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Alle Brüder – keine Geschwister? Enzyklika

2. Oktober 2020

„Fratelli e sorelle“ zum Ersten: Nach „Laudato Si’“ im Jahr 2015 gibt es eine nächste Enzyklika von Papst Franziskus. Am symbolträchtigen Vortag des Franziskusfestes unterzeichnet der Papst in Assisi seine dritte Enzyklika „Fratelli tutti“. Ausgerechnet er, dessen erste Worte nach der Wahl zum Papst „fratelli e sorelle, buonasera“ lauteten, wendet sich jetzt nur an „Alle Brüder“? Der Titel sorgt bereits mächtig für Wirbel – zumindest bei denen, die noch kirchlich engagiert sind. Im Knast ist mit „Brudder“ eine Verbrüderung gemeint, die kritisch zu betrachten ist.

Was ist denn eine „Enzyklika?“, mögen manche Menschen fragen. Enzykliken gelten als die wichtigsten Lehrschreiben von Päpsten, ihre Bedeutung reicht oft über das Pontifikat des jeweiligen Papstes hinaus. In Enzykliken nehmen Päpste zu grundlegenden theologischen und gesellschaftlichen Fragen in verbindlicher Weise Stellung. Allerdings gelten die Dokumente nicht als „unfehlbar“. Die erste Enzyklika eines Papstes ist für manche wie eine „Regierungserklärung“, an der das Programm des neuen Pontifikats abzulesen sei. Päpstliche Enzykliken werden mit dem so genannten Incipit zitiert, den ersten zwei oder drei Anfangsworten des ersten Satzes. In den meisten Fällen sind diese lateinisch, es gibt aber eine Ausnahme: die Enzyklika „Mit brennender Sorge“. Diese wurde von Papst Pius XI. angesichts der Situation im Deutschen Reich am 14. März 1937 in deutscher Sprache herausgegeben und richtete sich gegen die nationalsozialistische Ideologie.

Wen interessiert das Schreiben?

Die dritte Franziskus-Enzyklika richtet sich an „Alle Brüder“. Prompt schreibt in einem offenen Brief an Franziskus das Catholic Women’s Council, es wäre einfach, beide Geschlechter im Titel einzubeziehen und würde jeglichem Missverständnis der von Papst Franziskus gemeinten Adressaten vorbeugen. Die Vatikanjournalistin Gudrun Sailer bringt es mit einem klugen Kommentar auf den Punkt: „Papst Franziskus wäre kein Zacken aus der Krone gefallen, hätte er zum Einstieg in seine Enzyklika ein anderes Zitat, eine andere Wortfolge gewählt, eine, die Schwestern (und mitfühlende Brüder) nicht mit unnützen Fragezeichen zurücklässt.“ Um dann das Fazit zu ziehen, es dürfe nun nicht passieren, „dass ´fratelli tutti´ wegen seines Titels aus Trotz nicht gelesen wird.“

Ist nur die Frage, wen solch eine Enzyklika noch interessiert? Der Orden der Franziskaner gibt sich gelassen: „Das ´omnes fratres´ oder ´fratelli tutti´ der Enzyklika ist als Zitat des heiligen Franziskus so zu übersetzen, dass sich Männer und Frauen insgesamt angesprochen fühlen“, so der Schweizer Kapuziner Bruder Niklaus Kuster, der ein ausgewiesener Franziskusforscher ist. Er lehrt an der Universität Luzern Kirchengeschichte sowie an den Ordenshochschulen von Münster und Madrid franziskanische Spiritualität.

Kritische Würdigung der Enzyklika

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, stellte die Enzyklika bei einer Pressekonferenz in Limburg vor und würdigte sie als einen „eindringlichen Appell für weltweite Solidarität und internationale Zusammenarbeit.“ Papst Franziskus wende sich insbesondere gegen nationale Abschottung und rege an, über eine „Ethik der internationalen Beziehungen“ nachzudenken. Geschwisterlichkeit sei für Papst Franziskus eine „Liebe, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt“ und weit entfernte Menschen genauso achte wie Menschen in unmittelbarer Nähe. Es gehe im Kern um die Würde des Menschen, die sich aus der Gottesebenbildlichkeit heraus begründe. „Die Enzyklika ist ein Weck-, Mahn- und Hoffnungsruf: Ein Weckruf, dass wir zueinander finden. Ein Mahnruf, dass wir den Nächsten nicht vergessen. Ein Hoffnungsruf, der uns auffordert, Mauern niederzureißen und Zusammenhalt zu stärken“, sagte Bischof Bätzing.

Franziskus setzt der Gesellschaft ein Menschenbild entgegen, das davon ausgeht, dass der Mensch am Fremden und am Andern wächst. Jeder Mensch, aus welcher Nation und aus welcher Gesellschaftsschicht er auch kommen mag, hat seine Würde. Jeder Mensch wächst in der Auseinandersetzung, im Dialog, in der Begegnung mit dem Fremden, dem Andern. Solidarität und Geschwisterlichkeit sind nicht Optionen, sondern Grundbestandteil der je eigenen Person. Aber was ist mit den eigenen engen Mauern und die festgefahrenen Strukturen der Katholischen Kirche? Bei aller Würdigung von „Alle Brüder“: Wenn man die vorliegende Kritik und die harte Analyse auf die Kirche selbst anwendet, dann hätten wir weniger Klerikalismus, die Zölibatsfrage würde offen gehandhabt, Missbrauch vorgebeugt, Frauen hätten Zugang zu Ämtern. Die geschilderten so guten Argumente wären ehrlicher für das eigene Haus. Bei anderen sieht man die Problematik besser als bei sich selbst, könnte man meinen. Wenn die Bischöfe, Nuntien und Kardinäle, Priester und „Laien“ von anderen lernen (wollen), dann gehen sie die Gefahr ein, sich und ihr angeblich „gottgewolltes“ Amtsverständnis zu verändern. Ein echter Dialog zu strittigen Struktur-Themen in der Katholischen Kirche wird nicht geführt. Der „Synodale Weg“ in Deutschland ist nur ein zaghafter Versuch, der weltkirchlich nichts verändern wird.

Keine parallel verlaufenden Monologe?

Die Vielfalt der welt- und friedenspolitischen Themen, die der Papst in der Enzyklika nennt, macht deutlich, wie wichtig der Dialog zwischen den Nationen, Gesellschaften und vor allem den Religionen sei. Eine „Kultur der Begegnung“ und zu echten Dialogen, weg von den „parallel verlaufenden Monologen“, die häufig ablaufen. Chancengerechtigkeit, soziale Inklusion und Teilhabegerechtigkeit sind die Schlagworte. Zur innerkirchlichen Situation der Katholischen Kirche wird zu diesen Schlagworten kein Wort verloren. Für Papst Franziskus haben „die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte […] wie die  Männer“ (FT 23) und er nennt es „inakzeptabel (…), dass eine Person weniger Rechte hat, weil sie eine Frau ist“ (FT 121). Gilt dies nicht für die Katholische Kirche und deren Ämter? Wo sind die „Laien“, Frauen und Andersdenkenden auf Augenhöhe? Die Kurie führt Monologe ohne sich selbst kritisch zu betrachten.

Fratelli tutti sei kein innerkatholisches, exklusives Lehrschreiben, sondern die Überlegungen sind, wie in der Sozialverkündigung seit Pacem in terris (1963) üblich, offen „für den Dialog  mit allen Menschen guten Willens“ (FT 6). Insbesondere hat sie eine starke interreligiöse Ausrichtung mit Blick auf den Islam und knüpft an Papst Franziskus Treffen mit Großimam Ahmad al-Tayyeb von der ägyptischen al-Azhar-Universität in Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) im Februar 2019 an. Der Papst thematisiert als „falsche Antworten“ zur Lösung von Problemen den Krieg und die Todesstrafe (FT 255). „Die lebenslange Freiheitsstrafe ist eine versteckte Todesstrafe“ , sagt das Oberhaupt. Dem kann man nur zustimmen. Der Einwand wird kommen, wie die Katholische Kirche mit ihrer Doppelmoral umgeht? KritikerInnen in den eigenen Reihen werden manches Mal mundtot gemacht oder trauen sich nicht, zu dem zu stehen, was sie leben. Priester werden „bestraft“, weil sie nicht zölibatär leben können. Unrecht geschieht oft innerhalb der kirchlichen Strukturen.

Innerkirchlich keine Umsetzung

Im Knast verbrüdern sich manche Inhaftierte scheinbar untereinander. „Ey, wir sind doch Brudder“, hört man. Aber das ist nicht immer positiv gemeint. Man deckt so manche subkulturelle Aktivitäten untereinander. Illegale Dinge mitzutragen und zu verdecken und mit angeblicher Verbrüderung zu legitimieren, sind Scheinabsicherungen. Franziskus nennt solche „Verbrüderungen“ national wie international beim Namen. Anfangs seines Pontifikates tat er dies auch in seinem eigenen Laden. Als Idealbild einer Gesellschaft verwendet Papst Franziskus wiederholt das Bild des Polyeders. Ein solches Vieleck hat viele Seiten, die aber zusammen eine Einheit bilden. In dieser Gesellschaft sollten „die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen.“ Doch leider werden seine klaren Worte und seine harte Analyse innerkirchlich nicht angewandt. Es gebe eine neuen Wertschätzung für viele Menschen, die in der Corona-Pandemie Engagement bewiesen hätten, würdigt der Papst. Und: „Man soll die Hoffnung nicht verlieren.“ Das ist echt „Brudder“ – wahrlich geschwisterlich. Doch mit den bestehenden Strukturen will ich mich nicht verbrüdern und zufrieden geben.

Michael King

 

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