In einem Interview mit der Zeitung „The New Yorker“ erzählte der 82-jährige und an Krebs schwer erkrankte Musiker Leonard Cohen, dass er „bat kol“ höre. Der Ausdruck erscheint in vielen Geschichten des Talmud, der jüdischen Auslegung der Thora, und bedeutet wörtlich übersetzt: die Tochter der Stimme. Gemeint ist der Klang, die Resonanz der Stimme Gottes im Menschen. Im Talmud wird die göttliche Offenbarung meist eingeführt mit den Worten: „eine Stimme fiel vom Himmel“.
Cohen sagte: „Du hörst diese andere tiefe Realität die ganze Zeit zu dir singen, und die meiste Zeit kannst du sie nicht entschlüsseln… (Jetzt) höre ich es sagen: ‚Leonard, mach einfach mit den Dingen weiter, die du tun musst.‘ In dieser Phase ist es sehr mitfühlend. Mehr als je zuvor in meinem Leben habe ich nicht mehr diese Stimme, die sagt: ‚Du machst Mist.‘ Das ist wirklich ein großer Segen.“ Leonard Cohen nahm „bat kol“ voller Mitgefühl in sich wahr und fühlte sich bestärkt, weiterzumachen mit dem, was zu tun ist.
Zusage trotz allem
Auch in den Evangelien wird, ganz in rabbinischer Tradition, die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth durch „bat kol“, die Tochter der Stimme, die Resonanz Gottes erzählt: es geschah unmittelbar nach der Taufe im Jordan, der Himmel öffnete sich und eine Stimme klang: „Du bist mein Geliebter, an dir habe ich Gefallen gefunden“. Dazu kam der Heilige Geist, wie es wörtlich heißt, leibhaftig in Gestalt einer Taube auf ihn nieder. Die Taube galt schon im Alten Orient als Botin der Liebe, auch das Hohe Lied vergleicht die Geliebte mit einer wilden Taube, bei Noah in der Arche und in den Psalmen taucht sie auf, um die Bedrängten beflügelt aus der Not zu retten. Was christlich ein wenig sperrig Heiliger Geist genannt wird, ist biblisch eine Resonanz Gottes im Menschen, liebevoll befreiend und ermutigend. Jesus, so berichten die Evangelien, ging nach der Taufe am Jordan in die Wüste, erlebte und erlitt in der Bedrängnis sehr menschliche Verführungen und konnte doch durch das alles hindurch in Kontakt bleiben mit der Zuversicht, ein Geliebter Gottes zu sein. Diese Zuversicht trug er zu den Menschen in allen Dörfern und Städten, in die er kam als die gute Nachricht: du bist ein Geliebter, du bist eine Geliebte Gottes – lass dich von dieser Zusage tragen durch alles und trotz allem.
Leid ist nicht absolut
Die Botschaft dieser göttlichen Resonanz im Menschen ist: Gott verhindert nicht das Leid, das gehört zum Leben, aber es ist nicht absolut, es gibt eine Perspektive durch es hindurch und über es hinaus in der Kraft der Liebe. Leonard Cohen sprach von einem „Riss in allem“, durch den „das Licht hineinkommt“. In seiner Hymne „Anthem“ dichtete er 1992 und bis heute sehr aktuell:
„Ich kann nicht mehr mit diesem gesetzlosen Haufen rennen – während die Mörder an hohen Stellen ihre Gebete laut sagen – Aber sie haben eine Gewitterwolke heraufbeschworen – und sie werden von mir hören – Läute die Glocken, die noch läuten können, vergiss das perfekte Opfer – Da ist ein Riss in allem, so kommt das Licht hinein – Du kannst die Teile zusammenzählen – aber du wirst die Summe nicht erhalten – Du kannst den Marsch anstimmen – es gibt keine Trommel – Jedes Herz, jedes Herz – wird zur Liebe gelangen – doch wie ein Flüchtling – Läute die Glocken, die noch läuten können, vergiss das perfekte Opfer – Da ist ein Riss in allem, so kommt das Licht hinein.“
Bei all dem, was in unserer Welt geschieht, und da ist gerade viel, das Sorge bereitet, gilt es, den Riss wahrzunehmen, oder, mit dem Evangelium gesagt, den Himmel offen zu sehen für diese andere Realität in uns: Geliebte Gottes zu sein. Es fällt nicht leicht, so sich selbst und die anderen anzusehen in all dem, was geschieht. Doch ist es die einzige Möglichkeit, durch all den Hass, die Gewalt und Lügen hindurch trotzdem mit dem weiterzumachen, was im Herzen klingt.
Christoph Kunz | Lukas 3, 21 – 22