Schon mehr als ein Jahr dauert die Corona-Krisenzeit. Sie betrifft den ganzen Globus und ist deshalb so bedrohlich, weil das Selbstverständlichste der Welt betroffen ist, nämlich das Atmen. Die Bilder aus Indien, wo ein Arzt mit tränenerstickter Stimme öffentlich um Hilfe bat, weil innerhalb einer Stunde im Krankenhaus der Sauerstoff für die dringend notwendige Beatmung zur Neige gehe, haben all den Hiobsbotschaften der vergangenen Monate eine neue hinzugefügt. Menschen mit Atemnot stehen in Schlangen vor Krankenhäusern und finden weder Platz noch Hilfe. Qualvoll erleiden Abertausende den Erstickungstod. Und auch von denen, die weltweit künstlich beatmet werden können, sterben am Ende doch viele an Multiorganversagen. Atmen heißt Leben.
Diese Pandemie entpuppt sich als „Atemstörung“ nicht nur in medizinischer Hinsicht. Wenn ich dem Atmen nicht mehr trauen kann, reflektiert der Soziologe Hartmut Rosa, wenn ich nicht mehr unbesorgt ein- und ausatmen kann, dann hat das die größte mögliche Verunsicherung unserer Weltbeziehung zur Folge. Denn der Boden unter unseren Füßen und die Luft, die uns unsichtbar umgibt, sind das Fundamentalste, was wir kennen. Jetzt brauchen wir Masken zwischen uns und der Atmosphäre, zwischen uns und den anderen. „Ich kann mir selbst nicht mehr trauen – vielleicht ist das Virus schon in meinem Körper. Und ich kann den anderen nicht mehr trauen – vielleicht stecken sie mich an.“ Alles ist anstrengender als gewöhnlich. Mittlerweile geht vielen auch im übertragenen Sinn „die Puste aus“: Homeoffice führt auf Dauer zu Überlastung oder Vereinsamung. Kontaktbeschränkungen machen uns deutlich, wie sehr wir Menschen Beziehungswesen sind. Unterrichtsausfälle und Öffnungsverbote hinterlassen kaum aufzuholende Spuren. Existenznöte und tiefgreifende Sorgen schnüren vielen Menschen die Luft ab. Sport, Kultur, Freizeitaktivitäten und Urlaub fehlen, und es mangelt schlicht und ergreifend an gutem Ausgleich für den Alltagsstress – auch wenn wir hoffen dürfen, dass bald wieder Luft ins System kommt, wenn die Impfstrategie zunehmend greift.
Atmen bedeutet Leben
Das gilt in einem sehr umfassenden Sinn. Denn ohne Atem gehen uns auch die Worte aus, die Stimme fehlt, Singen unmöglich, der Geruchssinn ist gestört. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn (1918–2008), der die Verbrechen des stalinistischen Regimes der Sowjetunion an Millionen Menschen im Gulag detailliert festgehalten hat, beschrieb die Verbindung von Atmen und Freiheit für mich unnachahmlich.
Über Nacht war Regen gefallen, und nun wandern Wolken über den Himmel – ab und zu sprüht Nässe herab. Ich stehe unter einem Apfelbaum, der zu verblühen beginnt, und atme. Nicht allein der Apfelbaum, sondern auch die Gräser ringsumher haben die Feuchtigkeit des Regens aufgesogen – kein Name lässt sich finden für jenen süßen Duft, der die Luft erfüllt.
Ich sauge ihn ein mit der vollen Kraft meiner Lunge, und meine ganze Brust spürt den Wohlgeruch. Ich atme, atme – einmal mit offenen Augen, dann wieder mit geschlossenen Augen. Ich weiß nicht zu sagen, was schöner ist. Dies ist wohl jene einzigartige, allerkostbarste Freiheit, deren uns das Gefängnis beraubt, so zu atmen, hier zu atmen.
Alexander Solschenizyn, Im Interesse der Sache. Eine Erzählung, München 2017
Schöpferischer Lebensatem
Atmen schafft Freiheit. Atmen gibt Energie und stiftet Gemeinschaft. Vom ersten Schrei an bis zum letzten Seufzer atmen wir unbewusst. Wir tun es einfach, vegetativ gesteuert wie alle lebenswichtigen Funktionen, aber die Atmung ermöglicht alles andere: Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Sprechen, Laufen, Arbeiten, Ruhen, Lieben – einfach alles, auch das Beten. Ja, wenn das Atmen stockt, wenn es in jeglicher Hinsicht gestört ist, dann haben wir allen Grund, uns dieser selbstverständlichsten Grundlage unseres Lebens einmal bewusst zu werden, darüber nachzudenken und dafür zu danken. Es hat seinen guten Grund, dass die ältere Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis die Erschaffung des Menschen so erzählt: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“ (Gen 2,7). […]
Im Hauchen ist Gottes Geist
Er ist die göttliche Lebenskraft, die alles erfüllt und verbindet. Und die biblischen Begriffe für den Geist beziehen sich in allen Sprachen auf dieses Bild: „ruach“ im Hebräischen, „pneuma“ im Griechischen, „spiritus“ auf Latein bezeichnen ursprünglich den Atmungsvorgang. Ähnlich wie die biblischen Bezeichnungen für die Seele reichen sie bis in mythische Vorzeit zurück. Seele und Geist, Atmen und Hauchen stehen für den Grundvollzug des Lebens. Die Luft, die wir aus der Atmosphäre atmen, wird zur Kraft unseres eigenen Lebens; und ausatmend geben wir diese Kraft ins Unbegrenzte unseres Lebensraumes zurück. Leben wird empfangen, und Leben wird gegeben. Im Hauchen und Atmen ist Gottes Geist am Werk und hält uns lebendig. „Atem Gottes“: so erfahren wir den Heiligen Geist, der Leben schafft. Und in dieser Umschreibung liegen viele Dimensionen verborgen. Die Poesie der Pfingsthymnen entfaltet sie uns. Der Atem Gottes kann wie ein Sturm aus Glut wieder Feuer entfachen, kann die Herzen durchglühen und uns schwache Menschen mutig machen.
Hauch von Freiheit spüren
Der Atem Gottes öffnet den stummen Mund, lässt uns Gottes Güte und Barmherzigkeit besingen. Der Atem Gottes wärmt, was kalt und erstarrt ist. Er kühlt die Überhitzten. Er weht lebendig, wo er will, und führt Menschen zueinander. Der Atem Gottes tröstet und lässt zur Ruhe kommen wie ein sanfter Abendhauch, in dem die Unrast eines Tages einfach von uns abfällt. Es sind kostbare und starke Bilder. Da wirkt gläubige Erfahrung und „macht“ im wahrsten Sinn des Wortes Sinn. Nie zuvor ist mir die Metapher vom „Atem Gottes“ für den Heiligen Geist so nah und tröstlich gewesen wie jetzt in Zeiten der Pandemie. Und noch nie hat es mich innerlich so gedrängt, zu beten und zu flehen, der Atem Gottes möge kommen und unsere Welt und jeden Menschen erfassen. Er möge die Kranken heilen, die Traurigen tragen, die Toten im Hauch der Ewigkeit bergen. Er möge die Mutlosen aufmuntern, die Ungeduldigen bremsen. Er möge wehen und uns alle als Geschwister zusammenführen, die wir miteinander das Haus dieser Erde bewohnen. Atem Gottes, Heiliger Geist, komm, lass uns den Hauch des Lebens und der Freiheit spüren!
Dr. Georg Bätzing | Pfingstsonntag 2021
Lesungen: Apg 2; Gal 5 | Evangelium: Joh 20,19–23