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Besuchen. Nicht bekehren, ändern oder anklagen

31. August 2020

Gibt es eine Spurensuche nach „Gott“ im Knast? Dies frage ich mich als Gefängnisseelsorger, der in einer Justizvollzugsanstalt arbeitet. Wer ist Gott und wie begegnet er oder sie mir am AndersOrt des Gefängnisses? Ich mache mich Tag für Tag auf die Suche nach Spuren Gottes hinter den Mauern. Und dabei versuche ich, mich an die Hinweise aus unseren Heiligen Schriften zu halten. Ich erinnere mich an die Werke der Barmherzigkeit und finde: ,,Gefangene besuchen!“ ,,Besuchen“ steht da, nicht bekehren, nicht anklagen, nicht ändern, nicht auf den rechten Weg führen, nein, einfach nur ,,besuchen“…

Viele Geschichten gibt es in der Bibel, die davon erzählen. Zum Beispiel beim Propheten Elija ist Gott eher im Säuseln des Windes als im Donner oder Sturmesbraus; oder bei Jesus steht in der Mitte (dem Ort Gottes) ein Kind (wenn ihr nicht werdet wie die Kinder), steht in der Mitte eine Ehebrecherin (verurteilst du mich nicht?), steht in der Mitte immer wieder ein Kranker (ein Unberührbarer und er hat sie berührt), steht in der Mitte der Auferstandene (er trat in ihre Mitte – neues Leben tritt den Todesmächten entgegen). So stolpere ich eher – als ich gehe – durch den Knast mit meiner Suche nach den Spuren Gottes.

Es ist klar, ich muss zu den Menschen gehen, wenn ich die Spurern Gottes entdecken will! Und ich erinnere mich als ehemaliger Kaplan an ein Wort von Kardinal Cardijn: „Wir haben nicht die Aufgabe, Christus zu den Menschen zu bringen, sondern Christus zu entdecken, da wo er schon ist!“

Da begegne ich dem Ewigen

Da erlebe ich einen Lebenslänglichen, der mir Monat für Monat eine Tüte seines Einkaufs (Lebensmittel, Tabak, Kaffee etc.) bringt, damit ich diese Sachen an Leute verteile, die nichts haben. Ausdrücklich so, dass niemand weiß, von wem die Sachen sind. Da begegne ich dem Ewigen! Da erlebe ich, wie einer immer wieder Streit schlichtet, ohne etwas davon zu haben und deswegen auch noch ausgelacht wird. Da begegne ich dem Ewigen!

Da erlebe ich, wie einer seinem Vater aufrichtig verzeiht, dem Vater, der ihn als Kind und Jugendlichen immer wieder geschlagen hat und so einen Grund für seine Kriminalität gelegt hat. Und er sagt dazu nur: Er wusste es nicht anders. Er ist ja von seinem Vater auch nur geschlagen worden! Da begegne ich dem Ewigen! Da erlebe ich, wie einer, der nur Gewalt als Ausdruckmittel seiner selbst kannte, sich auf den mühsamen jahrelangen Weg macht, dies hinter sich zu lassen; und der dabei noch ertragen muss, dass seine ehemaligen Kumpel ihn verhöhnen und herausfordern. Da erlebe ich den Ewigen!

Da erlebe ich, wie Bedienstete auch nach Jahren im Knast den Glauben an das Gute im Menschen nicht verloren haben und entsprechend mit Inhaftierten umgehen, und dies durchaus unter Missfallens-Bekundungen anderer Bediensteter. Da begegne ich dem Ewigen! Da erlebe ich Ehrenamtliche, die sich in der Begleitung von Straffälligen dem Aufgeben verweigern und immer wieder neu anfangen… Denn es muss doch einen Weg aus dem Teufelskreis des Bösen geben! Da begegne ich dem Ewigen! Und ich erinnere mich an die Werke der Barmherzigkeit und finde: ,,Gefangene besuchen!“ ,,Besuchen“ steht da, nicht bekehren, nicht anklagen, nicht ändern, nicht auf den rechten Weg führen, nein, einfach nur ,,besuchen“!

Kein Platz für Überheblichkeit

Und da wird mir erfahrbar, dass ich Gott besuche, denn sein Gesandter hat gesagt: ,,Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.“ Was für ein Erlebnis, Gott in den Gefangenen zu besuchen! Da ist kein Platz für Überheblichkeit! Da ist kein Platz für Besserwisserei! Da ist kein Platz für Verurteilung! Da begegne ich dem Ewigen! Und ich erinnere mich an den Satz aus dem Hebräerbrief: „Denkt an die Gefangenen, als wäret ihr mitgefangen!“ Welche Solidarität! Und es ist die Solidarität Gottes. Wenn ich also in dieser Weise an die Gefangenen denke, komme ich automatisch bei Gott an. Da begegne ich dem Ewigen! Es ist tatsächlich so. Der Ewige legt seine Spuren da aus, wo wir es nicht erwarten. Ich habe sie im Knast gefunden. Ich habe sie in den Menschen im Knast gefunden. Deswegen bleibe ich im Knast, schon mehr als 30 Jahre, und so er will, noch länger. Und es geht mir gut dabei, denn: Ich begegne dort dem Ewigen!

Reiner Spiegel | JVA Düsseldorf-Ratingen

 

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