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Draußen vor der Tür ist ihr Schlafzimmer

27. Oktober 2019

Ein augenscheinlich ohne Obdach ziehender Mann in Köln auf dem „Alten Markt“. Mit Sack und Pack zieht er durch die Straßen und telefoniert dabei. Vor dem Restaurant wurde er schnell verjagt.

Petrus Ceelen führt uns an den Rand der Gesellschaft, erzählt von Drogenabhängigen und Obdachlosen, die den Tod vor dem Tod sterben. Es geht um ein vertieftes Verständnis von Sterben. Der Tod ist mehr als der Exitus. Ausgeschlossen aus der geschlossenen Gesellschaft, verstoßen von der eigenen Familie. Der soziale Tod ist oft schmerzlicher als das Sterben selbst.

Würde ist ein Konjunktiv, eine Möglichkeit. In Wirklichkeit wird die menschliche Würde oft mit Füßen getreten.Würde-los, wie der letzte Dreck fühlen sich Fixer und arme Schlucker oft von der Polizei behandelt. Immer wieder werden sie kontrolliert und mit Platzverweisen belegt. Nachts liegen Obdachlose auf einer Baustelle, in einem Hinterhof, auf irgendeiner Bank. Oder sie machen „Platte“ in Parkanlagen, unter Brücken, auf Abluftschächten, in Kellern, Kirchenportalen, Hauseingängen. „Draußen vor der Tür“ ist ihr Schlafzimmer. Die Straße ist ein hartes Pflaster.Ein Auto müsste man sein, sagt mir Edgar beim Obdachlosenfrühstück. Dann musste ich nachts nicht neben der Tiefgarage liegen und frieren. Eiserner Vorhang, hermetisch abgeschlossen. Der Mensch muss draußen bleiben.Eiskalt. Eisige Blicke, kalte Schulter. Eiszeit.

Die soziale Kälte nimmt zu, während die Erde immer wärmer wird.Menschen beginnen zu sterben, wenn sie nicht mehr angesehen werden. Wie oft habe ich von Wohnsitzlosen gehört. „Uns sieht man am liebsten von hinten.“ Die armen Schlucker werden nicht gesehen, nicht beachtet, ihre Not nicht bemerkt. Viele sterben nicht nur den Tod vor dem Tod, sondern oft auch noch den Tod nach dem Tod. Wenn Obdachlose vom Tod eines Kumpels erfahren, ist immer das erste, was sie fragen: „Aber er wird doch nicht anonym bestattet?“ Denn das ist für sie das Schlimmste: Ausgrenzung über den Tod hinaus. Wenigstens im Tod möchte man dazugehören. Wenigstens am Ende ihres Weges möchten sie die Wertschätzung und Würde erfahren, die sie im Leben entbehren mussten. Tatsächlich werden die armen Schlucker meistens sang- und klanglos beigesetzt. Namenlos. Würdelos. Während für Hunde, Katzen, Wellensittiche die Kerzen auf dem Tierfriedhof weiter brennen…

Michael hatte lange in der Gosse gelebt. Als ich ihn ins Hospiz brachte, sagte er zum Pfleger: „Wenn ich verreckt bin, haut mich in die Mülltonne oder schmeißt mich auf den Misthaufen.“ Was für ein geringes Selbstwertgefühl muss ein Mensch haben, der einen solchen Wunsch äußert! „Wenn ich verreckt bin, haut mich in die Mülltonne oder schmeißt mich auf den Misthaufen.“ Durch das „Pennerleben“ hatte Michael jegliche Selbstachtung verloren. Menschen, die in den Augen anderer nichts mehr wert sind, verlieren jeden Respekt vor sich selbst. Im Hospiz bekam Michael wieder das Gefühl ein Mensch zu sein. Da bekam er seine Menschen-Würde zurück.Männer und Frauen, die auf der Straße gelebt haben, erleben im Hospiz die schützende Herberge.

Der sichere Ort für die letzte Strecke tut Männern und Frauen gut, die lange „draußen“ unterwegs waren – mit wundgelaufenen Füßen und offenen Beinen. In Löchern und in den letzten Absteigen haben sie gehaust, waren in Männerheimen, Frauenhäusern, Notunterkünften und Wohncontainer untergebracht. Und nun haben sie ein eigenes Zimmer, ein warmes Bett! Für uns ist drei Mal am Tag zu Essen nur normal, aber viele kennen diesen „Luxus“ nicht. Wie viele haben draußen von der Hand in den Mund gelebt und versucht, sich mit Betteln über Wasser zu halten? Drei Mahlzeiten – wir wissen nicht, was das bedeutet für Menschen, die draußen Mülleimer nach Essensresten durchsucht haben. Es ist wie Tag und Nacht, ob ein Mensch im Hospiz ‚gepflegt’ sein Leben beendet oder er irgendwo draußen elendig verendet.

Jürgen war 42 Jahre mit seinem Ruck- und Schlafsack unterwegs, immer weiter, so weit die Füße tragen. Bis sein Engel „Ute“ ihn ins Hospiz brachte. Dort fragte man ihn, ob er einen Wunsch hätte. „Wie bitte? Ob ich einen Wunsch habe? Das hat man mich noch nirgends gefragt. Ja, eine Zigarette rauchen dürfen, das wäre schön!“ Die Schwester hat Jürgen selbst gefragt, ob er ein Glas Rotwein wolle. Jürgen hat auch seinen Augen nicht getraut, als er in seinem Zimmer einen Fernseher sah. „Ist der echt? Kann man den einschalten?“ Echt wahr, Jürgen hat die letzten Tage seines Lebens genossen, obwohl er sterbenskrank war. Und am allerletzten Abend saß Ute lange an seinem Bett. Es wurde nicht viel geredet, nur hat Jürgen sich noch einmal von ganzem Herzen bei Ute bedankt, „für deine Besuche im Krankenhaus, die Pakete zu Weihnachten und die vielen „milden Gaben“. Aber das größte Geschenk hast du mir gemacht, dass ich das hier noch erleben darf. Ein Stückchen Himmel auf Erden.“ Ganz zufrieden, in tiefem Frieden ist Jürgen von dieser Welt gegangen.

Zu den Engeln. Meine lieben Mitmenschen. Das größte Geschenk, das wir einem Menschen machen können, ist, dass er in Frieden von dieser Welt gehen kann. Ihm dazu verhelfen, dass er seinen Frieden findet, mit sich selber, den anderen und mit seinem Herrgott. Der “lebenslängliche“ Enzo, 52 Jahre, hatte Lungenkrebs im Endstadium. Er möchte noch einmal seine drei Kinder sehen, aber er hat Angst, dass sie ihm diesen letzten Wunsch ausschlagen. Schließlich hat er vor 18 Jahren ihre Mutter umgebracht. Die Kinder kamen damals ins Heim. Seitdem haben sie keinerlei Kontakt mehr miteinander gehabt. Die Kinder fahren die ganze Nacht mit einem alten VW von Hamburg zum Gefängniskrankenhaus auf dem Hohenasperg. Beim Wiedersehen in der Zelle wird kaum geredet, fast nur geheult. Aber ohne Worte ist ganz viel geschehen. Und nach ihrem Besuch strahlt Enzo und sagt immer wieder: “Meine Kinder waren bei mir.”

Angelika kann nicht vergessen, was ihr Vater ihr angetan hat. Kindesmissbrauch – was sagt dieses Wort von dem unsäglichen Leid, das sie Jahrelang durch ihren Vater durchlitten hat. Anschließend brauchte sie Drogen, um die Schmerzen in ihrer Seele zu betäuben. Als sie nun hört, dass ihr Vater im Gefängnis unheilbar an Magenkrebs erkrankt ist, geht sie zu ihm hin. Als sie ihm die Hand gibt, lässt er sie nicht mehr los. Am Ende des Besuchs sagt er: Danke. Nach dem Tod ihres Vaters sagt Angelika: „Ich bin froh, dass ich noch bei ihm war. Ich kann es zwar nicht vergessen, aber ich möchte meinem Vater verzeihen.“

Menschen am Rande – sagen wir in der Mitte. Auf den Blickwinkel kommt es an. Im Krankenbett sehen wir mehr als in der Liegematte. Im Rollstuhl mehr als auf dem Fahrersitz. Von unten sehen wir mehr als von oben. Der Bettler unten am Boden sieht, was wir leicht übersehen. Wir betteln nicht um Geld, sondern um Anerkennung, um Ansehen. Wir sind nicht drogenabhängig, aber wir sind süchtig nach mehr, immer mehr ICH. Wir sitzen nicht im Gefängnis, aber unser Unvermögen hält uns gefangen. Wir können nicht aus unserer Haut. Wir sind nicht obdachlos, aber eines Tages sind wir das Dach über uns los.

Auch wir sind nur auf der Durchreise, und eigentlich oft ohne festen Wohnsitz. Die Menschen von der Straße brauchen auch einen ambulanten Hospizdienst. Ein niederschwelliges Angebot – wie etwa die Kirchenbank mitten in der Großstadt Dortmund. Eine Sitzbank. Alle, die sich hinsetzen, suchen durch die Bank ein offenes Ohr, ein hörendes Herz, ein gutes Wort von Mensch zu Mensch. Zuwendung. Zuneigung. Eine sanfte Berührung, ein stilles Streicheln, eine tröstende Schulter, eine innige Umarmung. Medizin für die Seele. Der umhüllende Mantel, das Pallium. Palliativ care auf offener Straße. Eine Oase in der Steinwüste.

Kümmern wir uns als Sterbebegleiter auch um die Menschen, die der Tod begleitet. Lebende Tote. Tote Lebende. Gehen wir nicht nur zu den Gut-Bürgerlichen, sondern gehen wir auch an die Hecken und Zäunen. Sterben von der anderen Seite her sehen, mit den Augen der anderen sehen, mit den Ohren der anderen hören, mit dem Herz der anderen fühlen, das ist die Kunst der Empathie. Einfühlendes Verständnis, das ist es, was jeder Mensch so sehr braucht – im Leben und im Sterben.

Petrus Ceelen | Hospiztag Schleswig-Holstein

 

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