Als Vater eines inhaftierten inzwischen 29 jährigen Sohnes bin ich möglicherweise befangen und sehe den Strafvollzug nicht objektiv. Als ehemaliger Gefängnisseelsorger stehe ich nicht mehr im Innenkontext des Justizvollzugs, sondern bin auf die mehr oder weniger subjektiven Schilderungen derjenigen „Ehemaligen“ angewiesen, mit denen ich noch im Kontakt bin. Anfang 2019 ist ein drogenabhängiger ehemaliger Klient von mir aus der Haft entlassen worden.
Die Entlassungsvorbereitung bestand darin, dass er ein bisschen Geld für die ersten Tage in der Freiheit mitbekam und seine kärgliche Habe. Keine Unterkunft, keine Arbeitsstelle. Dieser Mann hat zwei Monate auf der Straße vom Betteln gelebt, dann hat er über Bekannte eine Bleibe in einem Wohnwagen gefunden, jetzt lebt er wieder auf der Straße. Ob er noch im Methadon-Programm ist, weiß ich nicht. Der Kontakt ist abgerissen. Eines muss ich klarstellen: Seit siebeneinhalb Jahren arbeite ich nicht mehr im Knast. Möglicherweise hat sich im Justizvollzug mittlerweile so viel verändert, dass meine Gedanken weltfremd erscheinen mögen. Das Risiko nehme ich in Kauf. Immer noch habe ich Kontakt zu einigen (ehemaligen) Inhaftierten, die ich seinerzeit betreut und begleitet habe. Weiter habe ich Kontakt zu aktiven Gefängnisseelsorgern, mit denen ich vor Jahren gut und gerne zusammengearbeitet habe.
Sieht so Resozialisierung aus? Welche Chance hat dieser Strafentlassene, wieder in ein „normales Leben“ zu finden? Ist der Rückfall nicht vorprogrammiert?
Auf die schiefe Bahn geraten
Anfang Juni meldete sich ein ehemaliger Klient, der viele Jahre durch die Republik gereist war und viele Gefängnisse, vor allem im Osten und Süden Deutschlands, von innen kennen gelernt hat. Er war gerade entlassen worden und hatte einen Job und eine Wohnung bekommen. Geholfen hatte ihm unter anderem der gute Kontakt zu der dortigen Gefängnisseelsorge. Als er 2011 und 2012 in Ossendorf war, hatte ich einen recht engen Kontakt zu ihm. Hier scheint Resozialisierung gelungen, wenn er durchhält. Viele Menschen, die im Laufe ihres meist noch jungen Lebens ins Gefängnis kommen, haben eine schwierige Kindheit hinter sich, mangelnde elterliche Liebe erfahren oder sind – wie man so sagt – auf die schiefe Bahn geraten, haben die „falschen Freunde“ kennen gelernt oder sind mit Drogen in Kontakt gekommen und abhängig geworden. Was davon auf meinen Sohn zutrifft, kann ich versuchen darzulegen. Die ersten Monate der Schwangerschaft hat seine leibliche Mutter ihn nicht bemerkt. Danach wollte sie ihn loswerden. So hat sie sich nach intensiver Begleitung durch den Sozialdienst Katholischer Frauen (SKF) dazu entschlossen, das Kind unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Mein Sohn hat meine Frau und mich von Beginn seines Lebens an als seine Eltern kennen gelernt. Möglicherweise hat er eine vorgeburtliche Traumatisierung erlitten, die sein weiteres Leben, besonders in der Pubertät, geprägt hat.
Zum Autor
Robert Eiteneuer ist Pastoralreferent im Erzbistum Köln und hat von November 2005 bis März 2013 als Gefängnisseelsorger in Köln-Ossendorf gearbeitet. Wegen einiger unerfreulicher Vorfälle wurde er auf Betreiben der JVA-Leitung durch den Erzbischof von Köln abgelöst. Nach eigenen Angaben hat er sehr gerne in der Gefängnisseelsorge gearbeitet.
Eiteneuer ist Vater von sechs angenommenen Kindern. Eines davon sitzt seit November 2017 ein, zunächst im geschlossenen Vollzug, dann mehrmals für eine Weile im offenen Vollzug. Wegen Kleinigkeiten wurde er bereits zweimal “abgeschossen”, ein dritter steht bevor. “Abschuss” bedeutet in eine andere Anstalt verlegt zu werden.
Mein Sohn hat die Gesamtschule mit dem Hauptschulabschluss verlassen, hat nie eine Lehre gemacht oder einen Beruf gelernt, hat nie länger als ein paar Wochen oder Monate eine Aushilfstätigkeit ausgeübt. Er hat die verschiedensten Drogen konsumiert, außer Heroin. Natürlich hat er seinen Finanzbedarf nicht auf legalem Wege befriedigt. Natürlich haben wir Eltern ihm immer wieder mit Geldzuweisungen aus der Patsche geholfen. Seine Beziehungen zu Frauen haben immer unglücklich oder im Streit geendet. Seit eineinhalb Jahren hat er wieder Kontakt zu der Mutter seines inzwischen dreijährigen Sohnes, sie besucht ihn regelmäßig, in den Zeiten, wo er Ausgang hat, sieht er seinen Sohn regelmäßig.
Ist mein Sohn selbst schuld?
Die Justiz hat seit November 2017 nicht geschafft, meinem Sohn einen mittleren oder höheren Schulabschluss zu ermöglichen. Ebenso wenig konnte mein Sohn in der Haft eine Ausbildung machen oder wenigstens beginnen. Mehrere Male wurde er infolge leichten Fehlverhaltens aus dem offenen Vollzug in den geschlossenen zurückverlegt. Er hatte gehofft, auf Zweidrittel entlassen zu werden, jetzt sieht es so aus, dass er Anfang Juni 2021 auf Endstrafe entlassen wird.
Ist mein Sohn selbst schuld? Wäre er besser in der Pubertät mit den richtigen Freunden zusammen gewesen? Hätte er besser an der Gesamtschule die Fachoberschulreife erlangt? Hätte er besser das Fachabitur oder Abitur gemacht oder eine Lehre erfolgreich beendet? Hätte er besser nicht gekifft und all das Drogenzeugs nicht genommen? Hätte er besser die richtige Frau kennen gelernt, mit der er jetzt eine Familie hätte gründen können? Die vielen Konjunktive helfen nicht weiter. Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Sohn kein Einzelfall ist.
Im geschlossenen Vollzug in Düsseldorf gab es für meinen Sohn und für uns Eltern sowie für andere Freunde nur zwei Stunden Besuchszeit im Monat, verteilt auf zwei Besuche. Diese wenigen Besuchszeiten sind nicht geeignet, die sozialen Kontakte aufrechtzuerhalten. Begegnungen mit Menschen, die eine Wohnung oder eine Arbeitsstelle vermitteln, sind gar nicht vorgesehen. Schule wird in vielen Gefängnissen gar nicht angeboten. Ebenso dauert es Monate oder Jahre, bis die Tat(en) und die Gründe, die zur Tat bzw. zu den Taten geführt haben, angegangen und aufgearbeitet werden. Gott sei Dank hat mein Sohn in Düsseldorf die Chance genutzt, mit einer Psychologin über seine Taten und über die Tathintergründe zu sprechen.
Therapeutische Hilfe nicht vorgesehen
Die Covid 19 Pandemie hat von Mitte März bis Mitte Mai unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt und das öffentliche Leben weitgehend lahmgelegt. Besuche in den Seniorenheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen waren komplett untersagt. Auch die Ausgänge der Freigänger und derer im offenen Vollzug wurden gecancelt. Inzwischen werden die Einschränkungen nach und nach wieder gelockert. Inhaftierte, die durch eine frühkindliche Traumatisierung, durch Beziehungsabbrüche oder durch Drogenkonsum aus der Bahn geworfen wurden, die durch einen längeren oder durch mehrere Gefängnisaufenthalte nicht über eine vorzeigbare Biographie verfügen, benötigen von Haftbeginn an therapeutische Unterstützung. Aber solche therapeutische Begleitung ist in der Untersuchungshaft gar nicht vorgesehen, in der Strafhaft auf bestimmte Justizvollzugsanstalten begrenzt und scheitert an dem Mangel an Psychologen und Therapeuten.
In der Öffentlichkeit und selbst in der eigenen Familie findet sich häufig die Einstellung, der oder die Gefangene sei an seinem bzw. ihrem Schicksal selbst schuld. Gefangene haben keine Lobby. In der Politik nicht, in der Gesellschaft nicht, in der Wirtschaft nicht. Lediglich die Kirchen und die Sozialverbände sind in den Gefängnissen präsent, wenn es auch mehr Leute sein könnten. Die Zahl der Stellen für GefängnisseelsorgerInnen und anderer Pastoralkräfte in der Kategorialseelsorge wird in den nächsten Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit verringert, im Angesicht des sich in allen deutschen (Erz-)Diözesen abzeichnenden Personalmangels und der Bevorzugung der Gemeindeseelsorge.
Das Ziel wird meist verfehlt
Das Ziel der Strafvollzugsgesetzte, den Gefangenen darin zu unterstützen, dass er nach seiner Haftentlassung ein straffreies Leben führen kann, wird im aktuellen Strafvollzug meist verfehlt. Es fehlt an vielem. Aus meiner Erfahrung gibt es zu geringe Besuchszeiten, weil zu wenige Besuchsdienstbeamte. Es fehlt an ausreichend Sozialarbeiter, Psychologen und Lehrern in den Gefängnissen. Es gibt in der JVA zu wenig Unterstützung für die Zeit nach der Entlassung. Ich habe immer wieder den Eindruck gehabt und habe ihn immer noch, dass der Staat sich an den Gefangenen rächt, weil sie gegen seine Gesetze verstoßen haben. Das Verhalten so mancher Vollzugsbeamten scheint dem Geist der Rache eher zu entsprechen als der Einstellung, dass jeder Inhaftierte immer zuerst ein Mensch ist.
Robert Eiteneuer
2 Rückmeldungen
Heute wurde mein Sohn verhaftet – mehr als 5 Jahre nach der Urteilsverkündung wegen mehrfachen Verstoß gegen BTM. Nach dem Urteil hat er sich ein drogenfreies Leben aufgebaut. Er hat geheiratet, geht einer Arbeit nach, ist (jetzt) unabhängig vom Staat. Ziel soll angeblich die Resozialisierung sein… Wenn er nach 2,5 Jahren, vielleicht auch schon nach 20 Monaten entlassen wird, ist er 49 Jahre alt. Dann wird er schwerlich eine Arbeit finden, benötigt dann “Bürgergeld”. Ich wünsche mir sehnlichst, dass seine Ehe dies übersteht.
So wahre Worte!
Sie sprechen mir zu 100 % aus der Seele – einzig der Rachegedanke treibt den Staat und macht viele, anfangs oft sehr idealistische Beamte, ungewollt zu seinen Werkzeugen. Gefühlt in Bayern noch viel mehr, da sind zwei Stunden Besuch pro Monat ein schöner Traum – auch ohne Corona! Telefon? Gibt es nicht, nur im Notfall und was ein Notfall ist, wird nicht vom Inhaftierten entschieden.
Entlassen ohne jedwede Vorbereitung? Standard… leider