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Gefängnisseelsorge in religionspluraler Gesellschaft

29. April 2020

Der Besuchereingang der Justizvollzugsanstalt in Essen. Ob das Schild „Vorsicht Rutschgefahr“ immer dort steht? Foto: Achim Pohl.

Religiöse Pluralität ist zum Faktum geworden, in der Gesellschaft und in ihren Institutionen. Wenn aber über religiöse Pluralität im Gefängnis medial berichtet wird, sind es oft spektakuläre Fälle und Extreme, die uns erreichen, z. B. religiöse Radikalisierung im Gefängnis, Bildung salafistischer Subkulturen, verurteilte Ehrenmörder, Inhaftierung von (mutmaßlich) religiös motivierten Terroristen und Mitgliedern von so genannten ‚Sekten‘. Wie aber geht das Gefängnis als Einrichtung mit religiöser Pluralität im Haftalltag um? Und insbesondere: Wie geht die Gefängnisseelsorge als religiöser Akteur im Strafvollzug mit religiöser (und auch weltanschaulicher) Pluralität im Gefängnis um? Und wie wird Gefängnisseelsorge vor dem Hintergrund einer religionspluralen Gesellschaft wahrgenommen?

Generell ist anzumerken, dass sich religiöse Pluralität in den einzelnen Anstalten ganz unterschiedlich manifestiert. Es gibt unterschiedliche religiöse Organisationen die in den Anstalten tätig sind und es gibt unterschiedliche religiöse Populationen sowohl bei den Insassen als auch bei der Belegschaft. In manchen Anstalten ist der überwiegende Teil nicht religiös. In anderen Anstalten gibt es wiederum viele christlich sozialisierte und auch praktizierende Personen. Andere Anstalten wiederum sind religiös ausgewogen, so dass es keine Mehrheit gibt, oder haben viele Insassen, die zumindest kulturell muslimisch geprägt sind. Unabhängig von diesen Unterschieden gibt es immer eine Konstante und das ist die Gefängnisseelsorge. Aber auch, wenn die Gefängnisseelsorge in jeder Anstalt vertreten ist, gibt es große Unterschiede in der strukturellen Einbindung, den vorhandenen Ressourcen und dem individuellen Selbstverständnis der SeelsorgerInnen. Dadurch wird das Verständnis von Gefängnisseelsorge innerhalb der Anstalten maßgeblich geprägt.

Wahrnehmung der Seelsorgearbeit im vollzuglichen Alltag

So ist zum einen zu unterscheiden, wie viele SeelsorgerInnen vor Ort sind und ob diese im Haupt-, Neben- oder Ehrenamt arbeiten. Wie stark die Gefängnisseelsorge etabliert ist, steht auch in direkter Abhängigkeit zur regionalen Verankerung der jeweiligen Kirche vor Ort. Hier spielen sowohl die Finanzkraft als auch die Mitgliederzahlen der Landeskirche und Diözese eine Rolle. Zum anderen ist das Selbstverständnis der GefängnisseelsorgerInnen entscheidend dafür, wie die Wahrnehmung bei Inhaftierten und Personal ist. Zu fragen ist hier: Möchte sich Seelsorge in die Anstalt integrieren oder in Distanz als vorwiegend kritische Instanz wahrgenommen werden?

Die 10 Gebote des Strafvollzuges: Ein Langstrafiger in Bochum hat für sich die Vollzugsregeln formuliert. Sie bilden nicht die Vollzugsrealität ab. Jedoch zeigen sie, wie er den Umgang im Vollzug subjektiv zu einer bestimmeten Zeit erlebt. Foto: Alfons Zimmer, JVA Bochum.

Beide Pole wurden in den eigenen Erhebungen vorgefunden. Basierend auf dem Selbstverständnis der interviewten GefängnisseelsorgerInnen und dem Fremdverständnis über Gefängnisseelsorge lassen sich Ausprägungen finden. In drei der untersuchten Anstalten gilt Gefängnisseelsorge als sehr etabliert. In diesen Anstalten werden die GefängnisseelsorgerInnen als AnstaltsseelsorgerInnen wahrgenommen und sie empfinden sich auch als solche. Die GefängnisseelsorgerInnen sind in der Anstalt und in der Region gut vernetzt und es werden viele Veranstaltungen mit und ohne religiösen Hintergrund organisiert und angeboten. Der Gottesdienst findet wöchentlich, aber im Wechsel (katholisch/evangelisch) statt. Die SeelsorgerInnen sind jeweils zu 100 Prozent in der Anstalt beschäftigt. Neben den hauptamtlichen SeelsorgerInnen gibt es auch ehrenamtliche HelferInnen, die die Arbeit unterstützen. In zwei der untersuchten Anstalten finanziert die katholische Kirche zusätzlich noch jeweils eine halbe PastoralreferentInnen-Stelle.

In den drei anderen Anstalten ist die Gefängnisseelsorge weniger etabliert. Auch wenn sich die GefängnisseelsorgerInnen mitunter ebenfalls als AnstaltsseelsorgerInnen wahrnehmen, werden sie von der restlichen Belegschaft durchweg als GefangenenseelsorgerInnen verstanden. In den Regionen ist Kirche vor Ort wenig präsent. Das gilt neben den zwei Anstalten in den neuen Bundesländern auch für eine Anstalt in den alten Bundesländern. Die Gefängnisseelsorge ist innerhalb und außerhalb der Anstalten kaum vernetzt und die Arbeit wird von der Belegschaft weniger gewertschätzt. Es finden keine regelmäßigen Gottesdienste statt. Auch Angebote außerhalb der Einzelseelsorge und explizit religiöse Veranstaltungen finden kaum bis gar nicht statt. Das Argument der schlechten Stellenausstattung kann hier allerdings nur bedingt angeführt werden, da in zwei Anstalten die evangelische Gefängnisseelsorge mit je einem Pfarrer zu 100 % sowie das katholische Pendant in einer Anstalt mit zwei halben Stellen vertreten ist, und in einer anderen Anstalt sogar zu 100 %. Nur in einer der Anstalten ist der katholische Gefängnisseelsorger ausschließlich ehrenamtlich tätig und der evangelische Gefängnisseelsorger zu 50 Prozent nebenamtlich beschäftigt.

Die Gefängnisseelsorge ist traditionell eine spezifisch christliche Form der Begleitung, die es in diesem Professionalisierungs- und Institutionalisierungsgrad in anderen religiösen Traditionen in Deutschland nicht gibt. Historisch ist die Gefängnisseelsorge in der Strafvollzugsgeschichte und der europäischen Religionsgeschichte verhaftet. Die Institutionalisierung von Gefängnis-Seelsorge ging mit ihrer rechtlichen Legitimierung durch den Artikel 141 der Weimarer Reichsverfassung einher. So ist der rechtliche Rahmen für die Gefängnisseelsorge durch das Grundgesetz, dem Strafvollzugsgesetz des Bundes beziehungsweise den Strafvollzugsgesetzen der Länder sowie den Staatskirchenverträgen gegeben. Diese rechtliche Entwicklung korrespondierte mit der innertheologischen Professionalisierung der Seelsorge. Die Gründung der Praktischen Theologie durch Friedrich Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhundert und das Aufkommen von Sozialwissenschaften und Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhundert, beeinflusste die theologische Ausbildung im Umgang mit dem Menschen in seinen unterschiedlichsten Lebenslagen und wurde zunehmend interdisziplinär und praktisch ausgerichtet.

Rechtfertigungs- und Legimitationsdruck

Seelsorge übermittelt nach diesem Verständnis die theologische Botschaft nicht offensiv durch Predigten, sondern implizit durch Handeln im christlichen Geist (Buser 2007). Während in Zeiten der Institutionalisierung und Professionalisierung von einem volkskirchlichen Kontext auszugehen war (Friedrich 2006), nimmt die kirchliche Bindung im 20. und 21. Jahrhundert sukzessive ab und es finden sich zunehmend viele unterschiedliche Formen von Religiosität und religiöser Vergemeinschaftung, bis hin zu vielfältigen areligiösen individuellen Einstellungen und Formen der Vergemeinschaftung. Diese Prozesse führen zu innerkirchlichen Herausforderungen, aus denen Umstrukturierungsmaßnahmen folgen und Reformbedarf angemeldet wird. Von außen erhöht sich zudem der Rechtfertigungsdruck, wodurch auch die historisch bedingte Sonderstellung der Kirchen vermehrt angefragt wird.

Die innerkirchlichen Probleme machen sich in Bezug auf die Seelsorge vor allem bei der Zusammenlegung von Kirchgemeinden bemerkbar, aber auch bei der Frage, wer überhaupt Gefängnisseelsorge ausüben darf. Den Seelsorgeauftrag in der katholischen Kirche dürfen sowohl Laien als auch Ordensleute, haupt-, neben- und ehrenamtlich erfüllen. Die Befähigung wird durch die Taufe und Firmung gegeben. Die Sakramente können jedoch nur durch einen geweihten Priester vollzogen werden. Angesichts dessen, das es immer weniger Priester in Ausbildung gibt, steigt der Druck andere Modelle von Gefängnisseelsorge zu entwickeln. Dies wird schon allein dadurch sichtbar, dass es kaum noch Priester als katholische Gefängnisseelsorger gibt, sondern immer mehr PastoralreferentInnen und DiplomtheologInnen. Priester im Ruhestand kommen dann bei solchen Konstellationen sporadisch in die Anstalt, um überhaupt die Möglichkeit der Sakramente anzubieten.

Während die innerkirchlichen Probleme eine bundeseinheitliche Thematik darstellen, macht sich der äußere Legitimationsdruck vor allem in den neuen Bundesländern bemerkbar. Denn die unterschiedliche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ist bis heute wahrnehmbar. Die Religionssoziologin Irene Becci untersuchte die Gefängnisseelsorge in den neuen Bundesländern und analysierte diese vor dem Hintergrund kultureller, theologischer und sozialer Spannungen (Becci und Willems 2006). Sie schreibt, dass sich seit der Wiedervereinigung 1989/90 die Rahmenbedingungen für kirchliches Handeln in den neuen Bundesländern radikal geändert haben, da die staatskirchlichen Regelungen von den alten Bundesländern übernommen wurden, obwohl diese von einer volkskirchlich geprägten Gesellschaft ausgingen. Das führt nach Becci automatisch zu Spannungen, da sich „[…] zwischen 1945 und 1990 […] soziale Bedingungen und kulturelle Muster etabliert [haben], die weiterhin die ostdeutsche Wirklichkeit prägen“ (Becci 2012, 90). Den GefängnisseelsorgerInnen stehen so überwiegend Personen im Vollzug gegenüber, die entweder kaum religiös sozialisiert sind oder eine kritische Einstellung gegenüber Kirche haben.

Gespräch mit einem Inhaftierten im Seelsorgebüro der Justizvollzugsanstalt Essen.

Säkularisierte Form von Seelsorge?

Die eigene Untersuchung bestätigt diesen Eindruck bis zu einem gewissen Grad, macht aber deutlich, dass auch in Anstalten der alten Bundesländer mitunter kritische und belächelnde Haltungen gegenüber der Gefängnisseelsorge zu finden sind. Dies hat dann auch damit zu tun, dass Kirche heute bei jüngeren Menschen eine geringere Rolle spielt als noch in den Generationen davor. Auch sind Stereotype von Gefängnisseelsorge verbreitet, die den Nutzen für die Anstalt verkennen lassen. Die Außenwahrnehmung von Gefängnisseelsorge wird vor allem durch ihre Stellung innerhalb der Anstalt geprägt. Diese hängt neben dem Selbstverständnis der jeweiligen SeelsorgerInnen auch von den strukturellen Bedingungen der Anstalt und von der Zusammenarbeit mit den Fachdiensten ab.

Generell sind nach § 154 StVollzG „alle im Vollzug Tätigen“ zur Zusammenarbeit angehalten. Zwischen Gefängnisseelsorge und psychologischem Dienst zeigen sich aber beispielsweise weniger Bezüge als zum sozialen Dienst. Dies hat neben der historischen Entwicklung der drei Berufsbilder, vor allem etwas mit den Aufgabenfeldern zu tun, die in den Anstalten unterschiedlich verteilt sind. Das heutige Berufsbild der Gefängnisseelsorge wurde maßgeblich durch die Herausbildung von sozialwissenschaftlichen und psychologischen Disziplinen beeinflusst (Buser 2007).

Während die Gefängnisseelsorge früher gewissermaßen der einzige Fachdienst war, übernehmen heute SozialarbeiterInnen und PsychologInnen einen Großteil der Aufgaben. Da aber der psychologische Dienst heute zu einem großen Teil mit Diagnostik betraut ist (ebd.), sind die Schnittmengen zum sozialen Dienst größer, vor allem weil es hier aufgrund von Stelleneinsparungen und der Zunahme von Verwaltungstätigkeiten im sozialen Bereich zu Aufgabenverschiebungen kom-mt. So übernehmen die GefängnisseelsorgerInnen in manchen Anstalten die Organisation des gesamten Freizeitbereichs und der ehrenamtlichen Arbeit. In anderen Anstalten sind sie alleinig für die Ausgänge zuständig. Das ist aber nur durch eine entsprechende Stellenstruktur in der Seelsorge machbar. In solchen Anstalten wird die Stellung der Gefängnisseelsorge und die damit verbundenen Freiheiten als positiv empfunden. Sie werden aber gleichwohl weniger als SeelsorgerInnen verstanden, sondern eher als SozialarbeiterInnen, die einfach mehr Freiheiten in der Ausübung ihrer Arbeit haben, z. B. durch weniger Verwaltungsarbeit und fehlende Reglementierung der Arbeitszeit. Gefängnisseelsorge wird so zu einer säkularisierten Form von Seelsorge, da sowohl der religiöse Bezug als auch der religiöse Inhalt von außen nicht mehr wahrgenommen werden.

Ausblick

Es ist also grundsätzlich zu fragen, wie sich Gefängnisseelsorge in einer religionspluralen Gesellschaft selbst versteht und auch verstanden werden möchte. Soll sie etabliert und gut integriert sein, mit der Gefahr als säkulare Gefängnisseelsorge nicht mehr als religiös wahrgenommen zu werden? Oder soll sie sich mehr von anderen Aufgabenfeldern in den Anstalten abgrenzen und sich auf die unmittelbar religionsbezogene Arbeit konzentrieren, um als religiös wahrgenommen zu werden, hier aber mit der Gefahr weniger etabliert und integriert zu sein?

AndersOrt 2018 II

 

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