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Geschlagener Gottesmann ist menschlich

14. März 2020

Immer wieder haben Künstler den Auferstanden als Lichtwesen ohne die Wundmale gemalt. Doch die Löcher in seinen Händen und Füßen gehören zu seinem verklärten Leib. Die Erlösung kommt nicht erst durch die Auferstehung, vielmehr geschieht sie durch das Kreuz hindurch. Wir können nicht am Galgen vorbei glauben. Es gibt kein Ostern ohne Karfreitag. Jesus hat furchtbare Qualen durchlitten. Stundenlang hängt er da zwischen Himmel und Erde, total ausgetrocknet, die Lippen geschwollen, fürchterliche Krämpfe in allen Muskeln und Organen. Er blutet aus seinen Wunden am ganzen Körper.

Blutüberströmt schaut er seine Mutter an. Stabat mater dolorosa, die Mutter der Schmerzen steht unter seinem Kreuz. Das Herz durchbohrt. Zu oft wird viel zu schnell über den schrecklichen Karfreitag hinweggegangen. Viel zu schnell überstimmt das österliche Halleluja den verzweifelten Aufschrei Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ In seiner tiefsten Todesnot schreit Jesus zu seinem Vater im Himmel, ja, er schreit ihn regelrecht an. Warum lässt du mich hier hängen? Warum lässt du mich im Stich? In dem verwundbarsten Moment seines Lebens erlebt Jesus das furchtbare Gefühl, von Gott verlassen zu sein. Das macht den geschlagenen Gottesmann so menschlich, dass er auch in tiefster Not wirklich einer von uns war. Der Menschensohn.

Pestbeulen der Siechen

Jesus hing am Kreuz, laut schreiend – im Gegensatz zu Buddha, der dasitzt und weise lächelt. Wäre Jesus lebenssatt im Lehnstuhl friedlich eingeschlafen, wäre er kein Trost für Kranke und Sterbende. Auf dem Weg zu ihrem Golgatha kommen Christen dem Gekreuzigten näher und näher. Sie schauen auf die Wundmale Jesu, auf seinen zerschlagenen, zerfleischten Corpus. Auf dem berühmten Isenheimer Altar ist der gekreuzigte Christus übersät mit den Eiterschwären und Pestbeulen der Siechen im dortigen Antoniter-Spital. Grünewald malt Jesus mit den dunklen Flecken der Mutterkornvergiftung, wie damalige Stigmatisierte an sich selber sehen konnten. An den Sonn- und Feiertagen wurde das Altarbild aufgeklappt. Da konnten die „zum Tod Verurteilten“ sich mit den Weihnachtsbildern und mit dem auferstandenen Christus trösten.

Als ich Jürgen frage, wie er sich fühlt, zeigt er auf Jesus am Kreuz in seinem Zimmer. Der junge Mann ist festgenagelt auf seinem Krankenlager. Nur unter größter Anstrengung kann er seine Glieder rühren. Jürgen schaut auf Jesus am Kreuz. Mitten in seinem Karfreitag ist er ihm besonders nahe, wird eins mit ihm. Dem Gekreuzigten ähnlich zu werden hat etwas Homöopathisches, Heilsames. Die Gemeinschaft mit Jesus gibt den Leidenden die Kraft, ihre Passion durchzustehen, bis zum letzten Atemzug. Sie treten ins Zwiegespräch mit dem Geschundenen, möchten mit ihm reden. „Siehst du mich, wie elend ich daliege, völlig durchgelegen mit einem großen Loch im tiefen Fleisch!?“ – „Siehst du nicht mein faustdickes Geschwür?! Meine Geschwulst, die weiter wuchert?!“ Im inneren Dialog mit dem Gekreuzigten halten Menschen ihm ihre Wunden hin. Klaffende Wunden, die sich nicht schließen lassen. Wunden, die weiter eitern. Narben, im Fleisch eingebrannt. Auf dem Sterbebett richten Menschen ihren Blick auf das Haupt voll Blut und Wunden. Manche singen das berühmte Lied voller Hingabe. Und auch die zwei letzten Strophen.

Text: Paul Gerhardt (1656), Musik auf die Melodie von „Mein Gemüt ist mir verwirret“ von Hans Leo Haßler. Auch Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“.

Wer so stirbt, sieht das eigene Leid in der Passion Christi aufgehoben, geborgen, verwandelt. Nicht nur auf dem Krankenlager und Sterbebett halten Menschen sich am Kreuz fest. Der tiefste Punkt im Schmerz, an dem aus eigener Kraft nichts mehr geht, da ist der Gekreuzigte letzter Halt. Ein Fixer kommt schnell in die Kirche und geht vorne zum Gekreuzigten hin. Er zeigt ihm seine zerstochenen Arme und Geschwüre, bricht in Tränen aus: „Bitte, bitte, Jesus, hilf du mir doch! Du weißt doch, dass ich nicht loskomme von der Fixe. Erlöse du mich doch!“

Udo, der Bettler ist kein Kirchgänger. Aber wenn die Kirche leer ist, setzt er sich in die letzte Bank und fängt an mit seinem Freund zur reden: „Du, Jesus, das Betteln ist so erniedrigend. Ich halte es nicht mehr aus. Aber was hast du nicht alles aushalten müssen. Deinen Rücken haben sie in Stücken geschlagen, dich brutal ans Kreuz geschlagen. Und du hast alles geduldig ertragen!“ Ein alkoholgefährdeter Jugendlicher rutscht in der Kirche von Taizé in einer langen Schlange auf den Knien langsam nach vorne. Mit großer Hingabe küsst er das auf dem Boden liegende Kreuz und hält sich lange an ihm fest. Seine letzte Hoffnung hängt am Kreuz.

Petrus Ceelen | Bild: Gülay Keskin

 

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