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Wir sind nicht da zu richten, sondern um aufzurichten

8. Oktober 2020

„Ihr sucht doch eine Lebensaufgabe. Ein junger Mann, der seine Ehefrau im letzten Jahr erstochen hat, sucht Briefkontakte. Wollt Ihr ihm schreiben?“ fragte uns der Pfarrer. Na ja, wir wollten unserem neuen Leben einen Sinn geben, doch gleich mit einem Mörder? Nach einigen langen Briefen und sechs Wochen später saßen wir zum ersten Mal in unserem Leben in einem Gefängnis, in einem winzig kleinen Besucherraum der JVA Bayreuth und warteten auf Dieter, zusammen mit gefühlt zehn weiteren Menschen, die, wie wir auf einen Gefangenen warteten, eng beieinander gerückt vor einer halbhohen Trennscheibe unter strenger Aufsicht eines Beamten.

Dann traten drei Männer in blauer Arbeitskluft ein, der Letzte, blasses Gesicht, schaute ernst in den Raum, dann uns an. Nach 2 x 45 Minuten standen wir wieder draußen auf dem Parkplatz. Dieses beklemmende Gefühl wich auch nach einer Woche nicht von uns. Noch etliche Male besuchten wir Dieter, feierten mit ihm seinen Geburtstag in einem gesonderten Raum, bei Kaffee und Kuchen. Beim Abschied umarmten wir uns. Wir hatten ihn bestiegen, den Zug nach irgendwo oder vielleicht nach nirgendwo? Gott, der Herr, hatte uns ein zweites Leben geschenkt, nachdem uns die Gesellschaft von oben nach unten durchgereicht hatte. Mit Bankrotteuren und finanziellen Versagern wollte man nichts zu tun haben, mit Hartz-IV-Empfängern schon gar nicht.

Warum ausgerechnet mit Häftlingen?

Nach einem Artikel in der Zeitung „Welt am Sonntag“ über uns und unsere Lebensaufgabe erhielten wir ein Päckchen mit Schokolade, Kaffee und einem Brief von einem Ehepaar aus Köln: „Zu so etwas würde uns der Mut fehlen, das könnten wir nicht…“ Sie wünschten uns Gottes Segen. Das war das wichtigste Geschenk von ihnen für uns. „ Warum kümmern Sie sich nicht um Flüchtlinge, die haben es viel nötiger, als diese “ schrieb ein anderer.

Die Menschen verstehen uns nicht, verstehen nicht unsere Aufgabe. Der Zug hatte längst Fahrt aufgenommen, aussteigen ging nicht mehr. „Ihr seid mir mehr Vater und Mutter, als meine eigenen Verwandten“ lässt uns Desmond wissen. „Ich wünsche mir so sehr Eltern, die mich lieben, so wie Ihr“, sagt Martha, die kleine Frau aus Uganda, die im berüchtigten Frauenknast in Bangkok/Thailand lebenslänglich einsitzen muss, sie nennt uns Dad und Mom. Unser einziger Sohn nennt uns nicht so, denn in unserer schwersten Stunde ergriff er die Flucht, Eltern, die vom Sozialamt lebten kamen in seiner Welt nicht vor.

„Was schreiben Sie denn so?“ fragte uns eine Journalistin, die in einer christlichen Tageszeitung über uns berichtete. „Ihr habt schöne Mädchen in Deutschland” schreibt Shawna aus Arizona, nachdem wir ihr eine Postkarte vom Oktoberfest in München schickten. In jedem Urlaubsort kaufen wir einen Stapel Postkarten, die wir an die Gefangenen verschicken. Ein Erinnerungsgruß hinter die dicken Mauern. „Ich fühle mich so einsam, so verlassen….“ Oh ja, das hören wir so oft. Mit diesen Menschen wollen nur wenige etwas zu tun haben. „ Wegsperren soll man die, keiner hat denen gesagt, dass sie schlimme Sachen tun sollen…“ Diese Kommentare begleiten uns. Sagt nicht Artikel 1 des Grundgesetzes „die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Gehören nicht auch Empathie, Trost und Nächstenliebe dazu? Hat sich nicht auch und besonders Jesus um die Armen gekümmert? Hammelburg ist ein kleiner Ort, das Viertel, in dem wir wohnen ist noch kleiner, und die Welt der Menschen in diesem Teil ist winzig klein. Ältere Menschen neigen zum Egoismus, zumal, wenn sich ihre Weltanschauung seit Jahrzehnten nicht verändert hat.

Ihr Knastbrüder

„Ihr Knastbrüder“, diese Beschimpfung hat man uns auch schon um die Ohren gehauen. Toleranz sieht anders aus! Maria schrieb kürzlich: „Jede Tat hat ihre Geschichte. Bitte habt Verständnis, wenn ich über meine Tat nicht sprechen möchte.“ Wir haben noch nie nach dem Grund der Inhaftierung gefragt, der Mensch steht für uns im Vordergrund, nicht der Täter. Die Tat ist die Wirkung einer Ursache, die in den meisten Fällen in der Vergangenheit, im Elternhaus statt gefunden hat. Wir Menschen sind nicht hier, um zu richten sondern um aufzurichten. Damals konnten wir nicht ahnen, wohin diese Reise gehen würde, die Welt ist so groß, doch hinter den dicken Mauern der Dunkelheit wird sie immer kleiner und ist überall gleich. Wer versucht, in die traurigen Herzen der Menschen zu blicken, die manchmal keine Tränen mehr haben, weil sie schon so viel geweint und gelitten haben?

Michel hat von seinen 37 Lebensjahren die ersten 15 in Freiheit verbracht, danach Jugendhaft, heute seit einiger Zeit Sicherungsverwahrung! „Ich habe in den letzten 1½ Jahren 100 Menschen um einen Briefkontakt gebeten, sechs haben mir geantwortet. Nachdem ich ihnen meine Lebensgeschichte mitgeteilt habe, schreiben auch sie nicht mehr.“ Wir werden weiter schreiben, werden weiter beten, denn Gott hilft jedem und Gebete kennen keine Grenzen und keine Entfernungen. Wenn wir mit Shawna in Arizona telefonieren, verstehen wir nicht immer ihren breiten Südstaaten-Slang, dafür freut sie sich, wenn wir sie „Honey“ oder „Darling“ nennen. Für die Liebe gibt es keine Hindernisse. Paul Anka sang vor Jahrzehnten: „He‘ s got the whole world in his hand.“ Auch wir und der Zug nach irgendwo sind in „his hand“.

Monika und Henry Toedt | Hammelburg

 

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