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Anonymer Brief an einen Gefängnisseelsorger

2. Mai 2020

Nach einer tödlichen Messerattacke in einer Gesamtschule in Lünen hat das Landgericht Dortmund einen damals 16-jährigen Schüler schuldig gesprochen – und zu sechs Jahren Jugendhaft verurteilt. Die Richter sind überzeugt, dass der Angeklagte Ende Januar 2018 einen Mitschüler vor Unterrichtsbeginn auf einem Schulflur erstochen hat. Die Tat werteten sie jedoch nicht als Mord oder Totschlag, sondern als Körperverletzung mit Todesfolge. In diesem Zusammenhang wurden Erfahrungen eines Gefängnisseelsorgers zu seiner Arbeit in einem Artikel einer Zeitung zitiert. Daraufhin ging ein anonymer Brief in selektiver Lesart an den Gefängnisseelsorger ein.

Im Artikel wird ein Polizeipsychologe und ein Gefängnisseelsorger zitiert. Der Polizeipsychologe plädiert dafür, dass der Jugendliche „auf jeden Fall verantwortlich ist, für das, was er getan hat. Vor dem Gesetz und auch vor der Gesellschaft.“ Demgegenüber wird der Gefängnisseelsorger mit den Worten zitiert, dass „der Jugendliche nicht nur als Messerstecher gesehen werden soll. Er hat zwar eine Aushängeschichte, aber wir Menschen haben verschiedene Seiten. Er (der Täter) ist ein Mensch, der einen Namen, der eine Familie hat. Ihn oder seine Familie zu beschimpfen oder zu bedrohen, führt nicht weiter.“

Anonymer Brief von „Müttern“

Mit Entsetzen haben wir Mütter einer anderen Gesamtschule Ihre Meinung in der Zeitung gelesen.

Sie sind also tatsächlich der Meinung, dass keine Bestrafung mehr nötig sei bei einem kaltblütigem Mord. Wenn der Junge ein Messer dabei hatte, will er es auch benutzen. Wir haben nie ein Messer dabei… auch der Satz, dass jeder Mensch dazu fähig sei durch gewisse Lebensumstände ist ziemlich dreist von einem katholischen Priester.

Gut, Deutschland wird im Moment von Messerstechern überschwemmt mit Billigung des Staates und der Kirche. Wenn es einen trifft – Pech gehabt – Hauptsache Steuern zahlen für diese Messerstecherei bis zum eigenen Mord mit Messer!

Die einzige Lösung ist Kirchenaustritt und die Wahl der richtigen Partei!

Durch die „Knabenliebe“ wie sie bei katholischen Priestern von je her sehr verbreitet ist und sie völlig verblendet, nehmen Sie Partei für einen Mörder, der nicht bestraft werden soll. Wo haben Sie Theologie studiert? 10 Gebote „Du sollst nicht töten“?

In Deutschland werden die Täter belohnt und die Opfer verhöhnt mit Billigung der katholischen Kirche! Was ist denn mit den Eltern des getöteten Jungen. Haben Sie da keinen Bibelspruch auf Lager. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was das für eine Mutter bedeutet, wenn ihr Kind getötet wird? Alle Zukunftspläne dahin… Leider sind Sie völlig verroht und als Priester untragbar. Sie wissen nicht, was es heißt ein Kind großzuziehen und es dann zu verlieren. Schande über Sie und den zuständigen Bischof, der dass ja wohl auch in Ordnung findet.

Gehen Sie mal auf den Friedhof zu dem getöteten Jungen und bitten um Verzeihung für den Stuss, den Sie da von sich geben!

Gruß
Mütter

Position der Gefängnisseelsorge

Leider konnte zu dieser Brief und die darin enthaltende (zum Teil beleidigende) Kritik nicht beantwortet werden, weil dieser anonym abgesandt wurde. Schade, wäre es doch ein gutes Streitthema darüber zu sprechen, wie die Gefängnisseelsorge mit Tätern umgeht. In keiner Weise soll die geschädigte Familie aus dem Blick geraten. Die Kirche(n) engagiert sich für Opfer und Geschädigte von Straftaten. Genauso gilt es, mit den Tätern zu arbeiten.

Viele Abgründe und Dunkelheiten, schräge Lebenshaltungen und Persönlichkeitsstörungen begegnen GefängnisseelsorgerInnen hinter den Mauern. Doch das alleine Wegsperren ändert wenig bis nichts. Der Knast erzeugt Nebenwirkungen, auf die PsychologInnen und SozialarbeiterInnen kaum Einfluss haben. Zu erwähnen sind da die subkulturellen Tätigkeiten und die „Erziehung“ durch Mitgefangene mit all den Straftaten, die in der Gesellschaft passieren.

Im Artikel wird ebenso die Aussage betont: „Ich könnte im Vollzug gar nicht arbeiten, würde ich nicht daran glauben, dass jeder Täter auch noch eine andere Seite hat. […] Natürlich muss eine Aufarbeitung geschehen.“ Opfer- und Täterarbeit können nicht gegenseitig ausgespielt werden.

„Als Seelsorger bin ich für Täter da“, sagt der Gefängnisseelsorger, „und da sehe ich nicht alleine die Straftat, sondern den Menschen, der vor mir sitzt. Weder billige ich die Straftat, noch beschönige ich sie. Es geht in der Seelsorge nicht um die Schuldzuweisung, sondern darum, dass der jugendliche Mensch durch das Gegenüber seine Entwicklungen ansieht und damit Veränderung passieren kann.“

Für den Diskurs ist ein anonymer Brief kein geeignetes Mittel. Schon gar nicht, wenn darin verallgemeinernde und anschuldigende Zuschreibungen enthalten sind.

Gruß
GefängnisseelsorgerInnen

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