parallax background

Bunter Vogel Freiheit: Befreiungstheologie im Knast

15. Mai 2025

Bunter Vogel Freiheit – als ich den Titel der Tagung der Evangelischen Gefängnisseelsorge las, kam mir sofort in den Sinn, dass zumindest auf den ersten Blick, der Justizvollzug weder bunt noch frei ist. Und doch ist Freiheit das erste Thema bei den seelsorgerischen Gesprächen: „Ich will hier raus“; „Wann habe ich endlich wieder meine Freiheit?“, solche Sätze höre ich von Inhaftierten. „Sie haben es gut, sie können abends nach Hause gehen und sind frei“.

 

Ist das so? Sind wir jemals ganz frei? Ich kann beispielsweise im Straßenverkehr nicht fahren, wie ich gerne möchte. Überall existieren Regeln, begrenzen uns, um mich und andere zu schützen. „Ach wäre ich doch ein Vogel“, sagt mir ein junger Gefangener, „da könnte ich einfach über die Mauer fliegen.

Tauben

Vögel haben wir genug im Knast. Da sind zuallererst die Tauben zu nennen. Die kommen auch schon mal in die 140 Jahre alte Anstaltskirche der JVA Herford und finden nicht mehr durch die runden Fenster hinaus. Eine Taube hat sich einmal hinter einem Schrank verfangen. Ein beherzter Inhaftierter hat sie behutsam mit einer Decke durch das unvergitterte Fenster des Seelsorgebüros in Freiheit entlassen.

Enten

Im Frühjahr beherbergt die JVA regelmäßig Entenfamilien. Die kleinen Küken schlüpfen unter den Zäunen durch. Sie trippeln durch den Knast, als wären sie nicht dort gefangen. Manche Inhaftierte füttern sie mit Brot. Ein schönes Bild, wenn sie durch den Freistundenhof watscheln. Aber es kam auch schon vor, dass ein Gefangener aus Frust heißes Wasser über die Enten goss. „Das war ein komischer Vogel auf zwei Beinen“, sagt ein Bediensteter.

Schmetterlinge

Im Herbst entdecken wir an den Kirchenfenstern in der Anstaltskirche immer wieder bunte Schmetterlinge. „Die müssen in die Freiheit“, sagt ein Jugendlicher. Er nimmt einen sorgsam in die Hand und geht zum unvergitterten Fenster des Seelsorgebüros: „Mach´s gut in der Freiheit“, ruft der Inhaftierte dem Schmetterling hinterher.

Krähen

Die schwarzen Krähen sind am stillen Sonntagmorgen besonders laut. Da schlafen die Gefangenen. Die Krähen machen sich über das her, was die Gefangenen aus ihren Haftraumfenstern pendeln oder herauswerfen. Die Krähen machen sich gegenseitig Konkurrenz. Wie die Gefangenen denke ich, jeder ist sich selbst der nächste im Strafvollzug. Die Macht wird im Jugendvollzug oft mit Fäusten gekennzeichnet. Manche Macht wird eher subtil ausgeübt. Die Krähe gilt als schlau, aber man verbindet auch Unheil mit ihr.

Seidenhühner

Oder doch lieber mitgehen wie die Seidenhühner der Arbeitstherapie, die tagein und tagaus im Umfeld der Werkstatt herumpicken und sich vom Hahn kommandieren lassen? Sie sehen putzig aus mit ihren langen Angora-Gefieder. Sie verursachen auf der anderen Seite aber die Verschmutzung des Weges. Man muss den Kothaufen regelrecht ausweichen. Einige der Inhaftierten sind Pechvögel, vom Pech verfolgt. Sie sind aufgrund ihrer Biografie so geworden, wie sie sind. Manche meinen, sie wären der King, ein Adler, der weiß und aufzeigt, wo es langgeht.

Wellensittiche

Vor zwei Jahren hat es ein Wellensittich in den Knast geschafft. „Er ist uns zugeflogen“, sagt ein Bediensteter. Als sich nach einem Aufruf kein Besitzer meldete, wurde die Seelsorge angefragt, einen Vogelkäfig zu besorgen. Ausgerechnet die freiheitsliebende Gefängnisseelsorge! Da der Wellensittich nicht allein überlebt, kaufte man einen zweiten dazu. Noch bis vor kurzem waren sie im Knastkäfig auf einer Knastabteilung eingesperrt.

Gefängnisseelsorge-Vögel

Und wer sind die schrägen Vögel von der Gefängnisseelsorge? Himmelskomiker, Heiligenvertreter oder Tabakverteiler? „Sie haben echt eine Meise“, sagt ein 18-jähriger zu mir, als ich ihm eine ehrliche Rückmeldung gebe. Da schlucke ich erst, nehme es aber hin, dass ich genauso schräg drauf sein kann, wie so manche Vögel.

Ich sehe mich als Befreiungstheologe im Gefängnis. Darin bin ich kirchlicherseits freier als „draußen“. Die Befreiungstheologie hat ihren Ursprung in Südamerika. Sie will nicht fromm sein, sondern die strukturellen „Sünden“ und soziale Ungerechtigkeiten in den Blick nehmen. „Die Option für und mit den Menschen am Rande“ ist der Kernpunkt befreiungstheologischen Denkens. Dieser befreiende Ansatz ist kontextuell nicht eins zu eins auf den europäischen Kontext übertragbar. Wie sollte er auf den Knast anwendbar sein? Jetzt würde mich „Sicherheit und Ordnung“ kritisch in den Blick nehmen, wenn ich „Gefangene befreien“ wollte. Es geht aber um Sehen – Urteilen – Handeln und: Feiern.

Sehen heißt, die Wirklichkeit mit allen Widersprüchen, in diesem Fall die der Inhaftierten und die der Bediensteten wahrzunehmen. In welchem System arbeiten und leben die Menschen? Urteilen als zweiter Schritt ist die Spiegelung der Erkenntnisse im Licht des Evangeliums der biblischen Texte und des christlichen Menschenbildes. Das Handeln ist der konsequenteste Schritt. Es geht nicht um Abschaffung der Gefängnisse, sondern darum, wie befreiende „Handlungen“ im Knast gestaltet werden können. Das kann ein Gespräch mit einem Inhaftierten sein, der sich entlastet, das kann aber auch eine Intervention auf ethischer Ebene sein, in der die Gefängnisseelsorge strukturelle konstruktive Kritik anbringt. Ebenso in der Erfahrung von Kreativität und Musik findet sie einen Ausdruck. Im Feiern christlich geprägter Gottesdienste richtet die Gefängnisseelsorge den Blick über die Mauer, und versucht aus einer Vogelperspektive zu schauen Es gibt noch so viel mehr als die Mauern, es gibt noch so viel mehr als das, was man den Straftätern zuschreibt. Befreiungstheologie ist keine neue Theologie, sondern ein Für-Wahr-Nehmen verschiedener Realitäten, um vom Leben her Lebens-Theologie zu betreiben.

Angst-freie Räume

Die Haltung der hierarchisch verfassten katholischen Amtskirche zur Befreiungstheologie ist alles andere als zustimmend. Klerikale-konservative Strömungen, fundamentalistische oder evangelikale Frei-Kirchen wollen klare Antworten. Sie haben angeblich die Wahrheit, die in die Freiheit führt. Als Gefängnisseelsorger arbeiten wir religionssensibel ohne missionieren und bekehren zu wollen. Den Kontext der Inhaftierten SEHEN und angst-freie Räume zu eröffnen, die Freiheiten in Gedanken, vertrauenden Gesprächen und kreativen Gestaltungen in bunter Vielfalt erlauben! Das schließt die Kritik am System des Strafvollzuges nicht aus. Als Gefängnisseelsorge sind wir dem System loyal gegenüber, aber unser unabhängiger Blickwinkel ist enorm wichtig.

Kolibri

Ich möchte den Picaflor am Ende in den Blick nehmen. Dieser kleine bunte Vogel fasziniert mit seinen beweglichen Flügeln. Er kann auf der Stelle fliegen, um zum Beispiel Nektar zu trinken. Kolibris fliegen sogar rückwärts. Ein Symbol für die Arbeit der Gefängnisseelsorge: Sich selbst nicht in den Mittelpunkt rücken, sondern den Punkt genau treffen, um weiter zu fliegen. Oder rückwärts zu schauen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Die meisten Kolibris haben ein metallisch schimmerndes Gefieder. Je nach Lichteinfall erscheint es in einer anderen Farbe. So vielfältig wie GefängnisseelsorgerInnen arbeiten, so bunt bringen sie sich in den oft harten und dunklen Vollzug ein und halten mit aus. Wie ein kleiner Kolibri…

Michael King | Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland
15. Mai 2025, Erkner (Brandenburg)

 

Feedback 💬

Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert