Von Akiko Lachenmann. Stuttgarter Zeitung.
Wenn David B. im Führerhaus seines Müllwagens sitzt, kann ihn nichts aus der Ruhe bringen. Keine Parksünder, keine ungeduldigen Pendler im Rückspiegel, keine Kollegen, die rasch Feierabend machen wollen. Denn der Müllwagenfahrer weiß, wie verheerend die Folgen sein können, der Wut freien Lauf zu lassen. Er verbüßt derzeit eine Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen Körperverletzung in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kislau bei Bruchsal im offenen Vollzug. Das hat das Entsorgungsunternehmen Suez nicht davon abgehalten, den 28-Jährigen einzustellen und schwere Fahrzeuge lenken zu lassen.
Freigänger wie David B. sind in Zeiten von Quasi-Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel gefragte Arbeitskräfte. Eine wachsende Zahl von Betrieben, die sich bei der Personalsuche schwertun, geben Strafgefangenen eine Chance. “Die Kunden aus der JVA werden mit Kusshand genommen, auch als Azubis”, sagt Jens Sulzer von der Agentur für Arbeit in Bruchsal, der für die Resozialisierung von Strafgefangenen in drei JVAs in der Region Bruchsal/Karlsruhe zuständig ist. Besonders in Handwerksbetrieben, bei Speditionen, in der Gastronomie, im Reinigungsgewerbe und bei Zeitarbeitsfirmen sei die Bereitschaft groß, Häftlinge einzustellen.
Erwerbstätigkeit senkt die Rückfallquote erheblich
“Die Firmen sind sehr zufrieden mit den Häftlingen”, berichtet Sulzer. Denn im Vergleich zu manch gewöhnlichem Bewerber seien sie stets pünktlich bei der Arbeit. Dafür sorgt die Anstaltsleitung, die die Inhaftierten weckt, wenn deren Wecker versagt. Außerdem seien sie in der Regel zuverlässig und engagiert bei der Sache. “Neulich hat ein Häftling, der eine Umschulung zum Gas-Wasser-Installateur gemacht hat, zu den Kammerbesten gezählt”, erzählt Sulzer.
Heike Bitz, die Leiterin des offenen Vollzuges der JVA Kislau, weiß die hohe Motivation zu erklären:. “Wer aus der Haft kommt, geht mit einer ganz anderen Wertschätzung zur Arbeit. Denn dort spürt er wieder Normalität, dort gehört er wieder zum gesellschaftlichen Leben.” Außerdem motiviere die Häftlinge nicht zuletzt, dass ein intaktes Beschäftigungsverhältnis die Chancen steigert, vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden.
Wir wissen, dass sich allein durch eine erfolgreiche Vermittlung in die Erwerbstätigkeit das Rückfallrisiko nach der Haft um bis zu 60 Prozent verringert.
Die Firma Suez kam David B., der zum Zeitpunkt seiner Bewerbung noch keine gewerbliche Zulassung besaß, sogar entgegen. “Meinem Kunden wurde trotzdem eine Stelle zugesichert”, erinnert sich Sulzer. Die Personalabteilung wartete zwei Monate – so lange brauchte David B., um die Ausbildung zum Berufskraftfahrer, die er wegen seiner Haftstrafe hatte abbrechen müssen, über eine Weiterbildungsmaßnahme abzuschließen. Suez begründet ihr Vertrauen in den Strafgefangenen in einer Stellungnahme: “Unsere Unternehmenskultur wird durch Werte und Grundsätze geprägt, die ausnahmslos für alle Mitarbeiter gelten. Wir prüfen neben der fachlichen Qualifikation genau, ob ein Bewerber diese Werte erfüllt – und haben auch mit Strafgefangenen gute Erfahrungen gemacht.”
Dass Strafgefangene vom leer gefegten Arbeitsmarkt profitieren, ist auch ganz im Sinne der Landespolitik. Erst vor zwei Jahren haben Vertreter von Justiz-, Wirtschafts- und Sozialministerium eine Kooperationsvereinbarung “zur besseren Integration von entlassenen Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten” unterzeichnet. “Wir wissen, dass sich allein durch eine erfolgreiche Vermittlung in die Erwerbstätigkeit das Rückfallrisiko nach der Haft um bis zu 60 Prozent verringert”, sagte der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf (CDU). Die Resozialisierung Strafgefangener sei zugleich der beste Opferschutz. Konkret wurde eine engere Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsagenturen und den Justizvollzugsanstalten im Land beschlossen. So sollten spätestens sechs Monate vor der voraussichtlichen Entlassung Gefangene das Dienstleistungsangebot der örtlichen Agentur für Arbeit in Anspruch nehmen.
Im geschlossenen Vollzug ist so eine Tätigkeit nicht möglich
Jens Sulzer hat schon lange arbeitssuchende Strafgefangene unter seinen Kunden. Seit 2005 berät er unter anderem Gefangene der JVA Bruchsal, wo vorwiegend Langzeitstrafen verbüßt werden. “Das sind im Grunde Langzeitarbeitslose, die sehr unsicher sind und intensive Beratung brauchen”, berichtet Sulzer. “Diese Kunden wissen oft nicht, wie sich der Beruf, den sie einst ausgeübt haben, in der Zwischenzeit gewandelt hat.” Im Schnitt führt Sulzer monatlich zehn Beratungsgespräche mit Häftlingen. Dafür fährt er teilweise in die Anstalten, denn auch Häftlinge, die noch im geschlossenen Vollzug sind oder aus anderen Gründen die Anstalt nicht verlassen dürfen, können ein Beratungsgespräch mit ihm beantragen. Auswärts arbeiten dürfen Strafgefangene jedoch erst, wenn sie in den offenen Vollzug verlegt werden.
“Außerdem sollte der Arbeitsplatz innerhalb von zwei Stunden mit Bus und Bahn erreichbar sein”, erklärt die Leiterin Bitz. Bei weiter entfernten Arbeitsplätzen seien Häftlinge aber auch schon verlegt worden. “Wir bemühen uns, die Häftlinge so gut es geht bei der Arbeitssuche zu unterstützen.“
David B. war ein “optimaler Fall”, wie Sulzer sagt. Nicht nur, weil er bereits eine Ausbildung begonnen hatte und wusste, was er wollte. Er zeigte sich auch einsichtig und bereit, an einem Antigewalttraining teilzunehmen. Nachdem die Anstaltsleitung ihm wegen guter Führung grünes Licht gegeben hatte, besuchte er zunächst ein Bewerbungstraining der Arbeitsagentur. Danach schickte er ein Dutzend Bewerbungen raus, in denen er freimütig angab, zuletzt für “Betrieb 5” der JVA Kislau gearbeitet zu haben. “Ich wurde trotzdem zu sechs Gesprächen eingeladen”, erzählt der 28-Jährige. Nach dem Grund, warum er bestraft worden ist, wurde er nur ein Mal gefragt. Rechtlich muss er darauf keine Antwort geben.
Suez machte ihm das attraktivste Angebot. Seither lenkt David B. jeden Tag ein anderes Fahrzeug, “mal Minihecklader, mal Abrollkipper, mal Mercedes-Benz Atego”, zählt er auf. Die Abwechslung fühle sich gut an. “Bei Sperrmüllfahrten arbeite ich sogar mit einem Tablet.” Dafür stehe er auch gern um 4.30 Uhr auf. Von seinen Lohnzahlungen sieht er allerdings erst einmal nicht viel. Er sitzt auf einem Schuldenberg von 250.000 Euro – Gerichtskosten, Schmerzensgeld, Schulden bei der Bank. Doch das dämpft nicht seine Lust auf Arbeit. “Ich werde gebraucht”, sagt er. “Das tut mir gut.“
Mit freundlicher Genehmigung der Medienholding Süd GmbH