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Das wird man wohl noch sagen dürfen: Populismus + Extremismus

7. Oktober 2025

Der Staatssekretär des thüringischen Ministerium für Justiz, Migration und Verbraucherschutz bringt es in seinem Grußwort zur Studientagung in Erfurt auf den Punkt: „Das wird man wohl noch sagen dürfen“, dieser Satz begegnet uns immer häufiger. Er klingt harmlos, ja fast trotzig. Doch in Wahrheit steht er oft am Anfang einer gefährlichen Verschiebung: weg vom demokratischen Dialog, hin zu Empörung, Misstrauen und Spaltung. Die neue Sprachlosigkeit der Gesellschaft! Wir leben in einer Zeit, in der das gesprochene Wort immer seltener Brücken baut und immer häufiger Mauern errichtet.

Ein Grußwort des Staatssekretärs des thüringischen Ministerium für Justiz, Migration und Verbraucherschutz: Christian Klein, LL.M

In den sozialen Medien, in den politischen Debatten, sogar am Arbeitsplatz oder am Küchentisch erleben wir, dass Meinungsäußerung nicht mehr Austausch bedeutet, sondern Abgrenzung. Viele Menschen sagen: „Man darf ja gar nichts mehr sagen.“ Aber oft geht es nicht darum, ob man etwas sagen darf – sondern wie man es sagt und welche Verantwortung Sprache trägt. Die vermeintliche, ja gefühlte ,,Einschränkung der Meinungsfreiheit“ ist zu einem zentralen Narrativ populistischer Bewegungen geworden. Sie knüpfen an reale Gefühle von Kontrollverlust, Überforderung und Entfremdung an – und verwandeln sie in Feindbilder.

Populismus – die Versuchung der einfachen Antworten

Populismus, so könnte man sagen, ist das politische Äquivalent zu Fast Food: schnell, einfach, sättigend – aber auf Dauer ungesund. Er lebt von der Vereinfachung des Komplexen, vom „Wir gegen die“, vom Mythos einer schweigenden Mehrheit gegen eine vermeintlich überhebliche Elite. Psychologisch betrachtet, bietet Populismus Halt in einer unübersichtlichen Welt. Er stiftet Zugehörigkeit – allerdings um den Preis der Ausgrenzung anderer. Er verspricht Würde – aber verwechselt Würde mit Dominanz. Und genau hier beginnt die Herausforderung für uns alle: Wie schützen wir die demokratische Kultur der Achtung, ohne Meinungsfreiheit zu unterdrücken? Wie wehren wir uns gegen Extremismus, ohne selbst intolerant zu werden?

Populismus und Extremismus im Spiegel der Justiz

Im Justizvollzug sehen wir, sehen Sie, die Gesellschaft in konzentrierter Form. Hier begegnen uns Menschen, die ihre Orientierung verloren haben – sozial, moralisch, manchmal auch spirituell. Hier treffen wir auf Misstrauen gegenüber Staat und Autorität, auf verletzte Biografien, auf Frustration. In diesem Milieu gedeihen populistische Parolen besonders gut. Solche Sätze sind keine Randnotizen. Sie sind Symptome eines tieferen Vertrauensverlustes – in die Gerechtigkeit des Staates, in die Fairness der Gesellschaft, manchmal sogar auch in die Gnade Gottes. Und sie sind Nährboden für Extremismus. Radikalisierte Haltungen – ob rechtsextrem, islamistisch oder staatsfeindlich – finden in Haftanstalten Anknüpfungspunkte; wenn Menschen sich ohnmächtig und bedeutungslos fühlen.

Doppelte Herausforderung im Strafvollzug

Der Justizvollzug steht damit vor einer doppelten Aufgabe: Er muss Sicherheit gewährleisten und zugleich Resozialisierung ermöglichen. Das bedeutet: Wir müssen Meinungsfreiheit respektieren – aber auch entschieden eingreifen, wenn Worte zu Waffen werden. Wir müssen Räume für Diskussion eröffnen – aber klare Grenzen ziehen, wo Menschenwürde und Rechtsstaat infrage gestellt werden. Es ist kein Widerspruch, wenn wir sagen: In unseren Gefängnissen soll gesprochen werden dürfen – aber nicht alles Gesagte darf unwidersprochen bleiben.

Psychologische und soziale Dimensionen

Radikalisierung ist selten ein plötzlicher Prozess. Sie ist oft die Folge schleichender Isolation, emotionaler Verwundung und intellektueller leere. Viele Inhaftierte sind auf der Suche nach Sinn, nach Zugehörigkeit, nach Anerkennung. Extremistische Gruppen bieten genau das – scheinbare Klarheit, eine Identität, eine Gemeinschaft. Psychologisch betrachtet geht es weniger um Ideologie als um Bedürfnisbefriedigung: das Bedürfnis nach Bedeutung, nach Kontrolle, nach einer einfachen Weltordnung.  Deshalb reicht es nicht, extremistische Aussagen nur zu bestrafen. Wir müssen die Menschen hinter diesen Aussagen verstehen – und Wege finden, wie sie wieder Anschluss an eine konstruktive, humane Ordnung finden können.

Rolle der Seelsorge – Kirche als Gegenkultur

Und genau hier kommt Ihre Arbeit ins Spiel, Ihre Arbeit als Gefängnisseelsorger. Sie sind nicht einfach „Beistände der Schuldigen“. Sie sind Botschafterinnen und Botschafter der Würde. Kirchlich gesprochen ist die Seelsorge im Strafvollzug Ausdruck der cura animarum – der Sorge um die Seele (vgl. c. 1752 CIC/1983) 1. Diese Sorge unterscheidet nicht zwischen schuldig und unschuldig, zwischen angepasst und abweichend. Theologisch gesehen setzen Sie ein Zeichen gegen die Versuchung des Populismus: Denn Populismus lebt von der Entwertung des Anderen -die christliche Botschaft lebt von der Anerkennung des Anderen als Ebenbild Gottes (Gen. 1, 27). 2 In einer Zeit, in der viele Menschen sich im Hass verlieren, erinnern Sie daran, dass Vergebung und Veränderung möglich sind: Sie hören zu, wo andere verurteilen. Sie eröffnen Gesprächsräume, wo Schweigen und Zynismus herrschen. Sie geben dem Menschen einen Namen, wo das System nur eine Nummer sieht. Das ist mehr als kategoriale Seelsorge – das ist Friedensarbeit im Kleinen.

GefängnisseelsorgerIn der JVA‘en Berlin-Moabit, Bielefeld-Brackwede, Lingen und Herford.

Juristische und ethische Spannungsfelder

Natürlich müssen wir als Staat Grenzen ziehen. Die Freiheit der Rede endet dort, wo sie die Freiheit und Würde anderer verletzt. Das Strafrecht – etwa § 130 StGB (Volksverhetzung), §§ 185 ff StGB (Beleidigungsdelikte) – markiert diese Grenze klar. Doch im Alltag des Vollzugs ist die Linie oft dünner: Wann ist eine Äußerung bloß provokant – und wann gefährlich? Wann ist Schweigen Neutralität – und wann Wegsehen? Hier braucht es Sensibilität, Ausbildung und ethische Klarheit bei allen Bediensteten in den Justizvollzugsanstalten. Denn wer täglich mit Menschen arbeitet, die Regeln brechen, darf selbst nicht abstumpfen. Resozialisierung gelingt nur, wenn auch das Personal in seiner Haltung gestützt wird – durch Fortbildung, Supervision und ethische Begleitung.

Staat und Kirche – Partner in Verantwortung

Der Staat kann Sicherheit schaffen, aber keine Sinnstiftung. Die Kirche kann Sinn stiften, aber nicht Sicherheit garantieren. Darum brauchen wir beides: Kooperation und gegenseitige Achtung. Die Gefängnisseelsorge ist keine fromme Nische, sondern ein systemrelevanter Teil der Resozialisierung. Kirche und Staat stehen hier Seite an Seite gemeinsamer Verantwortung für den Menschen. nicht in Konkurrenz, sondern In Im kirchenrechtlichen Sinn ist Seelsorge eine Pflicht 3, im staatsrechtlichen Sinn ist sie ein Grundrecht 4. Beides verweist auf dieselbe Idee: Der Mensch ist mehr als seine Tat.

Gesellschaftliche Verantwortung

Wenn wir über Populismus und Extremismus im Strafvollzug sprechen, dann dürfen wir eines nicht vergessen: Diese Phänomene entstehen nicht im Gefängnis – sie kommen aus der Gesellschaft hinein. Der Vollzug ist kein isoliertes System. Was draußen an Misstrauen, Hass und Ausgrenzung wächst, findet drinnen nur seinen Widerhall. Deshalb müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Welche Sprache prägt unseren Alltag? Welche Vorbilder geben wir jungen Menschen? Wie gehen wir mit Fehlern, Schwächen und ·Fremdheit um? Denn wer nie erlebt hat, was Anerkennung bedeutet, sucht sie irgendwann dort, wo sie am lautesten versprochen wird – auch bei den Falschen. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene sind aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung besonders gefährdet, extremistische Weltbilder und Narrative aufzunehmen, Kommen die spezifischen Faktoren einer Inhaftierung sowie die spezifischen kriminogenen Faktoren, die zu der Inhaftierung geführt haben, hinzu, wird eine Hinwendung zu extremistischen Weltbildern auch noch zusätzlich begünstigt. Inhaftierte Jugendliche und junge Erwachsene stellen daher eine besondere Risikogruppe für Radikalisierungsprozesse dar. Was also können wir tun?

Maßnahmen und Perspektiven

Erstens: Wir müssen Extremismusprävention und Demokratieförderung im Strafvollzug systematisch ausbauen – mit Bildungsangeboten, Gesprächsrunden, Projekten der politischen Bildung. Der in Erfurt ansässige Verein UNITYED e.V. setzt seit 2021 mit dem Projekt „Blickpunkt – Extremismusprävention in Strafvollzug und Bewährungshilfe“ halb- und ganztägige Gruppenworkshops in Jugend- und Justizvollzug sowie in der Bewährungshilfe um. Das wissenschaftlich fundierte Konzept sieht wiederholte Teilnahmen vor, um nachhaltige Wirkung zu erzielen; eine individuelle Indikation ist nicht erforderlich, das Angebot richtet sich breit an 6 bis 15 Teilnehmende pro Workshop. Ziel ist es, junge Inhaftierte und Probanden im Resozialisierungsprozess durch Bildungs- und Beratungsangebote unter den Leitlinien der Extremismusprävention _ und Deradikalisierung zu unterstützen. Ergänzend finden Einzelberatungen statt; charakteristisch ist ein duales Konzept aus Bildung und Sport, wobei Sport als pädagogischer Zugang zur Stressreduktion, Motivation und zum Abbau thematischer Widerstände dient, ohne die Inhalte allein tragen zu können.

Eröffnung der Studientagung am 6. Oktober 2025 in Erfurt zum Thema: „Das wird man wohl noch sagen dürfen…“ Extremismus und Populismus in Gesellschaft und Justizvollzug

Zweitens: Wir müssen das Personal stärken – durch Schulungen zu Sprache, Konfliktbewältigung und psychologischen Mechanismen der Radikalisierung. UNITYED bietet auch hier projektbezogene Fortbildungen für Bedienstete in Justizvollzug und Sozialen Diensten an, u.a. zur Erkennung und Arbeit mit (potenziell) radikalisierten Personen. Neben dem Projekt existieren im Vollzug eigene Fortbildungsangebote zu Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit; Bedienstete können zudem Veranstaltungen des Thüringer Innenministeriums und externe Fortbildungen besuchen, und die Themen sind fester Bestandteil der zweijährigen Ausbildung für den mittleren Dienst.

Drittens: Wir müssen interdisziplinär arbeiten: Justiz, Psychologie, Sozialarbeit, Seelsorge, Pädagogik. Nur wer gemeinsam hinschaut, kann verhindern, dass extremistische Tendenzen sich verfestigen.

Viertens: Wir brauchen auch Forschung und Evaluation: Wie entwickeln sich Haltungen im Vollzug? Welche Interventionen wirken?

Und fünftens: Wir müssen den Mut haben, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen – ‚über Überforderung, Personalmangel, Bürokratie und die Grenzen unseres Systems. Nur Ehrlichkeit schafft Vertrauen.

Theologischer Blick

In der Bibel heißt es: „Wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund“ (Matthäus 12, 34). Wenn also Hass aus den Mündern kommt, dann dürfen wir nicht nur die Worte bekämpfen -wir müssen die Herzen erreichen. Das ist die tiefere Aufgabe, die uns verbindet – ob in der Justiz, in der Politik oder in der Kirche: Wir müssen Menschen wieder für Menschlichkeit gewinnen. Wir müssen Räume schaffen, in denen man sagen darf, was einen bewegt aber auch hören muss, was das mit anderen macht. Wir müssen lehren, dass Freiheit nicht das Recht ist, alles zu sagen, sondern die Fähigkeit, das Richtige zu sagen.

Fazit

Meine Damen und Herren, „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ – ja, man darf. Aber niemand darf sich darauf berufen, um Hass zu rechtfertigen. Die Aufgabe des Staates ist es, Grenzen zu ziehen. Die Aufgabe der Kirche ist es, Herzen zu öffnen. Und unsere gemeinsame Aufgabe ist es, den Raum dazwischen menschlich zu gestalten. Ich danke Ihnen für Ihren Dienst, für Ihr Zeugnis im Alltag der Gefängnisse, und für Ihre Bereitschaft, den Dialog zu führen – auch dort, wo andere nur noch Parolen rufen. Denn wer mit Menschen arbeitet, die Schuld auf sich geladen haben, weiß besser als jeder andere: Veränderung ist möglich. Oder, um es mit den Worten des Propheten Ezechiel [e´tse: cie:l] (Ez 36, 26) 5 zu sagen: „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.“ Das ist die Botschaft, die Populismus niemals bieten kann – aber die Demokratie und der Glaube gemeinsam bezeugen können.

1 „Bei Versetzungssachen sind die Vorschriften des can. 1747 anzuwenden, unter Wahrung der kanonischen Billigkeit und das Heil der Seelen vor Augen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muß.“ – Heil der Seelen als oberste Maxime und Leitprinzip kirchlichen Handelns
2 „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; / als Abbild Gottes schuf er ihn.“
3 In der römisch-katholischen Kirche ist Seelsorge kirchenrechtlich eine verbindliche Amtspflicht. Der Pfarrer übt als „eigener Hirte“ die cura pastoralis aus ( c. 519), konkretisiert in cc. 528-529: Verkündigung des Wortes Gottes, Feier und Gewährleistung der Sakramente, Förderung des Gebetslebens und der Caritas sowie persönliche Hirtensorge für Kranke, Arme und Trauernde. Diese Pflicht korrespondiert mit dem Rechtsanspruch der Gläubigen, geistliche Hilfe zu erhalten, besonders durch Wort und Sakramente. ( c. 213 ); daher dürfen rechtmäßig erbetene Sakramente grundsätzlich nicht verweigert werden ( c. 843 § 1 ). Auf diözesaner Ebene trägt der Bischof die Verantwortung für alle in seiner Diözese (c. 383) und fördert Verkündigung und Heiligkeit ( cc. 386-387). Spezifisch ist etwa die Pflicht, Beichtgelegenheit sicherzustellen und selbst verfügbar zu sein ( c. 986 § 1) sowie für die Krankensalbung und Notfallseelsorge zu sorgen (u. a. cc. 529, 911, 1001-1003). Insgesamt setzt der CIC/1983 damit die lehramtliche Grundlage (munus docendi, sanctificandi, regendi) rechtlich um: Seelsorge ist nicht Kür, sondern ein geschuldeter Dienst der Amtsträger zugunsten der Gläubigen.

4 Seelsorge ist kein eigenständiges Grundrecht des Grundgesetzes, wird aber grundrechtlich geschützt als Teil der Religionsfreiheit. Grundlage sind Art. 4 Abs. 1-2 GG (Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit), unter die sowohl das Anbieten seelsorglicher Dienste durch Religionsgemeinschaften als auch deren Inanspruchnahme durch Gläubige fällt. Ergänzend garantiert Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, ihre Ämter und Dienste – einschließlich der Seelsorge – eigenständig zu ordnen. Daraus folgen gegenüber dem Staat vor allem. Abwehrrechte (Seelsorge darf nicht behindert werden) und, wo er die Rahmenbedingungen vollständig beherrscht, auch organisationsrechtliche Ermöglichungspflichten: etwa in staatlichen Einrichtungen wie Justizvollzug oder Bundeswehr muss der Zugang zu Seelsorge praktisch ermöglicht werden. Ein allgemeiner Anspruch auf staatliche Finanzierung besteht daraus jedoch nicht; geschützt ist primär die freie Ausübung und institutionelle Selbstordnung seelsorglicher Tätigkeit.
5 Ezechiel“ und Hesekiel“ bezeichnen denselben biblischen Propheten (hebräisch Jechezkel); ,,Ezechiel“ folgt der latinisierenden Tradition (z. B. Einheitsübersetzung), ,,Hesekiel“ der deutsch-protestantischen (z. B. Lutherbibel). 

Grußwort Staatssekretär des thüringischen Ministerium für Justiz, Migration und Verbraucherschutz: Christian Klein, LL.M

 

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