Eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse des politischen Pentekostalismus hat eine Fachtagung des Instituts für Weltkirche und Mission in Frankfurt am Main vorgenommen. Ein Expertentreffen mit WissenschaftlerInnen sowie KirchenvertreterInnen aus 40 Ländern setzte sich mit der Entwicklung der Pfingstkirchen im politischen Kontext auseinander. Seit fast 30 Jahren wird die dynamische weltweite Ausbreitung evangelikaler und pfingstkirchlicher Gemeinschaften beobachtet. Europa scheint dabei ein Sonderfall zu sein. Die Abwendung von den traditionellen Großkirchen ist aber deutlich.
Anders als in Amerika, Afrika und Asien führt der Rückzug von den großen Kirchen kaum zur Hinwendung zu evangelikalen oder pfingstkirchlichen Gruppen. Stattdessen bedeutet er in Europa eine weiter fortschreitende Säkularisierung und Entfremdung von Glauben und Religion. Im Unterschied dazu werde in anderen Teilen der Welt eine rasante Ausbreitung „neuer religiöser Bewegungen“ beobachtet, eine Entwicklung, die in vielfacher Hinsicht nicht einfach zu verstehen und einzuordnen sei, so Erzbischof Schick aus Bamberg.
Das Phänomen stelle sich oft von Land zu Land unterschiedlich dar, weshalb pauschale Beschreibungen und Bewertungen nicht möglich seien, „denn die evangelikalen und pfingstkirchlichen Gemeinschaften sind in hohem Maß dezentral organisiert. Sie stellen alles andere als ein einheitliches Bild dar, sowohl mit Blick auf die Glaubenslehre als auch die kirchliche Praxis. Auch die Reaktionen der jeweiligen katholischen Ortskirchen in ihrem Verhältnis zu den Pfingstkirchen vor Ort fallen unterschiedlich aus. Sie reichen von weitgehender Integration in den ökumenischen Dialog und Zusammenarbeit bei einzelnen Aufgaben und Themen bis hin zu scharfer Abgrenzung“, sagte Schick.
Populistische Systeme und deren religiöse Rahmung
Auf der Tagung wurde in verschiedenen Facetten ein aktuelles Forschungsprojekt des Instituts für Weltkirche und Mission zum Pentekostalismus mit der Konzentration auf politisches und soziales Engagement im öffentlichen Raum im Globalen Süden diskutiert. Darin zeigt sich eine Veränderung, die nicht mehr vom traditionellen Verständnis, das die Pfingstbewegung mit weltabgewandter Frömmigkeit identifiziert, ausgeht. Das Projekt fragt nach dem Zusammenhang von zunehmend in Erscheinung tretenden populistischen und autoritären Systemen und ihre religiöse und spirituelle Rahmung. Es verfolgt Fragen von Demokratieverständnis, politischer Legitimation und Autorität, Repräsentation und Bewertung von Säkularität.
P. Prof. Dr. Markus Luber SJ, kommissarischer Direktor des Instituts für Weltkirche und Mission, hob hervor, dass eine interdisziplinäre Analyse angesetzt werde, mit der Politikwissenschaftler, Soziologen, Religionswissenschaftler und Theologen ins Gespräch gebracht würden. Es gehe um eine theoretische Auseinandersetzung mit empirischen Bezügen und interkultureller Kontextualisierung. Grundlage sei eine vom Institut durch Dr. Leandro Bedin-Fontana herausgegebene Literaturstudie, die drei Kontinente in den Blick nehme und einen Fokus auf die Länder Brasilien, Nigeria und Philippinen setze. Globale Verflechtungen als auch lokale Besonderheiten müssen wahrnommen werden. Ein besonderer Akzent ist die theologische Argumentation des politisch agierenden Pentekostalismus.
Religion sehr direkt in Politik getragen
Der wissenschaftliche Austausch wurde mit einer Aufmerksamkeit auf pastorale Situationen verbunden: Mit Blick auf die Unterschiede in der Reaktion von katholischen und evangelikalen Stimmen angesichts des fatalen Pandemiemanagements der brasilianischen Bolsonaro-Regierung hob beispielsweise Erzbischof Leonardo Steiner aus Manaus die Kraft des Zeugnisses gelebter Caritas und Solidarität gegenüber dämonisierender Rhetorik hervor. Erzbischof Schick betonte, dass auch Europa der Erfolg der Pfingstkirchen nachdenklich stimmen müsse. „Könnte es sein, dass das, was viele in ihrer etablierten Kirche vermissen und sie zur Abkehr von jeglicher Religion veranlasst, dieselbe Wurzel hat wie das, was in anderen Regionen der Welt Menschen den Pfingstkirchen zutreibt? Wir sollten die pentekostalen Christen nicht allein in einer Haltung der Abwehr betrachten, sondern mit einer gewissen Offenheit, mit echtem Unterscheidungsvermögen“, so Schick. Mit Blick auf das politische Engagement der Pfingstkirchen sagt er: „Seit geraumer Zeit sehen wir die Entwicklung, dass pentekostale Gemeinschaften nicht nur zu missionarischen Zielen die Öffentlichkeit suchen, sondern sich bemühen, die Politik aktiv zu beeinflussen. Ohne Bedenken gegenüber einer unzulässigen Vermischung von Politik und Religion wird dann Religion oft sehr direkt in die Politik getragen.“
Konfliktpotential politischem Engagement
Mit dem Projekt „Politischer Pentekostalismus“ sei nicht gemeint, das pfingstkirchliche Christentum sei als solches oder in erster Linie eine politische Bewegung, „doch die politischen Bestrebungen, die sich in den vergangenen Jahren nicht nur vereinzelt gezeigt haben, sind für uns Anlass zur Sorge“, so Erzbischof Schick. Es gehe künftig darum, Antworten auf Fragen zu finden: „Welche Inhalte werden propagiert? Welche Ziele werden verfolgt und mit welchen Mitteln?
Sind die Beispiele, die wir sehen – besonders deutlich z.B. in Brasilien und einigen afrikanischen Ländern – repräsentativ für das pfingstkirchliche Christentum oder sind sie die Ausnahme? Welches Konfliktpotential birgt das politische Engagement? Wie wirkt es sich auf den innergesellschaftlichen Frieden aus? Welches Bild des Christentums wird so einer großen Öffentlichkeit präsentiert? Welches Menschen- und Gesellschaftsverständnis steht dahinter und welche theologischen Grundannahmen? Sind sie mit unserem eigenen katholischen Glaubensverständnis vereinbar? Was bedeutet das Phänomen für den ökumenischen Dialog?“
Grenze legitimer Einflussnahme?
In der Debatte gehe es außerdem darum, so Erzbischof Schick, die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik zu stellen: „Welche Art der religiösen Einflussnahme auf die Politik ist notwendig und legitim? Wo sind die Grenzen und die Gefahren einer Vermischung beider Sphären? Es gibt unter den modernen Verfassungsstaaten sehr unterschiedliche Modelle in ihrem Verhältnis zur Religion. Sie reichen von strikter Trennung bis hin zu weitgehender Kooperation im Dienst der Menschen. Auch als Amtsträger unserer Kirche sehen wir die Verpflichtung, politisch Stellung zu beziehen, wenn es um grundsätzliche Fragen der Würde des Menschen und der gerechten Gestaltung der Gesellschaft geht. Mit Blick auf das politische Wirken der Pfingstkirchen gilt es zu fragen: Wo ist die Grenze legitimer Einflussnahme? Wo gefährdet der Einfluss von Religion das gedeihliche gesellschaftliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Überzeugungen, unter-schiedlicher Konfessionen und Religionen – und was entspricht demgegenüber unserem Auftrag als Christen zur Gesellschaftsgestaltung?“