nicht-Anerkennung) des anderen als „Menschen“. Unabhängig von jeder Religion oder Weltanschauung bedarf ein gedeihliches Miteinander der Menschheit auf diesem Planeten der grundsätzlichen Anerkennung der anderen als ebensolche „Menschen“. Die Wendung „ist wie du“ ist der Schlüssel. Alle gesellschaftlich relevanten Systeme (Parteiprogramme, Politikeraussagen, Wirtschaftsweisen, religiöse Lehren, Kirchen, Vereine u.a.m.) müssen auf dieses Grundprinzip hin überprüft werden.
10. Abschließende Thesen
Zum jüdisch-christlichen Menschenbild
- Das jüdisch-christliche Menschenbild speist sich aus dem Grundsatz, dass der Mensch als Ganzes und damit jeder einzelne Mensch Geschöpf Gottes und damit zugleich Abbild Gottes und Gott ähnlich ist.
- Die Urgeschichte des Buches Genesis betont zweierlei: die Buntheit (Diversität) der Menschen an ihren vielen Orten auf der Welt und die gemeinsame Abstammung all dieser verschiedenen Menschen aus einem Urmenschenpaar.
- Das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) in enger Verbindung mit dem Gebot der Liebe zum Fremden (Lev 19,34) hat seine Wurzel in dieser Schöpfungstheologie und Schöpfungsanthropologie von Gen 1 (bzw. der Urgeschichte).
- Wenn diese grundsätzliche Gleichheit aller Menschen als Geschöpfe Gottes, als gleichbedürftige und angewiesene Wesen (eben: „wie du“) anerkannt wird, ist eine Diskriminierung grundsätzlich unmöglich.
Zum Problem der Diskriminierung
- Diskriminierungen, gleich welcher Art, lassen sich früher oder später darauf zurückführen, dass dieser biblisch grundgelegte Grundsatz der Gleichheit nicht anerkannt wird und bestimmten Personen(gruppen) dadurch das Menschsein aberkannt wird.
- Auch Aussagen, die in die Richtung gehen, dass bestimmte Menschen „nicht hierhergehören“ (als Begründung werden dann andere Kulturen, Mentalitäten etc. vorgeschoben), laufen auf das Aberkennen des Menschseins hinaus; konkret wäre zu fragen: Darf ein Syrer nur in Syrien Mensch sein, hier aber nicht? Darf dann ein Deutscher nur hier, nicht aber in Syrien Mensch sein?
Zur Anerkennung des anderen als „Mensch“
- Ein gedeihliches Miteinander der Menschheit auf diesem Planeten bedarf der grundsätzlichen Anerkennung der anderen als ebensolche „Menschen“ – „wie du“ ist der Schlüssel.
- Alle gesellschaftlich relevanten Systeme (Parteiprogramme, Politikeraussagen, Wirtschaftsweisen, religiöse Lehren, Kirchen, Vereine u.a.m.) müssen auf dieses Grundprinzip hin überprüft werden.
- Diversität anzuerkennen und fruchtbar zu machen, bedeutet folglich, Gottes Schöpfung und die darin zu findende Vielfalt anzuerkennen und zu preisen.
Prof. Dr. Thomas Hieke
1 Prof. Dr. Thomas Hieke, Promotion 1996, Habilitation 2003, seit 2007 Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Vorgetragen wurden nur die Nummern 1–5 und 9–10. © Thomas Hieke, CC BY-NC-ND 4.0.
2 Nachfolgend wird von „geschlechtlicher Identität“ gesprochen.
3 Nachfolgend wird aufgrund neuerer Terminologie von „sexueller Identität“ gesprochen.
4 Dies ist eine Arbeitgebendeninitiative zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen und Institutionen. Sie wurde im Dezember 2006 von vier Unternehmen ins Leben gerufen. Seit 2010 gibt es dazu einen gemeinnützigen Verein „Charta der Vielfalt e.V.“ Siehe hier…
5 Die Forderung der Gleichheit findet sich in der Geschichte zum Beispiel in den Forderungen „Liberté! Egalité! Fraternité! (Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!)“ der französischen Revolution. In der heutigen Zeit ist dieser Grundsatz die Basis der allgemeinen Menschenrechte. So heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschen-rechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
6 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/merismus
7 Mit „sexueller Identität“ wird nach neuerer Terminologie die romantische Liebe (erotische Anziehung) zu einem Geschlecht bezeichnet: heterosexuell (frauenliebende Männer, männerliebende Frauen), homosexuell (männerliebende Männer, frauenliebende Frauen), bisexuell etc.
8 Der Gottesname JHWH wird hier nicht, wie in geläufigen deutschen Übersetzungen üblich, mit „der HERR“ wiedergegeben, sondern mit der Umschrift der hebräischen Konsonanten. Laut zu lesen ist dann „Ado-nai“ oder „Ha-Schem“ (= der Name) oder „der (die) Ewige“. So soll schriftlich (und auch mündlich) kenntlich gemacht werden, dass der Gottesname nicht zwangsläufig zu einer maskulin oder männlich konnotierten Gottes-vorstellung führt, auch wenn JHWH im Hebräischen mit maskulinen Verbformen und Pronomen verbunden wird. Oder kürzer formuliert: JHWH ist kein „Herr“ (und keine „Dame“), die Zuordnung menschlicher Ge-schlechter ist fehl am Platz.
9 Weiterführend dazu: https://blog.thomashieke.de/blog/bibel-und-homosexualitat
10 Beispiele für die „Gleichstellung“ des Fremden mit dem Einheimischen: Ex 12, 48–49; Num 9, 14: Recht, das Pessach-Fest mitzufeiern, wenn eine Beschneidung erfolgt; Lev 17, 8; 22, 18; Num 15, 14–16.26.29–30: Verbot der Profanschlachtung; Opfervorschriften; Lev 24, 16.22: Verbot der Lästerung des Gottesnamens; Schutzbestimmungen für den Fremden in der Tora: Ex 22,20//Dtn 24,14–15//Lev 24,22; Ex 23,9//Dtn 24,17–18//Lev 19,33–35; Ex 23,10–11//Dtn 24,19–2//Lev 19,9–19; Lev 23,22.